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Ein erster Schritt zur großen Idee

Vor drei Jahren war Daniel Kehlmanns Roman über "Die Vermessung der Welt" der Überraschungserfolg der Saison. In dem Buch wird der Chimborazzo erklettert, der höchste Berggipfel der damals erforschten Welt. Mit viel fiktiv-biografischer Erzählung und wenig szenischen Passagen las sich das Buch nicht unbedingt so, als müsste es auf eine Theaterbühne gebracht werden. Am Staatstheater Braunschweig hat es Regisseur Dirk Englers dennoch versucht.

Von Michael Laages | 27.09.2008
    Also, die Besteigung des Chimborazzo geht so: Dick verpackt in Jacke, Schal und Mütze erklimmen Humboldt und sein französischer Reisebegleiter Bonpland die Ränge und Galerien des kleinen Theaters und spannen quer durchs ganze Haus hinüber und herüber, parallel und durcheinander, ein Geflecht und Gespinst aus gelben Gummizügen: eine Bergfantasie wie aus den feinen Linien einer Computeranimation, hoch und weit und gerade soeben noch fassbar. Imagination ist alles. Und in diesem Bild stecken schon alle Qualitäten, aber auch alle Risiken und Nebenwirkungen dieser Bemü-hung des Theaters um ein Sujet, das ihm eher nicht gehört.

    Denn die beiden Darsteller benötigen naturgemäß elend lang, um dieses Konstrukt zum Leben zu erwecken. Und obwohl der Bearbeiter und Regisseur Dirk Engler parallel dazu (und vom Chimborazzo aus gesehen mit großer Fallhöhe) eines der weniger erregenden Erlebnisse des zeitweiligen Land-vermessers Gauss in königlich-hannöverscher Tiefebene erzählt, steht die Aufführung dennoch minutenlang beinahe still.

    Und das passiert der Inszenierung immerhin mehrere Male, dass sie sich trotz aller bemühten Einfachheit auf beinahe leerer Bühne mit der Theaterfantasie schlicht überhebt. Das ist das eine, speziell diesem, dem Kehlmann-Roman, geschuldete Problem. Vom zweiten gleich mehr - zunächst nur so viel: Es hat mit dem immensen Reichtum des Romans zu tun.

    Humboldt, der weltläufige Forscher, ein Popstar seiner Zeit, und Gauss, der weltabgewandte, in die Studierstube vergrabene Equilibrist der Zahlen - die von Kehlmann konstruierte Begegnung und Pa-rallelnbiografie der beiden ist unbedingt auch auf der Bühne von großem Reiz und Charme. Braunschweig ist Klammer und Schlüssel: Der örtliche Herzog ist Humboldts Patenonkel und zugleich Förderer des in armen Verhältnissen hochbegabten Landeskindes Gauss, der schon die Lehrer mit erstaunlichen Rechentricks verblüfft - etwa bei der Aufgabe, alle Zahlen zwischen eins und 100 zusammenzuzählen. Die Lösung ist ja so einfach.

    Von der Jugend gehts schnurstracks hinein in die Lebensträume und die Wissenschaften - hier zu Humboldts großer Amerika-Reise, dort zum eher trüben Alltag eines Gelehrten in deutscher Provinz. Engler bebildert eine gehörige Menge der Episoden und Anekdoten aus Kehlmanns Roman. Mit Frauen übrigens können die beiden so ungleichen Kopfmenschen nicht wirklich etwas anfangen - Humboldt verschmäht eine nackte Schöne, die ihm hier im Reisekoffer als Präsent aus Häuptlingsbeständen angeboten wird (und die sein Begleiter, ganz Franzmann und Bonvivant, sicher nicht un-bestiegen gelassen hätte!).

    Gauss heiratet zwar, aber beim ersten Kind von Frau Johanna ("Ein Junge, ein Junge!") brummelt er nur zerstreut in sein Fernrohr: "Was für ein Junge?" Beim zweiten Kind stirbt ihm die Frau - und er bleibt mit dem Kopf in den Sternen und Zahlen zu Hause.

    Beide Geister der Zeit treffen einander in Berlin, bei Humboldts Vorträgen in Zelters Singakademie (übrigens dem heutigen Maxim-Gorki-Theater der Stadt). Der Biedermeier pflegt schon die Liederta-fel, und der Turnvater Jahn (hier ein bärtiger Zausel wie aus 68er- und Hippie-Zeiten) agitiert schon frisch-fromm-fröhlich-und-frei für Deutschland einig Vaterland und den gestählten Manneskörper als Ursprung aller arisch-deutschen Welteroberungsfantasien. Eugen, der junge Gauss, ist schon deut-scher Turner und wird schließlich nach Amerika flüchten aus deutscher Enge. Während die beiden Alten noch über Wissenschaft disputieren - Humboldt ist ein Mann des Kompromisses mit der Macht, und fragt, als Gauss ihm widerspricht.

    Hier sind wir fast zu Ende. Auch die bedeutende erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Debatte, die Kehlmann ja führt, bleibt hier eine Episode. Das ist zu wenig. Das ist das andere, das zweite Problem dieser Bemühung des Theaters: Im Bebildern verspielt es die große Idee.

    Der kommt das Theater mit bloßem Nacherzählen ohnehin nie auf die Spur. Um die zu fassen, muss es halt von sich selbst aus und mit viel entschiedenerer Theaterhaltung ganz neu erzählen, was Kehlmanns Buch zu sagen hat. Insofern war (wie für Gauss) Braunschweig auch hier wieder nur der (wichtige!) erste Schritt.