Freitag, 19. April 2024

Archiv


Ein Ehebruch-Roman ohne Ehebruch

Gabriela Zapolska galt in ihrer Heimat ehrenvoll als "polnischer Zola". Sie richtete ihren Blick konsequent auf die unteren sozialen Schichten und schrieb betont realistisch. In besonderem Maße interessierte sie sich für die weibliche Psyche. "Sommerliebe" heißt Zapolskas Erfolgsroman aus dem Jahr 1905, der lange Zeit in Vergessenheit geraten war.

Von Katrin Hillgruber | 10.09.2008
    In rascher Folge gehen Tuśka Bilder durch den Kopf: ihre schweigsamen stillen Kinder in Schulkleidung, hinter Palmen versteckt, der Ehemann, so mager und erbärmlich, dass sich bei seinem Anblick das Herz zusammenkrampft, Beichtstühle mit strengen und betrübt hinter dem Gitter hervorschauenden Priestern, lange, schlaflose Nächte, in denen sich tränenfeuchtes Haar auf den Kissen schlängelt ... . "Sünde! Sünde!"

    Im gutbürgerlichen 19. Jahrhundert wurde es Mode, die Sommersaison zur Erholung im Gebirge zu verbringen. Dabei sollte es möglichst standesgemäß zugehen, worüber sich nicht nur Zapolskas Zeitgenosse Octave Mirbeau in seinem Gesellschaftsroman "Nie wieder Höhenluft oder Die 21 Tage eines Neurasthenikers" von 1901 boshaft amüsierte. Erholungsbedürftige Polen wie Zapolskas Heldin Tuśka Zabrowska zog es in den gebirgigen Süden des geteilten Landes, nach Zakopane in der Hohen Tatra. Zakopane hat seine Entdeckung als Ferienort dem Warschauer Medizinprofessor Tytus Chalubinski zu verdanken, der sich 1873 dort niederließ. Er machte die Tatra und seine urigen Bewohner, die Goralen - von gòra für Berg -, bei der patriotischen Elite des Landes bekannt. Der Luftkurort mit seinen kunstvoll geschnitzten Holzhäusern an lockte so manchen mondänen Paradiesvogel an.

    Die Warschauerin Tuśka Zebrowska, von ihrem langweiligen Ehemann stets zu Sparsamkeit und Pflichterfüllung angehalten, reist mit ihrer liebreizenden Tochter Pita in die Berge. Hier kann sie endlich Atem holen und als Laiendarstellerin ihrer künstlerischen Ader folgen. Das hat sie ihrer Bekanntschaft mit dem Schauspieler und Frauenliebling Porzycki zu verdanken. Er tritt nicht nur als ökologischer Reformer in Erscheinung, sondern versteht es, ihr sehnsuchtsvolles Herz bei ausgedehnten Wanderungen im Sturm zu erobern. Doch ausgerechnet dann, als ihre Leidenschaft sie hinzureißen droht, stolpern die Verliebten über eine Leiche - einer der zahlreichen tragikomischen Effekte, welche die scharfe Beobachterin Zapolska dramaturgisch geschickt platziert.

    Und die Autorin weiß tief in die Seelen der Männer zu blicken: Der vermeintliche Freigeist Porzycki macht in letzter Sekunde einen Rückzieher: Tuśka erscheint ihm mit einem Mal als zu bürgerlich.

    Gleichförmig, wie einstudiert, fließen Porzycki die Worte von den Lippen. Er redet und redet, ohne Tuśka dabei anzusehen. In einem fort wiederholt er: "Ihr Mann ... ein ehrlicher Mensch ... arbeitet so hart ... eure Kinder ... er gibt euch alles ... eine redliche Sache ... das ist unmöglich ... das Gewissen". Und das Ganze von neuem. Aus dem Grauen des Augenblicks heraus erhebt sich das Trugbild eines blassen, abgezehrten Mannes in einer hässlichen Trachtenweste. Er steht da, streckt die Arme aus, bringt sein Monatsgehalt, händigt es aus.

    Tuśka, ursprünglich zur Scheidung entschlossen, fährt widerwillig zu ihrer Familie und den vorwurfsvollen Topfpflanzen heim. Was als harmloser Flirt in der Sommerfrische begann, endet für diese polnische Madame Bovary in Resignation und seelischer Zerrüttung. Auch nach gut hundert Jahren hat der satirische Scharfsinn der Avantgardistin Gabriela Zapolska nichts von seiner Frische eingebüßt.