Freitag, 19. April 2024


Ein Gebet für Fukushima

Wie die meisten Japaner fühlt sich die 26-jährige Yasuko Onuma gleich mehreren Glaubensrichtungen zugehörig. Sie sieht sich als Shintoistin und als Buddhistin zugleich, und sie hat kein Problem damit, die verschiedenen Praktiken miteinander zu kombinieren.

Von Silke Ballweg | 04.04.2011
    In Japan gibt es rund 100.000 offiziell registrierte Shinto-Schreine. Angesichts des verheerenden Tsunamis, des Erdbebens und der drohenden Nuklearkatastrophe wollte unsere Reporterin Silke Ballweg wissen, ob diese Themen auch bei Besuchen an den Schreinen eine Rolle spielen.

    Für Japaner beginnt ein Besuch an einem Shinto-Schrein traditionell mit Wasser. Auch am Meiji-Schrein in Tokio plätschert es aus zwei Bambusrohren in einen länglichen steinernen Trog. Mit kleinen Kellen schöpfen die Besucher etwas Wasser, gießen es über die linke Hand und fahren sich mit den benetzten Fingern dann über die Lippen. Anschließend waschen sie sich die Hände. Diese rituelle Reinigung soll die schlechten Worte und die schlechten Taten wegspülen, so die Idee dahinter. Streng genommen darf der Besucher erst danach den Schrein betreten.

    Der Shintoismus ist die traditionelle Religion in Japan, in der Vorstellung des Shinto ist die gesamte Welt von Göttern bewohnt. In jedem Baum, jedem Stein, im Wind oder in der Erde lebt ein Gott. Dem Glauben nach sind die Gebäude eines Schreins von einem Gott bewohnt. Wenn man die Gottheit begrüßen will, wirft man vor dem heiligen Gebäude etwas Geld in einen Holzkiste, klatscht zweimal in die Hände. Und verneigt sich dann:

    An diesem sonnigen Nachmittag sind mehrere Besucher an den Meiji-Schrein gekommen. Der Schrein liegt inmitten eines schönen Parks im Zentrum Tokios. Er ist der größte Schrein in der japanischen Hauptstadt. Und wegen seiner Lage auch der populärste.

    Onuma: "Ich war sowieso hier in der Gegend und der Park hier ist ja auch sehr schön. Deswegen bin ich gekommen. Ich fühle mich jetzt etwas erfrischt, und ich habe etwas Kraft getankt, es war ein schöner Spaziergang, außerdem gefällt mir die ruhige Atmosphäre hier am Schrein, die genieße ich."

    Yasuko Onuma ist 26 Jahre alt, die junge Frau hat rötlich gefärbtes Haar, das zu einem kinnlangen Pagenkopf geschnitten ist. Sie steckt in einem blauen College-Sweatshirt. Darüber eine braune Jacke. Onuma arbeitet in Tokio als Büroangestellte, sie wirkt burschikos und hat etwas Jugendlich-Unschuldiges an sich.

    Anders als in Europa, wo Religion für gläubige Menschen eine spirituelle Bedeutung besitzt, gehen Japaner mit religiösen Zeremonien eher kurzweilig um. Wie die meisten Japaner fühlt sich auch Onuma gleich mehreren Glaubensrichtungen zugehörig. Sie sieht sich als Shintoistin und als Buddhistin zugleich, und sie hat überhaupt kein Problem damit, die verschiedenen Ideen und Praktiken miteinander zu kombinieren. Der Schreinbesuch habe für sie nicht wirklich etwas mit tiefen Gefühlen zu tun, sagt sie. Heute sei sie wegen des schönen Wetters gekommen, gebetet habe sie dafür, dass sich die Krise in Fukushima bald zum Besseren wenden möge.

    Onuma: "Ich bin wegen des Erdbebens hierhergekommen, es war so tragisch, und jetzt haben wir das Problem mit dem Atomkraftwerk, ich mache mir Sorgen darum."

    Für ein Gespräch habe sie aber leider keine Zeit, sagt sie dann entschuldigend. Ihr Besuch am Schrein sei lediglich als kurzer Abstecher geplant gewesen. Das nächste Treffen mit einer Freundin stehe bereits an.

    Viele die hierherkommen, denken so wie Yasuko Onuma, für einen kurzen Moment an die Opfer des Erdbebens und des Tsunami. Doch da der befürchtete Super-GAU bisher nicht eingetreten ist und die Unsicherheit am AKW auch noch Wochen so weitergehen kann, ist das Gefühl einer akuten Krise bei vielen mittlerweile gewichen. Bei den meisten stehen die Sorgen und Probleme im eigenen Leben wieder im Zentrum. Der 21 Jahre alte Kaname Aoki etwa hat am Schrein für sich um Unterstützung gebeten:

    "Ich suche einen Job, im Moment ist es in Japan schwer, es gibt viele Arbeitslose, und deswegen bin ich jetzt hierhergekommen, ich bitte um Hilfe bei der Arbeitssuche."

    Aoki stammt aus der Stadt Nagoya südwestlich von Tokio, und er hält sich für ein paar Tage in der Hauptstadt auf. Hier hat er einige Vorstellungsgespräche. Aoki trägt einen dunkelblauen Anzug und ein weißes Hemd. Obwohl er eigentlich nur eine Stelle als Brillenverkäufer sucht, bekommt er seit mehr als vier Monaten nur Absagen:

    "In Japan ist es so, dass die Generation der heute 40- und 50-Jährigen sehr stark ist. Und in diesem Alter scheidet natürlich niemand aus dem Job aus. Deswegen ist es für uns Junge schwierig, ins Arbeitsleben 'reinzukommen."

    Am Meiji-Schrein hat Aoki ein sogenanntes Ema beschriftet. Ema sind kleine Holztäfelchen, die an fast jedem Schrein verkauft werden. Auf diese Brettchen schreiben die Gläubigen ihre Bitten und Wünsche an den Gott und hängen sie dann an einen Haken an einem langen Brett. Hunderte solcher Ema baumeln hier am Schrein. Auf den meisten bitten die Menschen darum, dass sie eine wichtige Prüfung bestehen mögen. Dass sie gesund bleiben. Oder dass sich ein bestimmtes Problem lösen mag. Aoki bittet darum, bald eine Arbeitsstelle zu finden. Und vielleicht können die Götter ja auch in Fukushima helfen, fügt er dann, zu mir gewandt, noch murmelnd hinzu.


    Sendereihe "Die verwundete Nation"

    Deutsche Welle: "Die verwundete Nation"
    Rituelle Reinigung vor dem Schreinbesuch
    Rituelle Reinigung vor dem Schreinbesuch (Silke Ballweg)
    Der Meiji-Schrein in Tokio
    Der Meiji-Schrein in Tokio (Silke Ballweg)
    Bitten an die Götter - hölzerne Ema
    Bitten an die Götter - hölzerne Ema (Silke Ballweg)