Donnerstag, 28. März 2024

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Ein Fuchs kann eine Echse werden

Die eine Sorte Leser verstand in Dietmar Daths FAZ-Artikeln über Mathematik, Marxismus und Horrorfilme meistens nur Bahnhof, die andere Sorte las das Feuilleton der "Frankfurter Allgemeinen" fast nur um seinetwillen. So ist es nun einmal mit Dietmar Dath, dem beunruhigend produktiven Journalisten, Essayisten und Romanautor: er scheidet die Geister. Entweder kann man seinem hierzulande ungewöhnlichen Kompetenz-Mix aus Linksradikalismus, Popkultur und Naturwissenschaften etwas abgewinnen, oder man kann es nicht. Im einen Fall wird man Daths sprachliche und gedankliche Verstiegenheiten als Chance nutzen, im anderen sie als Zumutung zurückweisen. Langjährige Dath-Leser wollen bemerkt haben, dass seine Bücher, seitdem sie nicht mehr in Kleinverlagen, sondern bei Suhrkamp erscheinen, schlanker und leserfreundlicher geworden seien. Aber das ist relativ. "Die Abschaffung der Arten", Daths jüngster Roman, ist 556 Seiten schlank und auch sonst nicht unbedingt eine Einladung an den Leser. Aber hier soll der Leser womöglich auch gar nicht unterhalten, sondern erzogen werden. Daths Großfabel von der Abschaffung der Arten ist ein Beitrag zur Erziehung des Menschengeschlechts in Erwartung oder Vorahnung seines baldigen Verschwindens.

Von Christoph Bartmann | 08.12.2008
    Der Titel nimmt unverkennbar auf Darwin Bezug, nämlich auf die 1859 erschienene Schrift "Über die Entstehung der Arten durch natürliche Auslese". Gewissermaßen hat Dietmar Dath den Roman zum Darwin-Jahr 2009 geschrieben, in dem der 200. Geburtstag des Evolutionstheoretikers sowie der 150. Jahrestag seines grundlegenden Buches begangen werden. Am Ende des Romans dankt Dath neben Anderen auch "Charles Darwin (für Variation und Selektion"), aber er wäre nicht Dath, wenn er sich nicht eine Welt und eine Wissenschaft "nach" Darwin vorstellen würde. Das hört sich in den Worten der Echse Padmasambhava, und einige Tausend Jahre nach uns vom Mars aus gesprochen, wie folgt an (wobei man wissen muss, dass Dath mit dem Wort "Langeweile" das Menschenzeitalter meint). Von drei Lehrmeinungen ist hier die Rede.

    Die ersten beiden waren Vertreter des noch in der Langeweile entstandenen 'Darwinismus' gewesen, einer Theorie von Replikation, Variation und Selektion, aus der die erste dieser beiden Schulen das Prinzip der adaptiven Komplexität abgeleitet hatte. Alle Eigenschaften, die sich als materielle oder Software-dispositive einer evolutionär stabilen Strategie sowohl auf onto- wie auf phylogenetischer Ebene bewährten, trugen nach dem Muster des Wegs des geringsten Widerstands kumulativ zu einer irreversiblen Höherentwicklung, nämlich einem ständigen Komplexitätsgewinn durch neu auftretende Spezies bei. Die zweite Schule glaubte an keinen derartigen Fortschritt, sondern betonte das löchrige, nur an Katastrophen punktierte Gleichgewicht, in dem sich die evolutionär stabilen Attribute der diversen Spezies im synchronen Vergleich stets befänden und hielt einige neu aufkommende Eigenschaften fürs Ergebnis eben nicht einer Adaption, sondern einer Exaption, einer Nutzung von aus ganz anderen, ziemlich beliebigen Gründen einmal aufgekommenen Veränderungen durch Individuen oder Populationen (...).
    Erst als die dritte Schule aufkam und eine Synthese von Biologie und Informatik versprach, am äußersten späten Ende der Langeweile, hatte die Streitfrage das Niveau erreicht, auf dem es sich lohnte, einen Riesenversuch zur Klärung zu unternehmen, 'und zwar am besten auf dem Mars, denn wenn wir jungfräuliche Welten schon neu besiedeln, dann wollen wir dabei doch auch was lernen' (so die Erfinderin des Plans').


    Daths Sciencefiction hat, was Dath-Leser wissen können, ein Vorbild in der Wirklichkeit, nämlich die umstrittene Theorie des englischen Mathematikers Stephen Wolfram, in deren Zentrum "zelluläre Automaten" stehen, das heißt die Organisation der Evolution nach binären Rechenvorgängen oder, wie es bei Dath heißt, "computationalen Prinzipien". Wer mehr darüber wissen will, muss Daths nächstes Buch abwarten.

    Zurück zur "Abschaffung der Arten". Sie ist zur einen Seite hin ein ausufernder Traktat, in dem Dath alle Register seines wie auch immer fundierten Wissens zieht, zur anderen aber auch und vor allem ein Roman. Ein Verzeichnis der handelnden Personen wäre ebenso hilfreich gewesen wie ein Glossar, aber das Fehlen solcher Hilfsmittel macht den neugierigen Leser wahrscheinlich noch neugieriger, während weniger zähe Leser die Flinte so oder so ins Korn würfen. Also: die Menschheitszeit alias "Langeweile" ist vorüber, und nur noch vereinzelte Exemplare wie die seit Daths Anfängen durch seine Bücher geisternde Komponistin Cordula Späth künden vom Schicksal der Gattung.

    Nunmehr wird der Erdboden, oder vielmehr die drei verbliebenen Weltstädte, von den "Genten" beherrscht, von klugen, sprechenden und lesenden Tieren wie der Libelle Philomena und der Fledermaus Izquierda (das ist, wie man weiß, spanisch für "links" und lässt Rückschlüsse auf die ideologische Verfassung dieser Fauna zu). Anders als die Menschen sind diese Tiere aber nicht an eine bestimmte "leibliche Konfiguration" gebunden, sondern können sich jederzeit verwandeln. Ein Fuchs kann eine Echse werden oder auch ein Glas Whiskey. Beherrscht wird diese freundliche Tierwelt von einem aufgeklärt monarchischen Löwen, der auf den Namen Cyrus Iemelian Adrian Vinicius Golden hört, und kommuniziert wird nicht via Telefon und Internet, sondern mittels des "Pherinfonsystems". Sein Träger und Botenstoff ist der Duft, weshalb es in Daths Roman auch in allen Noten duftet. "Nach Lorbeer und Aprikosen, dem damals üblichen Duftgemisch der Gelehrten in allen drei Städten", duftet zum Beispiel die Fledermaus Izquierda, wie überhaupt in diesem einerseits so theoriesatten Roman die sinnliche Welt mit ihrem Duft und ihrem Glanz nachdrücklich ins Licht gerückt wird.

    Dath ist eben nicht nur ein "Nerd", sondern zugleich ein Erotiker, der, wenn man so will, der Menschheit eine utopische Zärtlichkeit und Freundlichkeit beibringen will, die sie unter dem Gesetz des Kapitalismus und Industrialismus verloren hat. "So geschah es; und damit fingen Leben an, wie sie es nie zuvor gegeben hatte", heißt der letzte Satz des Romans", aber damit etwas anfangen kann, muss erst das Alte untergehen. Aus dem Dschungel Südamerikas droht Gefahr für die freundliche Tierwelt der "Gente". Dort, wo einmal Brasilia stand, erhebt eine Spezies denkender Automaten, genannt "die Keramiker", Anspruch auf die Führung einer neuen Zivilisation, und einer ihrer beiden Anführer, er oder sie hört auf den Dath-typisch gewöhnungsbedürftigen Namen Katahomenduende, erläutert ihre Strategie:

    Laß uns nicht vorgehen wie der Löwe drüben. Laß uns auch nicht in Melancholie versinken wie seine Kollaborateure im Norden, wo die Vogelfrau wohnt. Laß uns statt dessen, wo wir noch welche finden, nach Männern und Weibern trennen. Laß uns die Männer töten und die Weiber unter unseren Obsidianschwingen bergen. Sie sollen die Sonne nicht sehen, es sei denn hinter dem harten Glas, das sie vor den Satelliten des Löwen verbirgt. Laßt sie uns zu Hebammen für ein nächstes Leben ausbilden. Laß dafür sorgen, dass sie in unseren Keramikanlagen Generationen verbesserter Geschöpfe zur Welt bringen, Wespen, Termiten, Gespensterschrecken, von denen der Löwe sich fürchten wird und seine Arroganz bereuen. Laß die Dankbarkeit der Frauen, die wir schonen als angenehmen Lohn der Güte zu, die wir heute üben müssen, um uns von Cyrus zu unterscheiden. Besser als Altes zu verwerfen ist der Erwerb des Guten daran, Besitz und Nutzen.

    Es kommt, wie es kommen muss, zum Krieg, zum "Krieg der Welten", um H. G. Wells zu zitieren, den Daths Roman natürlich ebenfalls im Gepäck führt. Die Welt der "Gente" wird, trotz der Vermittlungsversuche des Diplomaten-Wolfs oder Wolfs-Diplomaten Dmitri Stepanowitsch, vor der Macht der zellulären Automaten aus dem Urwald vergehen. Und vielleicht ist es damit auch um die Erde endgültig geschehen. Der Science-Fiction-Roman aber, und gerade einer, der in menschheitsverbessernder Absicht geschrieben ist, tut neue Welten auf. Tausend Jahre später, am Beginn des dritten von vier "Sätzen" (der Roman folgt dem Formgesetz der großen Symphonie), blüht neues Leben auf der Venus, und, wir erinnern uns an die evolutionstheoretisch beschlagene Echse, auf dem Mars. Hier die Venus, dort der Mars, hier ein Prinz namens Feuer, dort die Echse Padmasambhava, die klassischen Planeten- und Geschlechterrollen also vertauscht. Von diesen Sternen und Lebewesen wird der alten Erde am Ende so etwas wie "Heil" erwachsen, aber das im Einzelnen zu erklären würde voraussetzen, dass wir es bis ins Detail verstanden hätten. Manches kann, will und muss man nicht verstehen im Dath-Kosmos, und Manches geht auch dem geduldigen Leser gehörig auf die Nerven. Wer sich aber auf Daths Arten-Abenteuer, so gut es eben geht, einlässt, der geht aus ihm mit neuer Inspiration wieder heraus.

    Dietmar Dath: Die Abschaffung der Arten. Roman.
    Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 556 S., 24, 80 Euro