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Ein düsteres Märchen

Dieser schmale Roman verschlägt einem den Atem. Und das ist keine Übertreibung. Seine Autorin, Julia Leigh, wurde 1970 in Sydney geboren. Schon mit ihrem vor zehn Jahren veröffentlichten Debüt "Der Jäger" bewies sie ihr Talent. Damals erzählte sie die Geschichte des Naturforschers Martin David, der sich in der tasmanischen Wildnis auf die Fährte des legendären Beuteltigers ins Herz der Finsternis begibt. Leigh schaute ihm bei der Pirsch über die Schulter und grub sich dabei tief in den Schädel des mysteriösen Außenseiters, der sein ganzes Leben nur einem einzigen Ziel verschrieben zu haben schien.

Von Shirin Sojitrawalla | 08.12.2009
    In einem dunkelen Schloss spielt Leighs Roman.
    In einem dunkelen Schloss spielt Leighs Roman. (Deutschlandradio - Gaby Mayr)
    Auch in ihrem neuen Roman "Unruhe", der jetzt - schön aufgemacht - in der Verlagsbuchhandlung Liebeskind erscheint, jagt sie ihre Figuren in eine Extremsituation: Eine Frau, Olivia, kehrt zum Landsitz ihrer Mutter nach Frankreich zurück, nachdem sie zuvor mit ihren zwei kleinen Kindern ihren gewalttätigen Mann in Australien verließ. In dem alten Haus, in dem Olivia mit ihren Kindern ankommt, lebt außer ihrer Mutter auch noch ihr Bruder und dessen Frau Sophie. Deren Ankunft mit ihrem neugeborenen Kind wiederum wird gerade erwartet. Doch das Kind wurde tot geboren, was Sophie aber nicht davon abhält, es trotzdem als Bündel umherzutragen. Ein paar Tage zum Abschiednehmen gewährte man ihr, dann soll das Baby im Garten des Schlosses beerdigt werden. Die Bilder, in denen Leigh beschreibt, wie die Frau mit ihrem toten Kind auf dem Arm zum Essen erscheint, es innig herzt und sich den Tag mit ihm vertreibt, besitzen eine brutale Kraft und sind der Treibstoff für diese Schauergeschichte, welche die Grenzen des Genres aushebelt.

    Denn wie schon in ihrem Erstling "Der Jäger", in dem Leigh weit mehr erzählte als nur einen Abenteuerroman aus der Wildnis Tasmaniens, bedient sie in "Unruhe" zwar die Anforderungen einer Gruselgeschichte, erzählt aber darüber hinaus von Trauer und Einsamkeit. Da ist nicht nur die Trauer der Mutter über ihr totes Kind, sondern auch die Trauer, die Olivia umweht wie ein vergifteter Seidenschal.

    Olivia ist die Hauptperson des Buches. Sie befindet sich, wie sie sagt, auf dem Scheitelpunkt von Gegenwart und Zukunft, und bis zum Ende ist nicht klar, auf welcher Seite sie herabstürzen wird.

    Dabei ist schon das Setting des Romans, ein altes Schloss in unwirtlicher Umgebung, jeder Gothic Novel mehr als würdig, und auch im weiteren Verlauf spielt Leigh gekonnt auf der Klaviatur des Genres. Den Nieselregen denkt man sich von Anfang an dazu, bis er dann später tatsächlich einsetzt. Man erinnert sich an "Rebecca", ob in Romanform von Daphne du Maurier oder als Film von Hitchcock, aber auch "Psycho" oder "The Others" schieben sich vors gedankliche Auge. Dabei ist es kein Wunder, dass man sich mehr an Filme denn an Bücher erinnert fühlt. Julia Leigh gelingen nämlich in ihrem zweiten Roman zahllose kraftstrotzende Bilder, die geradezu nach einer Verfilmung brüllen. Etwa wenn die Mutter des toten Babys lethargisch in der dunklen Küche sitzt, um Milch für ihr totes Kind abzupumpen oder das Mädchen am Frühstückstisch seine Lippen ausgiebig mit roter Marmelade bemalt.

    Zudem glänzt die Geschichte mit ihrer Ausstattung, die Requisiten, die bei Leigh zum Einsatz kommen, sind mit Bedacht gewählt. Aber auch in ihrer Art, ihre Schnitte zu setzen, die davon lebt, nur das Nötigste zu erklären und die Handlung über die Montage der einzelnen Passagen zu erzählen, erweist sie sich als vom Film geschult. Von vielen Schnitten unterbrochen, nimmt ihre kurze morbide Geschichte dann ihren Lauf, wobei das Buch eher einer Novelle gleicht als einem Roman, auch wenn Roman auf dem Umschlag steht. Meisterhaft versteht es Leigh dabei, eine Spannung aufzubauen, die sich auch daraus speist, dass sie ihren Lesern längst nicht alles sagt, was sie über ihre Figuren weiß. Sie spielt mit Andeutungen und Vagheiten und umgibt ihre Figuren derart mit einer geheimnisvollen Außenhaut, die der Leser nicht zu durchstechen vermag. Olivia erscheint dabei als nervöse, überspannte Schönheit, die aus ihrem alten Leben gerannt ist wie aus einem brennenden Haus.

    Jetzt könnte sie neu beginnen, aber sie findet den Anfang nicht, ist sich selbst so fremd geworden, dass sie sich nicht mehr erkennt. Erst am Ende des Romans scheint sie zu sich gekommen zu sein, endlich erwachsen geworden. Die Erzählerin spricht von Olivia immer nur als von "der Frau", wie auch die Kinder nur als "der Junge" und "das Mädchen" erscheinen. Allein die Großmutter, die man sich auch gut im Schaukelstuhl auf den knarrenden Dielen eines Dachbodens vorstellen könnte, kommt als "Großmutter" ohne distanzierenden Artikel aus. Mit ihrer unpersönlichen Art der Anrede hält die Erzählerin auch Abstand zu ihren eigenen Figuren und stellt sie den Lesern als entrückte Wesen wie auf einer Bühne dar: Gespenster, die zwar im Heute leben, aber doch aus einem unheimlichen Gestern zu stammen scheinen. Dabei macht Leigh nicht viele Worte, sondern präsentiert schlanke, polierte Sätze, die Marica Bodrožić feinfühlig ins Deutsche übertrug. Ihr ist es wohl auch zu verdanken, dass selbst die Kinder im Roman den Genitiv beherrschen.
    Julia Leigh hat nicht weniger als ein immens spannendes Buch geschrieben - ein düsteres Märchen, das den Leser in genau die Unruhe versetzt, die sein Titel verspricht.

    Julia Leigh: Unruhe. Roman. Liebeskind. Aus dem Englischen von Marica Bodrožić. Liebeskind. 126 Seiten. 14,90 Euro.