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Ein ganz besonderer Pfropfen

Die Pfropfen aus Ohrenschmalz, die sich im Laufe eins Wallebens aufbauen, haben Biologen bisher lediglich genutzt, um das Alter eines Tieres zu ermitteln. Eine neue Studie gibt nun einen Grund mehr, das Sekret bei verendeten Walen zu bergen. Offenbar erzählt es viel über das Leben der Meeressäuger.

Von Dagmar Röhrlich | 17.09.2013
    Wenn tote Wale angespült werden, ist das für Meeresbiologen immer ein großes Ereignis. Und oft nutzen sie die Chance, die Tiere oder Teile von ihnen für die Wissenschaft zu bergen. Das passierte auch bei einem jungen Blauwal, der 2007 an die südkalifornische Küste angespült worden war. Er war bei einem Unfall mit einem Schiff getötet worden, erzählt der Meeresbiologe Stephen Trumble von der Baylor University in Waco, Texas:

    "Einer meiner Kollegen hat damals die Ohrenschmalzpfropfen entfernt und sie eingefroren. Weil wir hier an der Baylor University in Texas ein Verfahren entwickelt haben, mit dem wir solche Pfropfen chemisch sehr genau untersuchen können, habe ich mich an ihn gewandt, und jetzt konnten wir damit arbeiten."

    Im Labor analysierten die Forscher jede einzelne feine Lage dieses Pfropfes. Im Laufe dieses Wallebens hatte sich ein spindelförmiges, 25 Zentimeter langes und 150 Gramm schweres Gebilde angesammelt:

    "Wir schneiden ihn in der Mitte auf, und dann sieht man abwechselnd feine helle und dunkle Lagen. Sie entstehen durch die Wanderungen der Tiere: Wenn sie sich in den Gebieten aufhalten, wo sie fressen, produzieren sie ein fettreicheres, helleres Ohrenschmalz als in den Gebieten, in denen sie fasten und sich fortpflanzen. Es ist ähnlich wie bei Baumringen. Beide Bänder zusammen machen ein Jahr aus, und deshalb wissen wir auch, dass dieser Blauwal etwa zwölf Jahre alt geworden ist."

    Mit der in seinem Labor für Umweltwissenschaften entwickelten Methode sei dann Halbjahr für Halbjahr der Hormongehalt im Körper des Tieres und seine Umweltbelastung bestimmt worden, erklärt Sascha Usenko, ebenfalls von der Baylor University:

    "Ohrenschmalz ist schwer zu analysieren, und das machte es extrem kompliziert, diese Methode zu entwickeln. Wir konnten nun zeigen, dass wir aus jeder einzelnen Lage nur geringe Mengen brauchen, um selbst solche Verbindungen zu messen, die lediglich in Spuren enthalten sind. Wir können also über das Leben des Wals hinweg ein chemisches Profil erstellen. "

    Das eröffne ganz neue Einblicke in ein Wal-Leben, beschreibt Stephen Trumble:

    "Wir konnten bislang beispielsweise nur abschätzen, wann ein männlicher Blauwal geschlechtsreif wurde. Die Schätzungen lagen weit auseinander, zwischen 5 und 15 Jahren. Nun wissen wir, dass der Prozess bei diesem verunglückten Tier im Alter von neun Jahren eingesetzt hat."

    Außerdem interessierten sich die Forscher dafür, mit welchen Umweltschadstoffen der Wal wann in seinem Leben in Berührung gekommen ist. Und weil die Wanderungswege dieser Art in groben Zügen bekannt sind, lässt sich auch eingrenzen, wo sie sich zu dieser Zeit aufgehalten haben. Solche Informationen seien entscheidend, um toxikologische Risiken zu bewerten, erklärt Sascha Usenko:

    "Wir konnten in diesem Blauwal seit langem verbotene Pestizide wie DDT messen. Ebenso bromierte Flammschutzmittel oder polychlorierte Biphenyle. Selbst 20, 30, 40 Jahre, nachdem diese Stoffe nicht mehr eingesetzt werden, reichern sie sich also immer noch in der Nahrungskette und damit auch in diesem Blauwal an."

    Außerdem verriet der Ohrpfropfen, wie schnell neue Schadstoffe in die Nahrungskette gelangen: Kaum werden sie freigesetzt, kommt der Blauwal auch schon damit in Berührung. Überhaupt habe das Tier keinen Tag seines Lebens ohne Kontakt mit Schadstoffen erlebt:

    "Vom ersten Tag seines Lebens an, vielleicht sogar schon im Mutterleib, war er ihnen ausgesetzt. Besonders hoch war die Belastung, als er gesäugt wurde, denn in der fettreichen Muttermilch reichern sich Schadstoffe an."

    Mithilfe der Ohrpfropfen können Ökologen nun auch feststellen, wie sich die Belastung der Meere mit Giften im Lauf der Zeit entwickelt hat. Denn in den Museen dieser Welt lagern Tausende solcher Pfropfen, die seit den 1950er-Jahren gezogen worden sind: Sie stammen von Tieren, die im Pazifik gelebt haben, im Atlantik, im Indischen oder im Arktischen Ozean - und sie alle können noch analysiert werden.