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Ein geistig-erotischer Flirt

Züge eines intimen gedanklichen und emotionalen Flirts hatte der Dialog, den die Pariser Psychoanalytikerin Elisabeth Roudinesco mit dem 2004 verstorbenen Philosophen Jacques Derrida führte. Das Gespräch ist Grundlage ihres gemeinsamen Buches "Woraus wird Morgen gemacht sein?", in dem die Psychoanalyse ihr Bezugspunkt ist.

Von Hans-Jürgen Heinrichs | 14.09.2006
    Die Autoren Jacques Derrida und Elisabeth Roudinesco lächeln uns von der Fotomontage auf dem Umschlag ihres neuen Buches "Woraus wird Morgen gemacht sein?" wie ein Liebespaar entgegen. Auch wenn dies in Wirklichkeit nicht so war, so hat doch der Dialog, den die in Paris lebende, sehr populäre Psychoanalytikerin mit dem schon legendären, 2004 verstorbenen Philosophen führte, Züge einer geistig-erotischen Liebesgeschichte, zumindest aber eines intimen gedanklichen und emotionalen Flirts. Der 1970 begonnene Austausch, der schließlich zu diesem Gespräch führte, wird von Roudinesco als ein "zweihändiger Text" charakterisiert, in dem zwei "Idiome" zusammenwohnen sollten.

    "So kommen Differenzen, Konvergenzpunkte, Entdeckungen füreinander, Überraschungen und Fragen zur Sprache; kurzum, es geht um eine Art Zusammenspiel ohne Gefälligkeit."

    Dieses Ohne Gefälligkeit miteinander Reden entspricht genau dem Prinzip der Schonungslosigkeit, das die Psychoanalyse auszeichnet. So ist denn auch die Psychoanalyse gemeinsamer Bezugspunkt des gesamten Dialogs. Das psychoanalytische Geschehen ereigne sich ganz ohne Alibi - das war auch schon Derridas zentrale Formel in seinem 2002 erschienenen Buch Seelenstände der Psychoanalyse.

    Ebenso unabdingbar gehört für ihn der Begriff des Unmöglichen ins Zentrum der Theorie und Praxis vom Unbewussten. Alles, was komme, ereigne sich in der Form des Unmöglichen, jenseits der Konventionen jenseits jedes Bemächtigungstriebs. Auf dieses Jenseits ist Derridas Blick gerichtet. Es ist aber weniger ein Gerichtetsein als vielmehr ein Gleiten und Schweben, das seinen Diskurs in allen seinen Büchern bestimmt. Er selbst sagt einmal:

    "Im Grunde weiß ich nichts. Ich weiß nicht einmal, wie ich es gestehen soll, dieses, dass ich nicht nur nichts weiß, sondern dass ich nicht einmal weiß, wohin mit mir, mit mir und meinem Nicht-Wissen, und genauso wenig, wohin mit meinen Fragen nach dem Wissen und dem Können, nach dem Möglichen und dem Jenseits des Möglichen. Ich weiß nicht, wodurch ich mich autorisieren soll."

    Damit siedelt Derrida sein Sprechen dort an, wo auch der psychoanalytische Diskurs stattfindet (oder stattfinden sollte): jenseits des Autoritären und Sich-Autorisierens, jenseits des Wissens und des Bemächtigungstriebs, der der Grausamkeiten Herr zu werden versucht. Grausamkeit - so kann aber die Psychoanalyse überzeugend belegen - ist nicht unbedingt an äußere Verfehlungen und an Krieg gebunden.

    "Nicht jede Grausamkeit ist blutig oder blutrünstig, sichtbar und äußerlich; sie kann wesentlich psychisch sein, und sie ist es zweifellos auch."

    In dieser Dimension verwischt sich der kategoriale Unterschied zwischen dem Mord und dem Selbstmord, zwischen: Schmerzen zufügen, Böses tun und an sich selbst höllisch leiden, mit sich selbst abgrundtief böse sein. Die Psychoanalyse, die sich auf exemplarische Weise dem an sich selbst grausam leidenden Menschen, der psychischen Grausamkeit, zuwendet und ihm Gehör verschafft, tut dies ohne Alibi, während doch sonst immer, wenn Grausamkeit im Spiel ist, nach einem Alibi Ausschau gehalten wird.

    Die Todesstrafe, der ein wichtiger Dialog in diesem Buch gewidmet ist, ist ein besonders gravierender Ausdruck für Grausamkeit in der Gestalt des "Bemächtigungstriebs". Indem Derrida die Wortfelder der Grausamkeit, der Souveränität und des Widerstands durchquert, will er der Grausamkeit ins Gesicht schauen, ohne zu werten, abzuwerten und zu diskreditieren.

    "Auf jeden Fall kann man die Todesstrafe nicht auf radikale, prinzipielle, unbedingte Weise in Frage stellen, ohne die Souveränität des Souveräns zu bestreiten oder zu begrenzen."

    Die Psychoanalyse steht in keinem unmittelbaren und effektiven Bezug zur Ethik und Politik; aber die Ethik, die Rechtsprechung und Politik sollten sich deren Wissen zunutze machen. Die Psychoanalyse habe sich, so Derrida, der Grausamkeit, dem Prinzip nationalstaatlicher Souveränität und der Todesstrafe noch längst nicht ausreichend zugewandt. Die schier endlos scheinenden Formen der Destruktivität und ihrer Rechtfertigungen, im Namen einer angemaßten institutionellen Souveränität, fordern die Psychoanalyse zu einer nur von ihr wertungsfrei zu leistenden Deutung heraus. Die Frage des Verzeihens ist, wie es Derrida auch tut, von hieraus ganz neu aufzugreifen.

    Neben dem Kapitel über die Todesstrafen und den Antisemitismus, über die Psychoanalyse, die Revolution und Freiheit bestechen auch die dialogischen Reflexionen über Themen wie "Gewalt gegen Tiere" oder "Ungeordnete Familien". Zentrale Begriffe in Derridas Arbeiten - wie in "Grammatologie, Die Schrift und die Differenz" oder in dem Dialog mit Roudinesco - sind die Schrift, die Differenz (die man in Derridas Verständnis mit einem a oder ä schreiben muss) und die Dekonstruktion.

    "Das Motiv der différance hat gegenüber den Differenzen das Universalisierbare, dass es Differenzierungen über Grenzen jeglicher Art hinaus zu denken erlaubt. Es gibt différance, sobald es ein Verhältnis von Leben/Tod oder Anwesenheit/Abwesenheit gibt."

    Die so verstandene "Differänz” ist ein anderer Ausdruck für das Absolute, das die Vorstellung übersteigt. Und die Dekonstruktion? Sie benennt Derridas zentralen methodischen Zugriff, um ein anderes Werk zu deuten. Es ist eine Art der Auseinandersetzung und des Kommentars, die ein ganz eigenes Verständnis von Werktreue vorgibt. Elisabeth Roudinesco, selbst Autorin einer bedeutenden Lacan-Biographie und einer äußerst kenntnisreichen Geschichte der Psychoanalyse, hat das Verfahren der Dekonstruktion sehr klar in diesem Dialog bestimmt:

    "Sie hatten Recht damit, die Werke aus dem Inneren ihrer selbst durch die Risse, ihre Leerstellen, ihre Ränder und ihre Widersprüche sprechen zu lassen, ohne damit zu versuchen, sie zu töten. Woraus sich die Vorstellung ergibt, die beste Art und Weise, einem Erbe treu zu sein, sei die, ihm untreu zu sein, das heißt, es nicht buchstabengetreu als eine Totalität anzunehmen, sondern es vielmehr bei einem Vorstoß zu ertappen und daran das dogmatische Moment aufzugreifen."

    Aufgreifen und Ergreifen sind ja die entscheidenden Bedeutungsinhalte des Begriffs. Dekonstruktion, wie Derrida sie versteht, arbeitet mit Begriffen, bringt sie hervor, durchquert sie gleichsam und geht über sie hinaus, entgrenzt sie. Und all dies soll im Sinne des Werks und seiner Stärkung geschehen; gerade nicht, um es - von einer Position des Besserwissens - klein zu machen.

    Wenn Derrida eine Theorie dekonstruiert, dann entschlüsselt er ihre scheinbare Totalität und Homogenität und öffnet den Blick für die tatsächliche Verteilung der wirkenden Kräfte und Motive. Auf diese Weise unterstreicht er aber gerade die Einzigartigkeit des Werks, ihr Idiom. Die Erkenntnis, dass kein Text jemals in sich homogen, sondern immer heterogen und brüchig, rissig ist, nennt Derrida die "Charta aller meiner Interpretationen".

    Ein solcher Ansatz misstraut jedem Totalitätsanspruch radikal und widerspricht allen geistigen, kulturellen und politischen Ansprüchen auf den Besitz des Einen und Richtigen. Es gilt, die Tyrannei in einer solchen Vermessenheit zu erkennen und sie zu entlarven. In dieser Dimension wird auch klar, warum die Psychoanalyse - deren Geschäft ja nichts anderes als die Aufdeckung des Unbewussten, Ungewussten und Verdrängten ist - bei den Menschen so viel Widerstand erzeugt.

    "Die Logik des Unbewussten bleibt unvereinbar mit dem, was die Identität des Ethischen, des Politischen und des Rechtlichen in ihren Begriffen, aber auch in ihren Institutionen und folglich in ihren menschlichen Erfahrungen bestimmt. Wenn man die Psychoanalyse ernsthaft, effektiv und praktisch in Betracht ziehen würde, so wäre das ein beinahe unvorstellbares Erdbeben. Ein unbeschreibliches. Selbst für die Psychoanalytiker."