Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Ein Briefroman, der keiner ist

Michail Schischkin beschreibt in seinem Roman "Briefsteller" die Lebensgeschichten zweier Liebender Anfang des 20. Jahrhunderts. Und obwohl der Geschichte die Briefe der Beiden zugrunde liegen, werden doch alle Regeln des klassischen Briefromans außer Kraft gesetzt.

Von Karla Hielscher | 07.02.2013
    Dieses wunderbare, seltsame, manchmal verstörende Buch ist nicht – wie vielfach behauptet – eine große erhebende Liebesgeschichte. Es ist auch kein klassischer Briefroman, obwohl der Text aus den wechselseitigen Ich-Erzählungen und Lebenserinnerungen zweier einander tief Liebender, der Ärztin Sascha und ihres in einem grausamen Krieg kämpfenden Geliebten Wolodja besteht. Denn hier sind alle Regeln des Briefromans außer Kraft gesetzt: die Briefe sind undatiert, ohne Orts- und Zeitangaben, oft ohne Anrede, sie stehen isoliert nebeneinander und nehmen nicht Bezug auf das im Vorbrief Geschriebene. Die ersten Briefe allerdings beschwören die Erinnerung an einen glückserfüllten Datschensommer und den Beginn ihrer Liebe in bezaubernden Szenen von tief gefühlter sinnlicher Intensität.

    "Und dann plötzlich diese Welle von Glückseligkeit am nächsten Morgen vor dem Waschbecken – beim Anblick unser beider Zahnbürsten im selben Becher. Da standen sie, die Stiele gekreuzt, und sahen einander an. Es sind die einfachsten Dinge, bei denen man sterben könnte vor Glück. Wieder zu Hause in der Stadt, Du warst im Bad, auf dem Klo, und ich – weißt Du noch? – ging vorbei auf dem Weg in die Küche, konnte auf einmal nicht an mich halten, ging vor der Tür in die Hocke und flüsterte durchs Schlüsselloch: "Ich liebe Dich!" Erst ganz leise, dann noch einmal lauter. Du aber verstandest mein Geflüster wohl falsch: "Ja doch, bin gleich fertig" brummtest Du. Dabei musste ich gar nicht aufs Klo, ich musste zu Dir!"

    Beim Weiterlesen jedoch reagiert man als Leser irritiert, denn obwohl Sascha schon sehr bald die Nachricht vom Tode Wolodjas erreicht, schreiben beide weiter, als sei nichts geschehen. Und dann beginnt man allmählich zu begreifen, dass in diesem Buch die Zeit aus den Fugen ist, ja, dass die beiden Liebenden in ganz unterschiedlichen Zeiträumen leben. In dem Roman werden die Lebensgeschichten von zwei Menschen entfaltet, die der Autor allein durch die Macht seines Wortes miteinander verbindet.

    Dafür sollte schon der Titel ein Signal sein: Er heißt ja nicht "Briefroman", sondern "Briefsteller", es handelt sich also um eine Sammlung von exemplarischen Textmustern, um die ewigen, immer wiederkehrenden existenziellen Grundsituationen von Liebe und Tod, die aber eben von jedem Individuum als die einzige, unwiederholbare, konkrete Wirklichkeit erlebt werden.

    Schrittweise schält sich heraus – nach Andeutungen auf die unterschiedlichsten Kriege seit der Antike – dass es sich bei den schrecklichen Kämpfen und unvorstellbaren Gräueln, über die Wolodja in seinen Briefen extrem realistisch, präzise und faktenreich berichtet, um die Niederschlagung des Boxeraufstands in China im Jahr 1900 handelt. Und dass Sascha dagegen ihr jahrzehntelanges, alltägliches und doch so berührendes Frauenschicksal irgendwo und irgendwann in der Mitte des 20. Jahrhunderts mit all seinen Verletzungen, aber auch Glücksmomenten erzählt: ihre Arbeit als Gynäkologin in der Klinik, ihre Schwangerschaft und Fehlgeburt, ihr Zusammenleben mit einem verheirateten Maler und dessen Kind Sonja, das nach einem Unfall im Wachkoma liegt und nicht sterben kann, die komplizierten Beziehungen zum heiß geliebten Vater und der schwierigen Mutter, die sie beide nacheinander beim Sterben begleitet.

    In den sich abwechselnden Ich-Erzählungen der beiden Protagonisten werden die Lebensgeschichten der beiden Menschen von ihrer Kindheit an entfaltet, voller realistischer Einzelszenen und Beobachtungen, mit allen Geräuschen, Gerüchen, feinen Gefühlsregungen sowie ihrem Nachdenken über die großen Geheimnisse und Rätsel des Lebens. Wie in diesem Bericht Wolodjas über seine Fahrt an die Front:

    "Ein Mann läuft den Zug der Länge nach ab mit einem langstieligen Hammer, den er gegen jedes Achslager schlägt. Er lauscht auf den besonderen Ton, den außer ihm und dem betreffenden Lager keiner weiter hört. (…) Und plötzlich geht mir ein Licht auf, die Sache ist ganz einfach: Dieser Haltepunkt, die Laterne, die Hammerschläge, das Zirpen der Grillen im Fenster der Telegrafenstation, der Geruch nach Rauch und heiß gelaufener Lok und jetzt dieser röchelnde, müde Lokomotivenruf – das bin alles ich. Ein anderes Ich gibt es nicht. Kommt auch nicht mehr (…) Alles geschieht einmalig und sofort. Und wenn unser Zug demnächst wieder anrückt, entschwindet dieser Haltepunkt und ich mit ihm."

    Auf ganz einzigartige Weise sind konkrete, sinnlich nachfühlbare Lebenssituationen, die Genauigkeit der Kampfbeschreibungen, die Schischkin den authentischen Memoiren eines russischen Kriegskorrespondenten aus einem Buch des Jahres 1903 entnommen hat, durchsetzt mit Hinweisen auf die ewige Wiederholung, die Zeitlosigkeit, mit Anspielungen und Zitaten aus der Weltliteratur, wie hier zum Beispiel auf das Eisenbahnmotiv und den albtraumhaften Mann mit dem Hammer aus Tolstois "Anna Karenina".

    Sowohl im Part Wolodjas, in dem der Tod durch den Krieg allgegenwärtig ist, wie in dem Saschas geht es um die Unausweichlichkeit des Todes, die Vergänglichkeit, Flüchtigkeit und Unfassbarkeit der Zeit, die Zerbrechlichkeit und Todesverfallenheit des menschlichen Körpers. Es ist allein das Wort, das Schreiben als solches, das diesem Grundgesetz des menschlichen Lebens entgegensteht. Wolodja, der nicht zufällig der Stabsschreiber seiner Truppe ist, schreibt an Sascha, nachdem er verkohlte Körper, den Leichengeruch und ascheverklebte Schweine, die in rauchenden Trümmern wühlen, geschildert hatte:

    "Beim Überlesen des Vorigen frage ich mich, wozu ich all diese Gräuel hier niederschreibe. Eigentlich möchte man das alles nur so schnell wie möglich vergessen. Und trotzdem werde ich aufschreiben, was hier geschieht. Jemand muss es doch festhalten. Vielleicht bin ich ja zu diesem Zweck hier. Hinschauen und aufschreiben. Tue ich das nicht, wird es alsbald vergessen sein. Wie gar nicht gewesen."

    Dies ist das übergreifende Thema, um das es Schischkin in seinen Büchern immer wieder geht.

    "Im Anfang war das Wort. (…) Die einzig reale Form von Unsterblichkeit. Die einzige überhaupt (…) Die Worte würden mein Körper sein, wenn ich nicht mehr war."

    Denn allein durch die Sprache, das Schreiben werden Tote erweckt und das menschliche Leben, dieses "Knäuel aus Wärme und Licht", in all seiner Fülle bewahrt. Mit seinen unzähligen sinnlichen Details: der "schmelzenden Butter auf getoastetem Brot", der "Wachstuchdecke mit dem braunen Abdruck vom heißen Bügeleisen", dem Geräusch der "Rute, die ein Kind den Gitterzaun entlang zieht", den Gerüchen von "regennassen Lindenblüten", "frisch gemahlenem Kaffee, gebratenem Fisch, übergekochter Milch".
    Sascha denkt in einem ihrer Briefe darüber nach, "dass die wirklich großen Bücher oder Gemälde gar nicht von Liebe handeln, das geben sie nur vor, damit das Lesen Spaß macht. In Wirklichkeit geht es um den Tod."

    Schischkins von Andreas Tretner einfühlsam übersetztes Buch über den Tod, das in Russland 2011 den renommierten Preis "das große Buch" bekommen hat, ist in diesem Sinne wirklich ein großes Buch. Gleichzeitig aber ist es ein überschwänglicher, triumphaler Lobpreis, eine Huldigung an das Leben.


    Michail Schischkin:
    Briefsteller. Roman. Aus dem Russischen von Andreas Tretner. Deutsche Verlags-Anstalt, 378 S., 22,99 Euro.