Freitag, 19. April 2024

Archiv


Ein Biographie-Mosaik

Drei Bücher hat Dieter Wellershoff in den letzten sieben Jahren veröffentlicht: zuerst seinen überaus erfolgreichen Roman "Der Liebeswunsch". Es folgten der Essay "Der verstörte Eros" und der Erzählband "Das normale Leben". Dieter Wellershoff hat aber mehr geschrieben als das - Stoff genug für ein weiteres Buch, das nun erschienen ist: "Der lange Weg zum Anfang" versammelt Interviews, Kurztexte, Biographisches und Reden zu Preisverleihungen.

Von Jörg-Christian Schillmöller | 23.04.2007
    " Man fragt sich ja immer, wenn man merkt, dass man älter wird: Ist die Lebenskompetenz, die vitale Kompetenz da, noch ein weiteres Buch zu schreiben. Und wenn einem das gelingt, dann hat man eine Schlacht gewonnen, würde ich sagen - gegen den natürlichen Fortlauf der Dinge."

    Ein Frühlingsnachmittag in der Kölner Südstadt, bei Dieter Wellershoff im Wohnzimmer. Durch die Vorhänge vor den hohen Fensterscheiben fällt warmes Sonnenlicht, draußen rumort leise die Mainzer Straße. Dieter Wellershoff macht sich einen Espresso und erzählt von seinem neuen Buch, einer Sammlung von Texten aus den vergangenen Jahren. Das seien "Nebenarbeiten" oder "Gelegenheitstexte", sagt er bescheiden. Diese Nebenarbeiten zielen indes auf das Herzstück seines Schaffens: Auf die Begegnung von Leben und Literatur, auf das Schreiben und das Nachdenken darüber. Der Autor selbst nennt das Platzbehauptung.

    "Es ist vielleicht auch ein Teil meiner Selbstbegründung, die ich brauche, um diese Arbeit zu tun, und ich denke, dass darin zu Wort kommt, was mir wichtig am Schreiben ist, nämlich dass es ein existenzieller Prozess ist, meine Auseinandersetzung mit dem Leben und mir selbst - und nicht irgendein Job, den ich einfach ausübe. Für mich das lebenslang ein Erkenntnisprozess gewesen, das Schreiben."
    Gut 300 Seiten umfasst der "Lange Weg zum Anfang". Das Buch ist nichts weniger als ein Porträt von Dieter Wellershoff, allerdings nicht aus einem Guss. Die einzelnen Teile sind mehr oder weniger miteinander verbunden, durch Leitmotive, durch wiederkehrende Gedanken. Es ist ein Biographie-Mosaik aus gut 20 Texten, und die muss man keinesfalls der Reihe nach lesen, damit ein Gesamtbild entsteht. Eines aber sticht fort ins Auge: Dieter Wellershoff, der dem Literaturbetrieb eher skeptisch gegenübersteht, hat auch vier Preisreden in das Buch hinein genommen - zum Hölderlinpreis etwa, oder zum Ernst-Robert-Curtius-Preis für Essayistik. Diese Auszeichnungen sind eine Bestätigung meiner Existenz, räumt er ein. Aber deswegen macht er es den Zuhörern mit seiner Rede bei der Verleihung nicht leicht.

    "Meine Interpretation Hölderlins ist als richtig anstößig empfunden worden, also dass man so kritisch nicht mit einer solchen Ikone umgehen darf." "Haben Sie jemals einen Preis abgelehnt?" "Nein, ich hatte nie die Gelegenheit dazu, es war kein beschämender Preis dabei. Aber ich habe etwas anderes gemacht: Mir ist angeboten, einen Literaturpreis nach meinem Namen zu benennen, und das habe ich abgelehnt. Das passt nicht zu mir, das soll man mit Toten machen, die verbreiten eine gewisse Neutralität um sich." "Hat man Ihnen das übel genommen?" "Auf die Antwort warte ich noch" (lacht)"

    Eine halbe Stunde schon dauert das Gespräch, da kommt - fast lautlos - seine Frau um die Ecke. Sie nickt uns kurz zu, werkelt einige Minuten leise in der benachbarten Küche und verschwindet wieder. Maria Wellershoff, geborene von Thadden. Viele Jahre lang, in der Zeit vor den Computern, hat sie die Manuskripte für ihren Mann abgetippt, oft mehrmals, wegen der Nachträge und Korrekturen. Immer wieder nahm er seine Frau auch mit zu wichtigen Gesprächen, zum Beispiel zu Wolf Biermann nach Ostberlin, um dem DDR-Besuch einen privateren Anstrich zu verleihen. Maria Wellershoff hat jetzt auch ein Buch geschrieben, über ihre Jugend. Schon bald soll es erscheinen.

    ""Meine Frau kommt aus einem ganz anderen Milieu als ich, sie kommt aus ost-elbischem Adelsmilieu protestantischer Prägung, und da gibt es immer noch ganz verschiedene Ansichten zwischen uns, in Bezug auf Religion und Moral, da gibt es Gegensätze. Aber in der Familie hat auch Literatur eine Rolle gespielt. Insofern glaube ich, sie findet diese Partnerschaft interessant. 55 Jahre sind wir jetzt zusammen, das ist schon eine lange Zeit. Aber das ist wichtig für einen Schriftsteller - so wie ich schreibe, kann mich nicht ohne Lebenserfahrung schreiben."

    Rein zufällig habe ich den Krieg überlebt, sagt Wellershoff gerne. Der Satz steht auch in seinem neuen Buch: "Eine Familie in Krieg und Nachkrieg" hat er einen der Texte genannt, gemeint ist seine Familie. Die Erfahrung des totalen Zusammenbruchs, so schreibt er, war das anschauliche Ende meiner bisherigen Welt und wurde die Voraussetzung meines neuen Lebens.

    "Von meinem Jahrgang sind 40 Prozent gefallen, von meiner Kompanie wesentlich mehr, das war ganz schlimm. Und dieses Gefühl hat mich nicht verlassen, dass ich ein riesiges Geschenk bekommen habe, das ich einfach das Leben oder 'Am-Leben-Sein' genannt habe. Und daraus wollte ich unbedingt was machen."

    Der Krieg war für Dieter Wellershoff immer auch ein Abenteuer: Ein Trauma hat er jedenfalls nicht davongetragen.

    "Eigentlich die ganzen Jahre im Krieg habe ich mir immer gesagt: Schau Dir das an, Du bist in einem Krieg. Was sich hier abspielt, ist ein Krieg. Da kann alles passieren. Es war immer auch ein Schauspiel für mich."

    Fast verschmitzt erzählt Wellershoff auch davon, wie er als junger Mann bei Bombenangriffen absichtlich hinausging, um die Flugzeuge sehen zu können. Besonders im Gedächtnis geblieben ist ihm ein Schulfreund: Der sagte einmal: Hoffentlich dauert der Krieg so lange, dass wir auch Soldaten werden. Das war 1940.

    "Und den habe ich später getroffen, gleich nach dem Krieg. Als ich aus der Gefangenschaft kam, war er auch schon da mit einem Kopfschuss, durch den Helm hindurch, kurz vor Kriegsende. Und ich habe ihn gefragt, hast Du irgendwas gedacht, als Du getroffen wurdest? Und er meinte, er habe gedacht 'Ach, so ist das!'. Und das ist für mich das Kennwort unserer Generation geworden."

    Die Begegnung mit dem Freund ist als poetische Miniatur von weniger als 40 Zeilen im Buch enthalten. Unter der Überschrift "Die letzte Frage" versucht Wellershoff den Moment zu erfassen, als seinen Freund der Kopfschuss traf.

    Sein Helm dröhnte, und er wurde hintenüber gerissen. Ach so ist das! dachte er. Ach so ist das. Es war ihm eine Frage beantwortet worden, an die er sich blitzartig erinnerte, die Frage, wie das Sterben sei. So, dachte er, so! Er hatte es nicht gewusst, nicht vorausgesehen. Es kam als ein Schlag von weit her, unerwartet in diesem Augenblick und mit unvorstellbarer Wucht. Er hatte das unausdenkliche Faktum immer erwartet, hatte sich darauf vorzubereiten versucht . Aber das war gar nicht nötig gewesen. Es war ja schon geschehen, und nun wusste er es. So ist das! So einfach.

    Das ist Dieter Wellershoff, das ist das bemerkenswerte an dieser Szene: dass sie eine Grenzerfahrung ins Visier nimmt, eine lebensbedrohliche Situation. Mögen seine theoretischen Texte mitunter auch etwas überfrachtet sein - in Szenen wie dieser wird dagegen sein Kapital deutlich: seine Offenheit, seine Unverblümtheit. Dieser Schriftsteller kennt keine Berührungsängste, keine falschen Höflichkeiten. Sein neues Buch porträtiert einen Menschen, der immer zu seiner besonderen Art zu schreiben und zu denken gestanden hat. Der deswegen viele Angebote abgelehnt und finanzielle Engpässe in Kauf genommen hat. Ein Rheinländer, der irgendwann in Köln hängen geblieben ist. Geboren in Neuss, aufgewachsen in Grevenbroich, wohnt Dieter Wellershoff nun schon 30 Jahre in der Mainzer Straße in Köln - und auch der Stadt mit dem Dom hat er ein Kapitel gewidmet.

    "Köln ist mir erst allmählich vertraut geworden. In meiner Kindheit sind wir immer nur durchgefahren. Meine Eltern hatten eine engere Beziehung zu Düsseldorf, unsere Verwandten wohnten in Aachen und Bad Honnef. Als Kreisbaumeister hatte mein Vater ein Auto, und ich habe mich immer wecken lassen, wenn wir durch Köln kamen in der Nacht, weil ich - ein Junge aus einer Kleinstadt vom Niederrhein - mal eine Straßenbahn sehen wollte, eine beleuchtete Straßenbahn und die Leuchtreklame."

    Mit dem Kölschen an sich, mit dem besonderen Dialekt der Stadt, ist er dagegen nie warm geworden. Das kölsche Essen dagegen weiß er zu schätzen, weil es so schön deftig ist. Ich esse gern Blutwurst und dazu Apfelmus, sagt er. Und dann reden wir auch noch über den Tod. 81 Jahre ist Dieter Wellershoff heute. Die Zeit, meint er ganz sachlich, wird eben knapper.

    "Große Ängste habe ich nicht. Ich meine, ich weiß natürlich nicht, wie es sein wird, es kann ja sein, dass es ein ganz schreckliches Ende wird, mit Atemnot und Panik oder Schmerzen. Dafür plädiere ich dafür, dass man die Möglichkeiten für einen künstlichen, sanften Tod voll ausnutzt." "Haben Sie eine Patientenverfügung?" "Ja, ich habe mal sowas formuliert, aber es ist nicht von einem Rechtsanwalt bestätigt. Da muss man ja so eine dokumentarische Instanz haben, die das absichert. Dass will ich nochmal machen."

    Viel hat er zu erzählen, dieser Autor, viel hat er erlebt und geschrieben. Zum Abschied drückt er dem Besucher einen kurzen Text in die Hand, auf drei Seiten DIN A 4 ausgedruckt: "Der Zufall, ein ungebärdiger Gast", heißt der. Später beim Lesen stößt man dann auf Worte, die Dieter Wellershoff ebenso gut porträtieren wie es sein neues Buch tut.

    Es sind Geschichten einer allgemeinen Glücks- und Sinnsuche in einem Irrgarten aufleuchtender und wieder erlöschender Möglichkeiten unter der Regie des Zufalls. Alles scheint möglich, doch nur wenig lässt sich ändern. Man zieht die Karten aus verdecktem Stapel und muss versuchen, damit sein Spiel zu machen, bis die schwarze Hand kommt, die alles von der Platte wischt.

    Dieter Wellershoff: "Der lange Weg zum Anfang"
    Kiepenheuer&Witsch. 332 Seiten. 19,90 Euro.