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Ein deutscher Sokrates

Moses Mendelssohn gehört zu den herausragenden Persönlichkeiten der deutschen Aufklärung im 18. Jahrhundert und er wurde auch zum Begründer einer der bekanntesten jüdischen Familien in Deutschland. In diesem Jahr feiert die Mendelssohn-Gesellschaft "250 Jahre Familie Mendelssohn".

Von Thomas Klatt | 01.08.2012
    "Moses Mendelssohn war aufgrund der fehlenden Bildungsmöglichkeiten für Juden, man muss sich vorstellen, es gab für jüdische Kinder keine jüdischen Schulen, allenfalls in den reichen jüdischen Familien gab es Hauslehrer für die Kinder. Moses Mendelssohn kam aber nicht aus einem reichen Haushalt."

    Der Potsdamer Philosoph Christoph Schulte bewundert heute noch die Lebensleistung von Mosche ben Menachem aus Dessau, der 1743 als 14-Jähriger nach Berlin kam. Ein kleiner schwächlicher, leicht buckliger Jüngling, der sich fortan mühsam als Hauslehrer und Abschreiber hebräischer Texte, später als Textilkaufmann sein Brot verdienen musste. Seinen Ruhm erwarb er sich quasi in seiner Freizeit. Und er gab sich einen neuen Namen: Moses Mendelssohn.

    "Also er war darauf angewiesen, im Grunde alles autodidaktisch auf eigene Kosten mit eigenem Fleiß sein ganzes Wissen, seine Kenntnis der Fremdsprachen, der Mathematik bis hin zur musikalischen Kompositionslehre sich von anderen beibringen zu lassen mehr oder weniger durch Lektüren."

    Eine Technik des Selbsterlernens, die durchaus mit seiner religiösen Herkunft erklärt werden kann. Als einer der Ersten aber wagte Moses Mendelssohn die Grenzen zu überschreiten, die ihm als Juden von der preußischen Gesellschaft aber auch von seinen eigenen Rabbinen gesetzt wurden.

    "Sicherlich war Moses Mendelssohn durch die jüdische Schriftkultur stark geprägt. Sein Vater war Sofer, also Thora-Schreiber. Er selbst hatte in der Jeschiwa von Lehrer David Fränkel eben Talmud gelernt, die jüdische Philosophie des Mittelalters kennengelernt. Er kam also aus dieser jüdischen Schrift- und Gelehrtenkultur, hat aber dann einen für die jüdische Aufklärung typischen Schritt gemacht. Er hat Sprachen gelernt und sich in von Christen dominierten Wissenschaften einzulesen und das zu lernen. Das war seinerzeit bei vielen von den traditionellen Rabbinern verrufen, also dass man sich überhaupt mit den Schriften der Goyim, der Nicht-Juden, beschäftigte. Das war der Schritt, wo er aus dem jüdischen Kollektiv herausgetreten ist und seine eigene Aufklärung begonnen hat."

    Mendelssohn wurde damit zum Wegbereiter nicht nur der Berliner, sondern auch der jüdischen Aufklärung überhaupt. Zunächst wird er Redakteur und vor allem Rezensent von Aufklärungszeitschriften, dem ganz neuartigen Medium der Aufklärung. In Friedrich Nicolais zensurfreier Zeitschrift "Briefe, die neueste Literatur betreffend" veröffentlichte er mehr als 120 Artikel über Themen aus unterschiedlichsten Wissensgebieten. Berühmt machte Mendelssohn schließlich sein "Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele", der in mehreren Auflagen gedruckt und in 10 Sprachen übersetzt wurde. Spätestens jetzt haftete ihm der Titel "Der deutsche Sokrates" an, zu einer Zeit, als Immanuel Kant noch als ein unbekannter Provinzphilosoph in Königsberg auf seine Entdeckung wartete. Schon 1763 gewann Mendelssohn mit einem philosophischen Aufsatz den ersten Preis der "Königlichen Academie". Doch deren Mitglied wurde er zeit seines Lebens ebenso wenig wie anerkannter Bürger Berlins. Der tolerante König Friedrich der II. war eben auch ein erklärter Antisemit. Juden hatten seiner Meinung nach in der preußischen Akademie nichts zu suchen. Fernab der Universität etablierte sich Mitte des 18. Jahrhunderts daher eine ganz andere Art von Bildungselite an ganz anderen Orten, bei Kaffee, Kuchen, Schach und einer guten Pfeife.

    "Vor 250 Jahren also zu Zeiten der Berliner Aufklärung waren die Kaffee- und Wirtshäuser, wo man sich zwanglos informell treffen konnte. Es waren die Orte, die auch für Juden zugänglich waren, weil sie da ja nicht essen mussten, sondern wenn man Kaffee trank, konnte man die Kaschrut beachten und konnte trotzdem dabei sein. Das Kaffeehaus war der auserwählte Ort, der zur Verfügung stand. Denn Juden konnten nicht einfach in eine Bibliothek gehen, die hatten gar kein Zutritt - etwa in der königlichen Bibliothek. Man wurde ja auch nicht einfach in ein christliches Haus hereingelassen. Die Kaffeehäuser waren sozusagen das Experimentierfeld, wo sich junge jüdische und christliche Intellektuelle treffen konnten, zwanglos sich unterhalten konnten, Philosophie und Wissenschaften diskutieren konnten oder einfach Schach spielen und Spaß haben konnten. Es war auch ein geselliger Umgang dort möglich, den man im strengen Rahmen von akademischen Institutionen gar nicht kannte."

    Mendelssohn war Mitglied im "gelehrten Kaffeehaus". Zu seinen Freunden und Mitstreitern zählten Christoph Friedrich Nicolai und Gotthold Ephraim Lessing, liberale protestantische Pastoren wie Johann Joachim Spalding oder Johann Friedrich Zöllner, aber auch der preußische Reformbeamte Christian Wilhelm von Dohm. Da ihnen andere Berufe insbesondere der Staatsdienst verwehrt wurden, waren Juden in der Berliner Aufklärung von Beruf entweder Ärzte wie Markus Elieser Bloch, der Begründer der modernen Fischkunde, oder Markus Herz, der Direktor des Jüdischen Krankenhauses. Oder sie waren eben Kaufleute wie Mendelssohn selbst und David Friedländer. Einige Dutzend aufgeklärte Geister in der damals rund 100.000-Seelen-Metropole Berlin. Mendelssohn ging es um die Gleichheit aller Bürger und Menschen um ihrer selbst willen, nicht aufgrund eines königlichen Toleranzediktes, das jederzeit wieder zurückgenommen werden hätte können. Mendelssohn machte die anderen Aufklärer darauf aufmerksam, dass religiöse Minderheiten wie die Juden, aber auch Mitglieder ethnischer und nationaler Minderheiten, ein universal verbrieftes, allgemein menschliches Recht auf ihre Einzigartigkeit und Besonderheit haben. Er wollte freie Berufswahl ohne den Zwang, sich nur durch die christliche Taufe den Zugang zu akademischen Graden oder dem preußischen Militär eröffnen zu können. Bildung war für ihn immer Voraussetzung alles gesellschaftlichen Fortschritts.

    "Bildung war für ihn nicht Pflicht, sondern ein natürliches Bedürfnis des Menschen, sich selbst zu vervollkommnen. Mendelssohn selber war ja kein Protagonist des Bildungsbürgertums. Er war auch nicht Protagonist der Goethe-Kultur, sondern er hatte einen Bildungsbegriff, der ganzheitlich war, der auch die physischen Bedürfnisse des Menschen, also das Tanzen, die gesellschaftlichen Sitten, moralische Gewohnheiten, alles dieses sollte vervollkommnet werden. Die Überwindung der eigenen Schwächen, das fasst Mendelssohn unter den Begriff Bildung zusammen. Auch Sittlichkeit. Heute würde man sagen, er wäre sicherlich auch für Sport gewesen, weil die physische Bildung, Ausbildung der Körperkräfte und des Seelenvermögens eminent wichtig hielt."

    Dabei war der jüdische Philosoph selber alles andere als eine kräftige und imposante Gestalt. Vielmehr litt er zeitlebens an seinem kränklichen Körper. Mit 33 Jahren klage er in einem seiner wenigen persönlichen Briefe über eine lang anhaltende Nervenschwäche auf Grund permanente Überarbeitung und Überlastung. Niemals aber hat Mendelssohn seinem Judentum abgeschworen. Im Gegenteil, er konnte Aufklärer und zugleich ein stolzer, religiös observanter und selbstbewusster Jude bleiben und dabei noch eine eigene Originalität entwickeln.

    "Der Name Mendelssohn war ein bewusst gewählter jüdischer Name. Er war von der ersten Minute an als jüdischer Autor erkennbar. Professuren Mendelssohn war einer der ersten, der seine ganze Philosophie auf Deutsch geschrieben hat. Er kann seine Philosophie frei formulieren. Das ist merklich, dass er nicht aus diesem Professorenmilieu kommt. Er schreibt ganz anders als Kant, haben sie diesen Kanzleistil mit den syntaktisch verschachtelten Sätzen bei Kant und sie haben diese ganz klare Wissenschaftsprosa bei Mendelssohn, einen ganz anderen Stil hat, kürzere Sätze schreibt, weil er auch für ganz andere Leser geschrieben ist. Nicht für universitäres Publikum, sondern es ist der bürgerliche Philosoph Mendelssohn, der für ein bürgerliches Publikum schreibt und seine Bücher auch verkaufen will. Er muss also ganz andere Anstrengungen machen, um sich verständlich zu machen."

    Er schrieb seine Philosophie in einem solchen erfrischen unprofessoralem Deutsch, dass der Göttinger Orientalist und bekennende Antisemit Johann David Michaelis zuerst gar nicht glauben konnte, dass "ein Jude diese Texte geschrieben haben sollte". Die Universitätsprofessoren konnten sich im 18. Jahrhundert kaum vorstellen, dass Juden eine Bildung auf Augenhöhe erreichen konnten. Doch bei allem Erfolg ist Mendelssohn mit seinen zahlreichen Büchern, Essays, Abhandlungen, Rezensionen und Artikeln nie reich geworden. Als Bestseller-Autor wurde er vielmals kopiert ohne dafür die entsprechenden Tantiemen zu erhalten. Zum Ende seines Lebens, Mendelssohn starb im Januar 1786, war der Philosoph nicht nur zur Ikone der deutschen, sondern auch der jüdischen Aufklärung, der Haskala geworden.

    "Seine Wirkungsgeschichte ist ungeheuerlich, sowohl bei den Juden als auch bei den Christen. In der christlichen Gesellschaft war er derjenige, der gezeigt hat, dass man als Jude in jeder Hinsicht gleichwertig ist. Als Bürger war er ein Musterbild der bürgerlichen Tugenden, der Arbeitsethik. Innerjüdisch war er der erste Jude in Europa, der populär war und allen ambitionierten jüdischen jungen Männern später auch jungen Frauen als Vorbild dienen konnte. Man kann es schaffen. Man kann diesen Aufstieg in die christliche Mehrheitsgesellschaft schaffen. Man konnte Jude bleiben und trotzdem gleichwertiges Mitglied in einer Gesellschaft sein."

    Moses Mendelssohn war aber nicht nur der große Philosoph, sondern auch Begründer einer der berühmtesten Familien Deutschlands, aus der in 250 Jahren zahlreiche wichtige Persönlichkeiten hervorgingen. Zu nennen sind etwa die Komponisten Fany Hensel oder eben Felix Mendelssohn Bartholdy, der Maler Philipp Veit oder der AGFA-Begründer Paul Mendelssohn Bartholdy.