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Ein Geschenk der Natur

50 Kubikkilometer Wasser sind schon keine Kleinigkeit. Eine solche Menge, mitten in Europa, ist ungewöhnlich. So etwas prägt die Landschaft, das Klima, die Menschen, die Geschichte. So etwas trennt und verbindet, konstituiert einen Raum und zerteilt ihn, stiftet Identität und zugleich konkurrierende Identitäten.

Von Burkhard Müller-Ullrich | 01.11.2009
    Der Bodensee ist ein Geschenk der Natur, ein Fest für die Sinne und eine Herausforderung des Geistes. Er ist ein Binnengewässer mit den Allüren eines Meeres, ein Eiszeitrelikt, das Wärme speichert, und so etwas wie eine umgekehrte Hügelkette. Der Bodensee steckt voller Geheimnisse und Paradoxe, und schon das ist Grund genug, ihn auch als literarisches Phänomen zu betrachten.

    Nicht, dass diese Betrachtungsweise neu wäre. Es gibt schon eine Menge Bodenseegeschichten und Anthologien mit Bodenseegeschichten. Die letzte große Welle dieser Art schwappte vor gut dreißig Jahren durch die Lande, als die Intellektuellen den Heimatbegriff für sich entdeckten. Heimat war ja bis dahin ein nazibraunes Unwort gewesen, doch nun füllte sich die Provinz mit Kultur, die Dichter warfen sich in den Dialekt, und es wurde schick, an Orten mit vierstelliger Postleitzahl - mehr Stellen gab es damals nicht - zu wohnen.

    Jochen Kelter und Hermann Kinder kamen zu jener Zeit an die gerade frisch gegründete, dem allgemeinen akademischen Nach-68er-Debakel Ambition und Selbstbewusstsein entgegensetzende Universität Konstanz. Der gebürtige Kölner Kelter machte dann Lyrik und die Leute mit seiner unentwegten Literaturbetriebsamkeit verrückt. Der in Ulm, Nürnberg und Münster aufgewachsene Kinder bekam indessen den geruhsamsten Job, den die deutsche Alma Mater zu bieten hat: Er wurde Akademischer Rat und schrieb nebenher, Romane, in denen er sich über das Leben eines Akademischen Rates und die deutsche Alma Mater lustig machte - ein bisschen so, wie wenn man David Lodge mit Eckhard Henscheid kreuzte.

    Dass diese beiden, Kelter und Kinder, jetzt in ihren Sechzigern einen weiteren Band mit Bodenseegeschichten herausgeben, zeugt nicht nur von sympathischer Beharrlichkeit, es hat auch was von Schlussstrich unter eine lange genährte Hoffnung, eine lange gehegte Vorstellung vom Kulturraum Bodensee. Denn diesen alemannischen Kulturraum, der vor dreißig Jahren viel beschworen wurde, gibt es nach Kinders heutigem Dafürhalten schlicht und einfach nicht. In seinem Nachwort schreibt er:

    Der 'Bodensee' ist ein geografisch beschreibbarer Raum, der mit seinem Klima, seinen Winden, mit Wetter und Wolken, mit dem See und seinen Fischen, mit seinem Ensemble von Bergen, Hügeln, Zuflüssen, Tobeln und Schilfebenen alle verbindet, die dem See zugewandt leben im Bregenzer Wald, auf dem Rorschacherberg und dem Seerücken, im Hegau, Linzgau, in Oberschwaben, im Allgäu und in allen Seeufer-Orten. Für Meinen, Empfinden und das Selbstbewusstsein aber, für Interessen und Orientierungen, also auch für das Schreiben sind die kulturellen (ökonomischen, sozialen, politischen, historischen) Unterschiede bestimmender. Der See eint atmosphärisch; lebenspraktisch (und nicht nur verkehrstechnisch) trennt er. Zwar leben wir alle am selben See, aber zuerst sind wir entweder Österreicher oder Schweizer oder Deutsche, Oberschwaben oder Schaffhauser.

    Das ist in einer Zeit, in der ja nun seit ein paar Monaten die Grenzkontrollen zum ersten Mal in der Geschichte der modernen Schweiz weggefallen sind, eine fast deprimierende Erkenntnis. Sind die Nationalismen und Regionalismen wirklich stärker als der Wunsch nach einer wie auch immer gearteten alemannischen Zusammengehörigkeit? Diese kulturpolitisch hochbrisante Frage steht jedenfalls im Hintergrund der Bodenseegeschichten-Sammlung, deren 55 Texte literaturgemäß detailreich, liebevoll und ausdrucksstark vom Klima und den Winden, von Wetter und Wolken, vom See und seinen Fischen handeln.

    Von allen möglichen Prinzipien der Anordnung und Reihenfolge wählten die Herausgeber das am wenigsten originelle, nämlich das chronologische. Und so beginnt der Reigen mit dem "Lob der Reichenau" des mittelalterlichen Mönchs Ermenrich von Ellwangen, dann folgt ein Sendschreiben vom Konstanzer Konzil aus dem Jahr 1416, woraufhin Oswald von Wolkenstein zu Wort kommt, der den Überlinger Wein, wahrscheinlich Konzilsjahrgang, offenbar nicht mochte:

    Seine Säure lässt mein Blut gerinnen,
    da werde ich ganz schwach und grantig.
    Dies ungepflegte Naß
    Lässt mich das Maul verziehen.


    Allerdings waren solche Schmähungen zum Teil bloß der Textgattung geschuldet; Schimpf- und Loblieder gehörten zu den literarischen Exerzitien, die der Dichter einfach drauf hatte. Dass Speis und Trank in der Gegend generell nicht schlecht waren, bezeugen zeitgenössische Reiseberichte zuhauf. Ein besonders aufschlussreicher ist in dem Buch verstreten; er stammt von Michel de Montaigne, der 1580/81 von Bordeaux über Deutschland nach Italien ritt und fuhr und wie ein früher Michelin-Inspektor die alemannischen Gasthäuser beschrieb.

    Was die Aufwartung bei Tisch betrifft, machen sie solchen Aufwand an Lebensmitteln und bringen in die Gerichte eine solche Abwechslung an Suppen, Soßen und Salaten, und das alles ist in den guten Gasthäusern mit solchem Wohlgeschmack zubereitet, dass kaum die Küche des französischen Adels damit verglichen werden kann.

    Das immerhin ist aus der Feder eines französischen Adligen bemerkenswert. Aber im 16. Jahrhundert wurde in den dortigen Schlössern eben noch äußerst bescheiden gekocht, während am Bodensee schon ein Schlemmerparadies war. Das Paradiesische ist übrigens bis heute ein Topos der literarischen Bemühungen um den Genius Loci. So auch bei Hölderlin:

    Eine der gastlichen Pforten des Landes ist dies,
    Reizend hinauszugehn in die vielversprechende Ferne,
    Dort, wo die Wunder sind, dort, wo das göttliche Wild,
    Hoch in die Ebnen herab der Rhein die verwegene Bahn bricht,
    Und aus Felsen hervor ziehet das jauchzende Tal,
    Dort hinein, durchs helle Gebirg, nach Como zu wandern.


    Es gibt von Martin Walser einen hübschen Aufsatz mit dem Titel "Hölderlin auf dem Dachboden", in dem er sich gerade mit diesem Gedicht, das für ihn eine "Knabenerweckung" war, auseinandersetzt. Doch Walser, der - in den Worten Hermann Kinders - "mit seinem gastlichen Haus und seinen vielen Kontakten der Patron der Schreibenden am deutschen Bodensee" ist, Walser kommt in dieser Anthologie bloß mit einem entsetzlich mittelmäßigen, zwischen Ironie und Pathos ungut schwankenden Gedicht vor sowie als literarische Figur in einer Erzählung des tragisch früh verstorbenen Dampf-und-Qualm-Schreibers Hermann Burger, der sich erinnert, auf einem Schriftsteller-Schiff eine Rundfahrt mit Walser gemacht zu haben, der lindengrünes Leinen und rote Hosenträger anhatte.

    Die Schifffahrt ist ganz allgemein eines der wichtigsten Motive der Bodenseeliteratur, nicht nur wegen ihres hochsymbolischen Charakters, sondern auch weil sie zur Lebensform der Menschen hier gehört. Schifffahrt bedeutet Umgang mit Untiefen - ein Wesensmerkmal des alemannischen Charakters. Interessanterweise sind es eher die Zugezogenen, welche die Untiefen des Sees zu Katastrophen ausfantasieren - die Palette der Beispiele reicht von Karl Valentin bis Ulrike Längle, aber vielleicht sind es sowieso die Zugezogenen, die literarisch hier den Ton angeben, weil - das ist ein schrecklicher Verdacht des Österreichers Robert Schneider - die Einheimischen, jedenfalls im Vorarlberg, irgendwie ausdrucksbehindert und künstlerisch bloß B-Klasse sind.

    Weshalb hat so ein zauberischer Landstrich wie das Rheintal noch nie eine Schule des Geistes, des Lebens oder der Kunst hervorgebracht, die von Bedeutung wäre? Es hat doch eine fantasiebegabte Natur, die jeden Frühling ihre dunkelgrünen Wiesen ins Tal hineinschwemmt, die Laubwälder im Herbst rötet und im Winter den Kindern einen milden Schnee auf die Fensterbank legt. Und es hat den jungen Rhein, der doch die Gedanken lang und die Sehnsucht weit machen könnte. Oder sind es die raubtierhaft großen Berge, die den Menschen angst machen, über ihr Tal hinauszudenken. Womöglich ist die Frage zu Unrecht erhoben. Vielleicht haben hier Menschen wundersame Lebensläufe gelebt, aber die Schrift hat ihnen nichts bedeutet. Und die Erzählung.

    Robert Schneider, der Autor von "Schlafes Bruder", vermutet, das könne am alemannischen Dialekt liegen, der wenig facettenreich und für den Ausdruck von Gefühlen ungeeignet sei. Aber erstens sind Schriftsteller und Dichter ja durchaus imstande, sich der Hochsprache zu bedienen, und zweitens hat es vor tausend Jahren auf der Reichenau und in St. Gallen sehr wohl Schulen des Geistes, des Lebens oder der Kunst gegeben, die ganz Europa überstrahlten.

    Dennoch bleibt es eine bemerkenswerte, sonderbare Tatsache, dass die allermeisten Bodenseegeschichten - und zwar nicht nur in diesem Band! - von Autoren stammen, die eben nicht am Bodensee geboren oder aufgewachsen sind. Das gilt zum Beispiel auch für Hermann Hesse, der vor dem Ersten Weltkrieg in Gaienhofen am Untersee, gegenüber der Schweizer Stadt Steckborn, lebte und die mystische Stimmung eines für die Gegend so typischen Nebeltages beschrieb:

    Auch das ist seltsam und ergreifend, wie der Nebel alles Benachbarte und scheinbar Zusammengehörende trennt, wie er jede Gestalt umhüllt und abschließt und unentrinnbar einsam macht. Es geht auf der Landstraße ein Mann an dir vorbei, er treibt eine Kuh oder Ziege oder schiebt einen Karren oder trägt einen Korb, und hinter ihm her trabt wedelnd sein Hund, und du siehst ihn herkommen und sagst Grüß Gott, aber kaum ist er an dir vorbei und du wendest dich und schaust ihm nach, so siehst du ihn alsbald undeutlich werden und spurlos ins Graue hinein verschwinden. Nicht anders ist es mit den Häusern, Gartenzäunen, Bäumen, Scheunen und Weinberghecken. Du glaubtest die ganze Umgebung untrüglich auswendig zu kennen und bist nun eigentümlich erstaunt, wie weit jener Garten von der Straße entfernt liegt, wie hoch diese Mauer und wie niedrig jenes Häuslein ist. Hütten, die du eng benachbart glaubtest, liegen einander nun so ferne, dass von der Türschwelle der einen die andere dem Blick nicht mehr erreichbar ist. Und du hörst in nächster Nähe Menschen und Tiere, die du nicht sehen kannst, gehen und arbeiten und Rufe ausstoßen. Alles dies hat etwas Märchenhaftes, Fremdes, Entrücktes, und für Augenblicke empfindest du das Symbolische darin erschreckend deutlich. Wie ein Ding dem andern und ein Mensch dem andern, sei er wer er wolle, unerbittlich fremd ist, und wie unsere Wege immer nur wenig Schritte und Augenblicke sich kreuzen und den flüchtigen Anschein der Zusammengehörigkeit, Nachbarlichkeit und Freundschaft gewinnen ... .

    Das ist nicht nur die Darstellung einer Wetterlage, sondern auch einer Mentalität. Hesse trifft mit dieser Nähe-Ferne-Verzerrung den alemannischen Charakter ziemlich gut. Statt Nebel könnte man auch den See als solchen nehmen: er gewährt zwar einen flüchtigen Anschein von Zusammengehörigkeit und Nachbarlichkeit, aber er grenzt zugleich Völkerschaften mit ganz verschiedenen Eigenarten von einander, um nicht zu sagen: gegen einander ab.

    Der Bodensee als Grenzlandschaft: das ist das schlechthinnige Zentralmotiv, und unter allen Texten bringt dies der unbekannteste am tiefsten und am heitersten zugleich zum Ausdruck. Die Rede ist von der 1933 erschienenen Erzählung "Felix und Felicia" von Karl Böttner, hinter welchem Pseudonym der 1952 in München verstorbene Karl Jakob Hirsch steckt - ein jüdischer Autor, der vor den Nazis floh, nach dem Krieg nach Deutschland zurückkehrte und dennoch nicht mehr an seinen früheren Erfolg anknüpfen konnte. Der Hinweis auf diese Sommergeschichte, die von einem allerlei deutsch-schweizerische Liebesverwirrungen stiftenden jungen Paar handelt, rechtfertigt den Kauf dieser Anthologie schon ganz für sich allein. Man muss dann nur noch "Felix und Felicia" im Antiquariat auftreiben, denn dieser goldige Roman wurde bis heute nicht wieder aufgelegt.

    Mit dem Krieg bekam die See-Grenze noch eine ganz andere als bloß mentalitätsmäßige, ihre Überschreitung eine andere als bloß touristische Bedeutung.

    Pralinen mit Cognacfüllung im Herbst 1941: Das war Konstanz. Der Krieg zog durch ganz Europa und fraß sich bis an die äußersten Ränder vor, nur hier, eingeschüchtert durch die Schweiz oder weil er sich einen Spaß erlauben wollte, ließ er sich nicht blicken. Ein Rest von Frieden klebte am Grenzzaun.

    Marc Buhl, Jahrgang 1967, wandelt in seinem vor drei Jahren erschienenen Roman "Das Billardzimmer" auf den Spuren des französischen Goncourt-Preisträgers Patrick Modiano. Die von ihm nachempfundene Mischung aus Düsternis und Dekadenz war tatsächlich typisch für die Hitlerzeit am Bodensee, und ganz besonders in der Grenzstadt Konstanz, wo der französische Kollaborations-Star Jacques Doriot seine tollwütigen Nazi-Pamphlete publizierte und auf der Insel Mainau ein Leben in Saus und Braus führte.

    Konstanz blieb während des Krieges unversehrt, weil viele Einwohner bei Fliegeralarm ihre Häuser nicht verdunkelten; sie waren damit denen der benachbarten Schweiz zum Verwechseln ähnlich. Dennoch fand der Krieg gerade auch an dieser Grenze statt, wenngleich auf subtilere Weise. Denn diese Grenze war für viele Rettungssuchende von verhängnisvoller Undurchlässigkeit. Dafür gibt es Geschichten von regelrechten Wettrennen zwischen deutschen und schweizerischen Militärbooten auf dem See, um die Piloten abgeschossener Flieger der Alliierten zu bergen.

    Carl Seelig, der Freund, Vormund und spätere Nachlassverwalter Robert Walsers, zeichnete die Zeitstimmung anlässlich seiner Spaziergänge mit dem Dichter auf:

    Als wir die Kirche von Arbon erreichen, gellt Luftalarm. Vom gegenüberliegenden Bodensee-Ufer hört man Abwehrgeschütze krachen. Robert wird still. Wir verschwinden in einer Konditorei, um die Käse- und Rhabarberkuchen zu versuchen. Später Fischessen in einem Restaurant am See. Im anstoßenden Saal werden amerikanische Flieger verpflegt, robuste, breitschultrige Burschen. Wir gehen in der Badeanstalt schwimmen, wo wir die einzigen Kunden sind. Robert klettert mit dünnen Schenkeln auf das hohe Sprungbrett, steigt aber wieder herunter und bemerkt: "Seien wir nicht zu kühn! Ich muss jetzt wohl auf solche Sprünge verzichten. Früher bin ich ja oft in einsamen Buchten bei Tag und bei Nacht geschwommen, besonders in Wädenswil und in Biel. Aber jetzt bade ich nur noch selten. Man kann die Hygiene auch übertreiben."

    Es ist schon ein starkes Zeichen für das gigantische Fassungsvermögen des Bodensees, dass die beiden großen Walser, Robert und Martin, in einem Band mit Bodenseegeschichten vereint sind. Ungefähr so homogen wie diese Dichter stellt sich die gesamte Literatur der Gegend dar:

    Zwar lässt sich sprachlich ein langsam verschwindendes gemeinsames Seeallemannisch bestimmen, doch bleibt die Frage, ob es darüber hinaus ein entscheidend Verbindendes oder nur zufälliges Nebeneinander gibt rund um den See und in der Literatur, die an ihm entstanden ist oder sich auf ihn bezieht. Die Antwort ist verzwickt. Weil sie sich für verschiedene historische Zeiten anders ausnehmen wird. Trotzdem sei generalisiert: Es gibt keine Bodensee-Literatur, die sich in Stil, Formen, Themen, auch nicht in den Bedingungen des Schreibens oder des literarischen Lebens einheitlich präsentierte. Manche leben am See und schreiben nicht über ihn; andere schon. Manche leben nicht am See und schreiben über ihn. Wie über den See geschrieben wird, ist ganz und gar unterschiedlich. Manche schreiben mit Blick nach Wien, andere mit Blick nach Zürich, andere mit Blick nach Frankfurt, andere achten nur auf sich.

    ... stellt der Herausgeber der Anthologie, Hermann Kinder, fest. Es ist keine allzu überraschende Erkenntnis, dass Schriftsteller Eigenbrötler und ihre Werke vielgestaltig sind. Da Kinder selber einer ist, weiß er das und hat es deshalb auch nicht so gemeint. Vielmehr steckt in seinem Resümee eine gewisse Enttäuschung, die wiederum auf eine Hoffnung verweist, der Kinder einmal angehangen haben mag. Die Hoffnung nämlich, den Heimatbegriff grenzüberschreitend und völkerverbindend produktiv zu machen. Es gab zahlreiche Versuche, eine gesamtalemannische Perspektive, ein kulturelles Bodensee-Feeling, jenseits des touristischen Marketings zu konstruieren. Diese Versuche sind mehr oder weniger gescheitert - und zwar nicht etwa wegen der Sprache. - Kinder schreibt:

    Es scheint paradox: Im 19. Jahrhundert erst entstehen die Zölle, die Grenzschranken um den See - und seit dem späten 18. Jahrhundert setzt das Schwärmen von der einheitlichen Bodensee-Landschaft ein. Mit den die Grenzen markierenden Zöllen begann auch das See-Allemannische sich je nach politischer Zugehörigkeit zu unterscheiden. Das betrifft nicht nur die nationalen Zugehörigkeiten, sondern auch die, die von den dominanten Zentren gelenkt werden.

    Es ist das Schicksal jeder Grenzregion, dass dominante Zentren an ihr zerren und sie lenken. So kommt es, dass schon zehn Meter hinter dem Schweizer Schlagbaum eine stupend andere Welt beginnt: nicht nur sehen die Autokennzeichen und die Verkehrsschilder anders aus, auch die Art des Häuser- und Straßenbaus unterscheidet sich sowie das ganze lebensweltliche Inventar, vor allem aber scheinen die Menschen von einer anderen Sorte zu sein, sie sprechen zwar ein Alemannisch, das die Alemannen vom nördlichen Ufer sehr wohl verstehen (und umgekehrt), aber sie ticken anders, sie haben ein anderes Bürgergefühl und ein anderes Staatsverständnis, ihr Umgang miteinander ist anders - und all dies sind Grundelemente von Literatur, wenn sie nicht bloß von Weinreben und Obstbäumen, von Wasser und Landschaft handelt.

    An dieser Tatsache zerschellen die bodenseeischen Verbrüderungsträume, die eine zeitlang en vogue waren und in dieser Anthologie nachklingen. Sagen wir es deutlich: der halbe Bodensee gehört der Schweiz, und da die Schweizer sowieso Spezialisten für kleinräumige Verschiedenheit sind, finden sie gar nichts dabei, den deutsch-österreichischen Umarmungsgesten arglos, aber dezidiert den Rücken zuzukehren.


    Jochen Kelter und Hermann Kinder (Hg.): Bodenseegeschichten, Klöpfer und Meyer, Tübingen, 376 Seiten, 22,90 Euro.