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Ein Buch
Geschichten, die von der Brücke aus ins Wasser fallen

Dieter Fortes neues Buch "Das Labyrinth der Welt" ist genießerisch geschrieben und ein variantenreiches Lob der Vielfalt und des Sonderbaren. Es hat aber auch eine gewisse Nähe zum Bühnenspiel, in dem sich alle Dissonanzen dieser Welt in Harmonien auflösen.

Von Sabine Peters | 16.04.2014
    Der deutsche Schriftsteller Dieter Forte, aufgenommen am 26.1.1999 in Bremen.
    Der deutsche Schriftsteller Dieter Forte. (picture alliance / dpa / Ulrich Perrey)
    Es verrät einen eigenwilligen Humor, wenn ein Schriftsteller seine neue Veröffentlichung in der Genrebezeichnung schlicht "ein Buch" nennt. Dieter Fortes, also gut, "Buch" mit dem Titel "Das Labyrinth der Welt" ist tatsächlich kein Sachbuch, kein Roman, kein Essay und auch kein Theaterstück, selbst wenn es hier gleich mit großem Theater losgeht - mit nichts Geringerem als der Schöpfung der Welt. Und es wird sogar behauptet: "Die Geschichten der Menschen sind das Leben der Welt". Aber man kann sich getrost darauf verlassen, dass es in diesem Buch keine letzte Wahrheit gibt, denn, Zitat, "Wahrheit riecht nach Scheiterhaufen".
    Dieter Forte, Jahrgang 1935, hat zahlreiche Theaterstücke, Hörspiele und Fernsehspiele geschrieben, und seine Romantrilogie "Das Haus auf meinen Schultern", darunter der Band "Der Junge mit den blutigen Schuhen", hat ihn einer breiten Leserschaft bekannt gemacht. Diese Trilogie war ein historischer Bilderbogen, eine über Jahrhunderte verlaufende Familiengeschichte, die sich schließlich auf die Zeit des Nationalsozialismus, des Krieges und auf die ersten Nachkriegsjahre konzentrierte.
    Ein Text, in dem man sich verlaufen kann
    Und jetzt "Das Labyrinth der Welt": Dieter Forte, der seit vielen Jahren in Basel lebt, nimmt diese alte europäische Kulturstadt als exemplarischen und doch wieder einzigartigen Ort, an dem schlicht und ergreifend das gesamte Welttheater stattfindet. Er beginnt mit den ersten Menschen und den Bildnissen in ihren Höhlen; und von da aus ist man schon bald in seiner Wahlheimatstadt, in der keltische, römische und alemannische Kulturen ihre Spuren hinterließen.
    Forte stellt einen Reigen von fiktiven Dokumenten, Briefen, von Chroniken, Legenden und Exklusivberichten aller Zeiten zusammen. Da fließen zwar historische Realien ein: Es gibt Hinweise auf den Bau des Münsters oder auf die Reformationszeit, als Traurigkeit und Askese die Stadt bestimmten. Aber Forte interessiert sich nicht nur für verbürgte Realitäten, sondern auch für das Sagenhafte. Leben heißt: Sich ein Bild machen, und die philosophisch veranlagten Bürger der Stadt Basel erzählen Geschichten, die sich gegenseitig aufheben, sie werden, schreibt Forte, "annehmbar unglaubwürdig".
    Ein hochgestimmter, bunter, labyrinthisch strukturierter Text, in dem man sich verlaufen kann und soll. Da ist beispielsweise der unvollendete, beziehungsweise vom Leser selbst zu ergänzende Bericht vom Mönchlein, das eines Tages spurlos verschwand. Es gibt den bis in die Moderne immer wieder neu geführten Disput zwischen Bilderfeinden und Bilderfreunden. Und den Bericht über eine als Hexe ersäufte Frau, die behauptete, Flugsalbe herstellen zu können. Es ist bestrickend, wie hier das Hohe und das Niedere ineinanderfließen, wie der Autor große Ideen erdet: Eine Alchemistin will einen Homunkulus, einen künstlichen Menschen erschaffen, daher studiert sie mit einem Kollegen alte Schriften. Dann heißt es in ihren Aufzeichnungen lapidar: "Bekomme ein Kind".
    Redundanzen, die Differenzierungen erlauben
    Forte schert sich nicht um Linearität und Erzählökonomie, und seine große, üppig ausgemalte Zusammenschau von Kulturgeschichten kann einen gelegentlich erschöpfen, nicht zuletzt wegen der Redundanzen im Text. Die erlauben es allerdings auch, die Wahrnehmung immer wieder um ein paar Grad zu verschieben, denn es geht hier nicht einfach um eine Addition von Geschichten, sondern um deren unendliche Differenzierung. Das Wiederholen, Kreiseln, Neuansetzen sind ein Teil des sophistischen Spiels, das dieser Autor mit dem Leser treibt. Man soll sich von Lappalien wie Wissen und Glauben nicht einschüchtern lassen, rät ein heller Kopf aus dem historischen Basel; das heißt, es gilt, das Mögliche vor dem Wirklichen zu retten. In Basel können Geschichten von der Brücke aus ins Wasser fallen, sie können sich verstecken oder auch zu Skeletten werden, die aus dem Wasser ans Ufer klettern. So bekommen sie eine Würde als Subjekte.
    Ein genießerisch geschriebenes, geistreiches, artistisches Buch, ein variantenreiches Lob der Vielfalt und des Sonderbaren. Ein Parcours durch die Menschheitsgeschichte, durch die Geschichte des bezweifelbaren Fortschritts und der Erkenntnis, durch die Geschichte der Kunst, der Katastrophen, der Gewalt. Immer wieder haben sich Autoren daran abgearbeitet, ob Hermann Kinder mit seinem Roman "Ins Auge" oder Alexander Kluge mit seiner "Chronik der Gefühle". Beide Bücher sprechen in ganz unterschiedlicher Weise auch von der "Weißglut aller Geschichte". Und im Vergleich mit ihnen meldet sich ein leiser Zweifel am "Labyrinth der Welt". Auch in Fortes Buch gibt es Missernten, Erdbeben, es gibt Zensur, Hinrichtungen, Tyrannei. Diese Phänomene werden expressiv und farbig ausgemalt. Wie kommt es dann, dass einem hier trotzdem der Ausdruck "milde Wilde" durch den Kopf geht? Das liegt vermutlich an der Nähe zum Bühnenspiel, die dieses Buch hat. Forte lässt die Puppen tanzen, und die kennen nicht die Dimension des Schmerzes. Alle Dissonanzen dieser Welt lösen sich in Harmonien auf. Das ist human und das vermittelt Hoffnung, das ist ein heiteres Narrenspiel.
    Dieter Forte: "Das Labyrinth der Welt. Ein Buch", Fischer-Verlag, 360 Seiten, 21,99 Euro