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Ein europäischer Kulturbürger

Harry Graf Kessler, 1936 in der Emigration in Lyon gestorben, war nicht nur ein reicher, umfassend gebildeter Kulturmensch, Förderer der modernen Kunst in Deutschland, Kosmopolit, Mitinitiator des Völkerbundes und Vorsitzender der Deutschen Friedensgesellschaft. Er war über viele Jahrzehnte hin auch ein akribischer und kritisch reflektierender Tagebuchschreiber, der das Gesicht seiner Zeit festhielt. Aus dem Mammutprojekt der Edition seiner Tagebücher im Verlag Klett-Cotta liegt nun Band vier vor, der die Jahre 1906 bis 1914 abdeckt. Ebenfalls erschienen ist Laird McLeods Biografie "Der Rote Graf. Harry Graf Kessler und seine Zeit".

Von Martina Wehlte | 06.02.2006
    Fast 1.300 Seiten zählt der vierte Tagebuchband Harry Graf Kesslers, der gerade im Stuttgarter Verlag Klett-Cotta erschienen ist. Er umfasst die Jahre 1906 bis 1914 und ist nicht nur in der Hand sondern auch substantiell ein Schwergewicht, - nämlich als das "Tagebuch Europas vor dem Ersten Weltkrieg", wie der Herausgeber dieses Bandes Jörg Schuster zu Recht feststellt. Denn hier wurde das Seismogramm der Belle Époque von einem ihrer maßgeblichen Akteure aufgezeichnet, wurden mit einer geradezu zeittypischen Überwachheit der Nerven die Spannungen und Gegensätze zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts wahrgenommen. Wenn Kessler am Dreikönigstag 1906 seinen offenen Brief zur deutsch-englischen Verständigung erwähnt und die Nachricht von der englischen Kriegserklärung am 4. August 1914 den Tagebuchband beschließt, so kennzeichnet diese Klammer wohl den politisch wachen und engagierten Zeitgenossen, nicht aber schon den politisch aktiven Pazifisten, Vortragsreisenden und Bewerber um ein Reichstagsmandat, als welcher Kessler nach dem Ersten Weltkrieg in Erscheinung trat. Im besagten Zeitraum bildet zweifellos die moderne Kunst seinen Lebensmittelpunkt. Als Mäzen und Vermittler, Freund und Ideengeber tritt er hier in Erscheinung; und es verbinden sich mit ihm die Namen Aristide Maillols, Edvard Munchs und Max Liebermanns, Hugo von Hofmannsthals, Edward Gordon Craigs, Diaghilews und vieler anderer bedeutender Künstler.

    Harry Graf Kessler - Tagebuch eines Weltmannes so lautete der Titel der Jahresausstellung 1988 im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Mit ausgewählten Texten - Tagebuchauszügen, Briefen, Zeitschriftenartikeln - und Fotos machte das Archiv damals auf seinen kostbaren Kessler-Nachlass aufmerksam, dessen Erwerb geradezu abenteuerlich verlief und zum damaligen Zeitpunkt weitgehend abgeschlossen war. Parallel dazu erschien im Fischer Verlag eine dreibändige Ausgabe gesammelter Schriften, so dass Harry Graf Kessler dem Vergessen erfolgreich entrissen war. 57 dicht beschriebene Tagebuchbände, etwa 6.000 Briefe und weitere Dokumente sind heute in Marbacher Besitz. Wäre Kessler nur ein von seiner Zeit besessener Zeuge und seichter Vielschreiber gewesen, hätte das weder den Erwerb noch gar eine aufwändige Edition seiner Tagebücher gerechtfertigt. Die aber war schon bald mit dem Stuttgarter Verlag Klett-Cotta beschlossene Sache und wurde vom Deutschen Literaturarchiv vorbereitet, namentlich von Ulrich Ott und Roland Kamzelak als Herausgebern der Gesamtausgabe. Wer jemals versucht hat, Kesslers Handschrift zu entziffern, weiß, auf welche Sisyphusarbeit sich die Beteiligten eingelassen haben. 1994 begann die Arbeit konkret und man hoffte, aus den schwer leserlichen Niederschriften binnen zwei Jahren einen Rohtext gewinnen zu können und erste Register, mit denen man sich einen Überblick verschaffen würde. Doch weit gefehlt! Der erste Band mit Harry Graf Kesslers Aufzeichnungen aus den Jahren 1892-97 erschien erst 2002 (der numerische Band 1 zum Zeitraum von 1880-1891, der in Englisch geschrieben ist, wurde auf das Jahr 2008 zurückgestellt).

    Der Grund für die Verzögerung waren die erforderlichen Recherchen zu insgesamt 16.000 Personennamen, die im Register je nach ihrer Relevanz unterschiedlich breit dargestellt und mit dem Datum versehen sind, unter dem Kessler sie erwähnt. Das ist ein guter Leitfaden für den interessierten Leser und eine unverzichtbare Grundlage für die systematische Arbeit von Historikern. Beiden Zielgruppen versuchen die Herausgeber mit ihrer sogenannten Hybrid-Edition, also einer Edition im Druck- und im elektronischen Medium, gerecht zu werden. Roland Kamzelak, Direktor des Deutschen Literaturarchivs Marbach, erläutert das:

    " Wir haben einerseits die wirklichen Leser dieser Tagebücher, die einfach begeistert sind von diesem Text, die wünschen sich eine gedruckte Edition, gleichzeitig haben wir aber auch unglaublich viele Forscher aus den verschiedensten Disziplinen, die Kessler als Quelle heranziehen und für diese Forscher brauchen wir einfach ein schnelleres Medium, wo man über das Register direkt zu Textstellen klicken kann, oder von den Textstellen zu weiteren verwandten Textstellen klicken kann usw. "

    Und zum Gesamtvorhaben:

    " Unsere Vorstellung ist, dass wir in halbjährlichem Rhythmus einen Band herausbringen; insgesamt werden es neun Bände und begleitend gibt es jetzt schon eine CD-ROM mit dieser Rohtranskription aus den ersten fünf Jahren und den Rohregistern und ganz zum Schluss soll es eine CD-ROM-Edition geben, die noch mal alles elektronisch zusammenbindet. "

    Also kommt - allerdings nur für Subskribenten der Gesamtausgabe - zu der gegenwärtig auf CD-ROM verfügbaren, nicht zitierfähigen Version nach Erscheinen des letzten gedruckten Bandes eine vollständig wissenschaftlich erarbeitete Textausgabe mit ergänzenden Dokumenten in digitalisierter Form. Das kommentierte Gesamtregister wird dann über das Internet frei abrufbar sein. Mit dem ursprünglichen Vorschlag, Tagebuchtext und neueste Arbeitsergebnisse sukzessive ins Internet zu stellen, und so von Anfang an einen Dialog zwischen Editoren und Lesern zu ermöglichen, hatten sich Roland Kamzelak und Ulrich Ott zu Beginn des Projektes 1994 nicht durchsetzen können, da einerseits die Möglichkeiten des Mediums noch nicht ausgereift waren und andererseits der Verlag kein derartig breites Interesse an der Edition erwartete, wie es sich nun gezeigt hat. Schade! Denn, wie Ulrich Ott schon anlässlich der Marbacher Ausstellung 1988 schrieb, stand Kesslers Leben "in einem eigenen Sinne an den Knotenpunkten, von denen die Stränge zum Neuen ausgehen." Und das Tagebuch, das Kessler als scharfer Beobachter und kritischer Geist über fünf Jahrzehnte hin führte, gehört zu den großen Beispielen dieser Gattung in der europäischen Literatur.

    " Somit war er einerseits ein wichtiger Faktor in seiner Zeit, weil er überall präsent war, und er ist natürlich jetzt ein wichtiger Faktor für die gesamte Forschung, weil sich anhand dieses Tagebuches von Kessler alles wieder genauso herausschälen lässt. "

    Wie wird man eigentlich ein Weltmann?

    " Harry Graf Kessler hatte das große Glück in seiner Zeit, dass er in einer sehr reichen Familie aufgewachsen ist und dadurch eine sehr umfangreiche Bildung genossen hat und die nicht umsetzen musste in einen direkten Brotberuf. "

    So konnte er sich um die Kunst, die bildende Kunst aber auch die Literatur kümmern und sich ein Netzwerk von persönlichen Bekanntschaften und Verbindungen aufbauen. Diese Kontakte nutzte er später auch politisch, wobei seine Karriere nicht wie heute in einem Amt mündete - ausgenommen ein vierwöchiges Intermezzo 1918 als Diplomat in Warschau.

    Wer sich zum ersten Mal mit Kessler beschäftigt ist wie paralysiert von dieser schillernden Persönlichkeit, diesem homme de lettres, Ästheten und Connaisseur, diesem weltläufigen Mittler moderner Literatur und Kunst, speziell des französischen Impressionismus in Deutschland und später des Expressionismus. Er steckte viel Energie und Geld in seine ehrgeizigen Projekte, etwa in den Plan, dem provinziellen Weimar zu einer dritten Blüte zu verhelfen als Zentrum einer "Geistesaristokratie" im Sinne Nietzsches, mit Nietzsche-Archiv und -Denkmal, einer innovativen Kunstgewerbeschule unter Henry van de Velde, den er dort erfolgreich etabliert hatte, und einem Museum für Moderne Kunst. Es war sein Werk, dass die Gründungsversammlung des Deutschen Künstlerbundes als nationaler Zusammenschluss moderner Künstler 1903 unter dem Protektorat Großherzogs Wilhelm Ernst von Sachsen-Weimar-Eisenach stattfand, und zwar im Großherzoglichen Museum zu Weimar, das Kessler bis zum Sommer 1906 leitete. Das war ein offener Affront gegen die Kulturpolitik Kaiser Wilhelms II. Es ist heute nur schwer nachvollziehbar, welchen hohen Stellenwert damals die Kulturpolitik als Staatspolitik hatte und die Brisanz dieses Vorgangs, wie überhaupt des Weimarer Programms, lässt den bekannten Skandal um eine erotische Zeichnung Auguste Rodins 1906 als willkommenen Anlass erkennen, den ungeliebten Museumsdirektor Harry Graf Kessler aus dem Amt zu jagen.

    " Dadurch dass er ein freier Denker war, hat er sich natürlich auch in keinerlei Konventionen hineinbewegt und war dadurch auch nicht wirklich für ein Amt geboren; er musste frei sein. "

    Das bestätigt den Eindruck, Kessler habe sich in irgendeiner Form selbst im Wege gestanden, sei es durch seine Liberalität; durch die Unrast, die ihm von Freunden immer wieder attestiert wurde und die ihn ständig zwischen Berlin, Paris, London und Weimar pendeln ließ; oder durch seine gesellschaftliche Stellung, die ihn dazu brachte sich zu nichts verpflichten, sich keinem dauerhaften Druck beugen zu müssen.

    Ob er sich 1906 mit Fürst Metternich zum Frühstück traf und seinen Eindruck festhielt oder im März 1911 Max Liebermanns Reflexionen über die Phantasie in der Kunst wiedergab, immer war er ein kompetenter, ja vielfach überlegener Gesprächspartner und verlässlicher Protokollant. Das macht seine Aufzeichnungen zu einer Quelle ersten Ranges. Eine Kommentierung oder Bewertung, wie sie in einer historisch-kritischen Ausgabe erforderlich wäre, unterbleibt zu Recht, denn, so Roland Kamzelak:

    " Kessler beschreibt diese hochbrisante Zeit um die Jahrhundertwende und dann auch später so detailliert und eindrücklich, dass man dem nichts hinzuzufügen braucht. Und unsere Intention war, diesen Text so zu belassen und nur dann einzugreifen, wenn das Textverständnis an dieser Stelle wirklich nicht herzustellen ist. "

    Es ist ein Glücksfall für den Leser, dass zeitgleich mit dem vierten Tagebuchband bei Klett-Cotta nun auch die Biografie des Amerikaners Laird M. Easton vorliegt, Der Rote Graf. Harry Graf Kessler und seine Zeit. Der Titel spielt auf Kesslers politisches Engagement nach 1918 an und macht deutlich, dass der Autor eher das gesellschaftliche und politische Profil dieses Mannes zeichnet, als seine Leistung für den Durchbruch der Moderne und für das innovative Potential der Kunst gerade in Deutschland darzulegen. Aufhorchen lässt Eastons Wertung, dass zwischen 1890 und 1930 eher Deutschland und Österreich als der Schmelztiegel der Moderne anzusehen sind denn Frankreich und England. Ob sich der amerikanische Historiker bewusst war, welche Sprengkraft seine Feststellung für das hierarchische Denken in der Zunft europäischer Kunsthistoriker haben muss? Easton weiß auch um die spezifische Rolle der damaligen Kunstpolitik im deutschsprachigen Raum. Doch leider vertieft er diese Themen nicht, wohl weil dies den Rahmen seiner Darstellung sprengen würde, aber auch weil es hierzu kunst- und kulturgeschichtlicher Spezialkenntnisse bedürfte, die am ehesten ein interdisziplinäres Autorenteam aufbrächte. Wenn er aber urteilt, so geschieht dies fundiert und kritisch wertend, wie im Falle von Kesslers Essay Kunst und Religion von 1899; oder beziehungsreich wie im Hinblick auf Kesslers Idee der Lebensführung als moralisches und ästhetisches Vorbild. Dass die Kultur des perikleischen Zeitalters als ein Zukunftsmodell für Kessler auch deshalb besondere Attraktivität haben musste, weil darin seine Homosexualität als positives Element einer modernen Lebensart Rechtfertigung finden würde, dies ist ein durchaus erhellender Aspekt.

    Sicher, es gibt kleinere Mängel in der Recherche: Kesslers Großmutter war armenischer und nicht persischer Abkunft, wie der Graf im Hinblick auf das Genozid bewusst die Familiengeschichte verfälschte. Doch der Leser wird solchen Lässlichkeiten - sofern er sie überhaupt aufspürt - mit Nachsicht begegnen. Denn er wird von Easton mit der umfangreichsten und wirklich spannend zu lesenden Biografie Harry Graf Kesslers beschenkt.

    Harry Graf Kessler: Das Tagebuch 1880-1937
    Hg. von Roland S. Kamzelak und Ulrich Ott. Vierter Band: 1906-1914. Hg. von Jörg Schuster unter Mitarbeit von Janna Brechmacher, Christoph Hilse, Angela Reinthal und Günter Riederer. Stuttgart (Klett-Cotta) 2005. 1270 S. Preis: 63,- Euro

    Laird M. Easton: Der Rote Graf. Harry Graf Kessler und seine Zeit
    Aus dem Amerikanischen von Klaus Kochmann. Orig.ausg. Verlag University of California Press Berkeley/ Los Angeles/London. Deutsche Ausg. Stuttgart (Klett-Cotta) 2005. 575 S. Preis: 39,50 Euro.