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Ein gewaltiges Rechteck aus Stahl

In den Hamburger Deichtorhallen hat Antony Gormley, einer der wichtigsten britischen Bildhauer der Gegenwart, eine Großinstallation geschaffen. Eine Heerschar von Statikern, Sicherheitsexperten und Arbeitskräften war nötig, um das "Horizon Field" zur Baureife zu bringen. Es hat sich gelohnt.

Von Carsten Probst | 27.04.2012
    Polyurethan ist ein Kunststoff, den man eigentlich aus dem Alltag kennt. Küchenschwämme werden daraus hergestellt, aber auch Dichtungsschaum zur Wärmedämmung bei Häusern, Werkzeuggriffe, Schuhsohlen oder Kondome.

    In Hamburg erfährt der Allzweckstoff gerade seine Apotheose in der Kunstwelt, und das ganz buchstäblich. Antony Gormley, Jahrgang 1950, einer der wichtigsten britischen Bildhauer der Gegenwart, hat seine in jeder Hinsicht erhabene Großinstallation in den Hamburger Deichtorhallen mit einem speziellen Polyurethan-Harz veredelt, einer schwarzen, zähen Masse, die sich unkompliziert auf großen Flächen verteilen lässt und nach Aushärtung die Umwelt reflektiert wie Klavierlack und zudem sagenhaft stoßfest ist.

    Betritt man eine solche Fläche, hat man unweigerlich das Gefühl, der Himmel tue sich als Abgrund unter einem auf, und man beginnt zu schweben. Um diesen Effekt zu vervollkommnen, hat sich Antony Gormley noch etwas ganz Besonders einfallen lassen: Er hat diese riesige spiegelnde Flächeninstallation mit einer Kantenlänge von immerhin knapp fünfzig mal 25 Metern und einem Gewicht von über sechzig Tonnen mal eben in acht Metern Höhe freischwingend an vier Stahlseilen unter die Decke der Deichtorhallen hängen lassen - was bei einer lichten Deckenhöhe von fünfzehn Metern im Prinzip überhaupt kein Problem ist.

    Doch in der Tat ist der Aufwand gewaltig. Eine kleine Heerschar von Statikern, spezialisierten Ingenieuren, die normalerweise für Sportstadien oder beim Brückenbau tätig werden, Sicherheitsexperten und zahllose Arbeitskräfte waren vonnöten, um in monatelanger Vorarbeit das Projekt zur Baureife zu bringen. Die reinen Aufbau- und Materialkosten summieren sich auf eine Million Euro.

    Die nackten Daten deuten auf neuen alten Gigantismus. Deichtorhallen-Direktor Dirk Luckow vergleicht Gormleys "Horizon Field" stolz mit der Reichtagsverhüllung in Berlin durch Christo und Jeanne-Claude vor 17 Jahren, es sei das größte architekturbezogene Kunstprojekt in Deutschland seitdem.

    Doch schiere Größe und Masse würden kaum die raffinierte Wirkung von Gormleys Installation erzeugen. Wie sie da in der ansonsten leeren Halle zu schweben scheint, ein gewaltiges dunkles Rechteck, gehalten nur von vier kaum sichtbaren Stahlwinden, vermittelt sie schon von unten den Eindruck einer fast unheimlichen Grazilität.

    Das "Horizon Field" überlagert den Raum, lastet auf ihm wie eine finstere Wolke über einer Landschaft - zugleich aber scheint ihre minimalistisch strenge Form jede physikalische Kraft aufzuheben. Steigt man dann an den Seiten die Treppen zur glänzenden Oberfläche hinauf, spürt man ein Moment der Beklommenheit, so als könnte man unversehens durch diese Oberfläche hindurchrutschen wie durch einen Nebel.

    Barfuß oder auf Strümpfen, anders darf man die Fläche nicht betreten, glaubt man tatsächlich zu gleiten, zu schweben in den berückenden Reflexionen der Hallenfenster und der Welt draußen, verstärkt noch durch die Eigenschwingung der Plattform. Man kommt sich vor wie auf einem Ozeanriesen in mittelschwerer See.

    Antony Gormley selbst bemüht in seiner Beschreibung des Projekts manche metaphysischen Vokabeln, die alten Beschwörungen des Erhabenen. Gemeinsam mit Anish Kapoor gehört der 62-Jährige heute gewiss zu den führenden Bildhauern Großbritanniens, die gern einmal mit XXL-Formaten ihr Publikum zum staunen bringen. Doch im direkten Vergleich mit Kapoor wirkt Gormley formal viel strenger, geradezu diskret.

    Während Kapoor vorgegebene Räume gern mit seinen Riesenarbeiten sprengt, reflektiert Gormley stets genauestens auf den Charakter und das Maß seiner Umgebung.

    Sein "Horizon Field" passt sich so exakt in den Spitzbogen der historischen Deichtorhallen ein, dass es das Licht und die Konstruktion der Halle selbst betont und deren eigene Wirkung steigert. Durch dieses kongeniale Zusammenspiel wird "Horizon Field" auch zum künstlerischen Meisterwerk.