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"Ein Großteil davon braucht jahrelang psychologische Betreuung"

Der Traumaforscher Edmund Neugebauer rechnet damit, dass weniger als die Hälfte der chilenischen Bergarbeiter wieder in ihrem Beruf arbeiten kann. Viele werden nach dem Eingeschlossensein mit posttraumatischen Belastungsstörungen zu kämpfen haben, auch über Jahre hinweg.

Edmund Neugebauer im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 13.10.2010
    Tobias Armbrüster: Heute Morgen um kurz nach fünf kam die erste Eilmeldung: Der erste der eingeschlossenen 33 Bergleute in Chile war ans Tageslicht befördert worden. Seitdem läuft die Rettungsaktion scheinbar wie am Schnürchen. Nach und nach lassen sich die Männer in einer Rettungskapsel aus 700 Meter Tiefe nach oben ziehen. Was geht in diesen Männern nun genau vor und vor allem wie verkraften sie diese Wochen des Eingeschlossenseins langfristig? Darüber kann ich jetzt am Telefon sprechen mit Edmund Neugebauer. Er ist Traumaforscher an der Universität Witten-Herdecke. Schönen guten Tag, Herr Professor Neugebauer.

    Edmund Neugebauer: Guten Tag, Herr Armbrüster.

    Armbrüster: Man hört in den Stimmen, die wir da in dem Beitrag gehört haben, eine Menge Lachen auch der Bergleute. Können wir daraus schließen, dass diese Männer die vergangenen Wochen gut verkraftet haben?

    Neugebauer: Wenn man sich die Bilder anschaut, ist man erst mal erstaunt, wie gut sie das zunächst überstanden haben, und wir alle freuen uns, dass es gelungen ist, die Männer zu retten. Was langfristig passiert, ist nicht genau vorherzusagen, aber das, was wir wissenschaftlich wissen, ist, dass viele der Männer wahrscheinlich noch lange mit diesem Traumaereignis zu tun haben, und es bedarf sicher einer langfristigen, ich denke auch, bisher natürlich schon so angedachten Begleitung dieser 33 traumatisierten Menschen.

    Armbrüster: Warum ist das so? Warum hat so etwas langfristige Folgen?

    Neugebauer: Sie müssen sich vorstellen: Die Männer waren jetzt lange Zeit eingeschlossen in der Dunkelheit. Wie man den ganzen Berichten entnehmen kann, hat zwar offenbar eine gute Gruppendynamik stattgefunden, aber jeder ist ja eine individuelle Person und hat sein eigenes Verarbeiten dieses Erlebnisses natürlich noch vor sich. Eines der wesentlichen Dinge, die auf einen Großteil der Bergleute zukommen, ist, wir nennen das posttraumatische Belastungsstörungen. Da werden viele davon zu kämpfen haben. Das kennen wir auch aus anderen Untersuchungen, zum Beispiel nach Unfällen.

    Armbrüster: Ist das die Einsamkeit oder die Dunkelheit oder was ist das, was einen Menschen da so belastet?

    Neugebauer: Das ist ein traumatisches Erlebnis, was nicht so viele Menschen natürlich erleben, obwohl aus der ganzen Traumaforschung weiß man, dass ungefähr ein Drittel der Bevölkerung ein traumatisches Erlebnis bekommt, sei es entweder durch eine Vergewaltigung oder einen Verkehrsunfall oder eben eine Naturkatastrophe oder eben so eine außergewöhnliche Belastungssituation wie jetzt. Man weiß aus der Wissenschaft, dass ungefähr, sagen wir, 15 bis 25 Prozent der Patienten oder ja dann Patienten eine posttraumatische Belastungsstörung entwickeln und nur 50 Prozent davon sogenannte Spontanremissionen innerhalb eines Jahres haben. Also es bleiben dann immer noch ungefähr 15 Prozent übrig, die in eine chronische Situation kommen mit Belastungen über Jahre jetzt nach dem Eingeschlossensein in der Dunkelheit.

    Armbrüster: Wie können Psychologen diesen Bergleuten nun helfen?

    Neugebauer: Ich meine, auch wir in Deutschland sind ja konfrontiert worden mit mehreren solchen traumatischen Ereignissen - denken Sie nur an den Zugunfall in der Nähe von Hannover, oder denken Sie an den Tsunami, an die Tsunami-Katastrophe mit vielen deutschen Urlaubern etc. Was ganz häufig ja gemacht wird, ist: Es wird sofort geschrien - und das wird auch so durchgeführt - nach Psychologen, die sowohl die Opfer als auch natürlich das Begleitpersonal, das Rettungspersonal, sagen wir mal, mitbetreuen. Man weiß aber auch, dass eine ganz kurzfristige Betreuung - Debriefing nennt man das Verfahren - nicht zu langfristigen Erfolgen führt. Es gilt zunächst einfach nur, den Patienten aufzufangen und mit der Situation zu konfrontieren und ihm kurzfristig zu helfen. Aber es gibt große Analysen dazu und auch Studien dazu, die gezeigt haben, dass selbst auch ein solches Verfahren nicht nur nicht positiv, sondern sogar in der langfristigen Betrachtung negativ sein kann.

    Armbrüster: Das heißt, die brauchen wirklich jahrelang psychologische Betreuung?

    Neugebauer: Ja. Ein Großteil davon braucht jahrelang psychologische Betreuung.

    Armbrüster: Was heißt das nun alles für die Familien dieser Bergleute?

    Neugebauer: Die Familien sind in der Regel, wenn das Familienverhältnis intakt ist, ein maximal stabilisierendes Element. Das heißt also, es geht nicht nur darum, sich dann mit dem Patienten selber zu beschäftigen, sondern auch mit der Familie, weil die Familie dann damit konfrontiert ist, sozusagen zurechtzukommen mit vielleicht ganz schwierigen, sagen wir, veränderten Persönlichkeitsstrukturen, die solche, jetzt in dem Falle die Bergleute möglicherweise entwickeln. Ich kann Ihnen einfach mal so ein paar nennen, wenn Sie mögen, wie sich so was äußert, so charakteristische Symptome.

    Armbrüster: Ja, bitte!

    Neugebauer: Das eine ist zum Beispiel ein ungewolltes Wiedererleben des Traumas, wiederkehrende und immer wiederkehrende Belastungen, die jetzt an diese Situation des Eingesperrtseins über Monate erinnern. Das heißt, es kann sein, dass die möglicherweise die Dunkelheit nicht mehr aushalten, wenn sie jetzt in der normalen Umgebung zurück sind. Das heißt, die bekommen so Erinnerungsattacken, Flashbacks nennt man das, wo sie anders reagieren, als die Familie sie vorher kannte. Bestimmte Geräusche können solche Erinnerungen oder Wiedererleben auslösen.

    Eine zweite Sache ist, dass so Vermeidungsverhalten damit verbunden sein können, immer der Versuch, nicht mehr daran zu denken. Wenn man eingeschlossen war, zum Beispiel jetzt für diese Bergleute, kann es sein, dass sie enge Räume nicht mehr mögen oder dass sie nicht mehr in den Fahrstuhl steigen mögen, weil das auch wieder eine Erinnerung hervorbringen kann.

    Armbrüster: Herr Professor Neugebauer, meinen Sie, man kann diesen Männern zumuten, noch mal unter Tage zu arbeiten?

    Neugebauer: Ich hatte eben vorher gesagt, dass 50 Prozent normal vielleicht wieder werden, aber der andere Teil eben nicht. Der Punkt ist: Das muss man abhängig machen von tatsächlich dem Wollen der Patienten, ob sie damit überhaupt zurechtkommen können. Sehr häufig ist das eben überhaupt nicht der Fall.

    Es kommt auch dazu, dass jetzt eine gewisse Euphorie natürlich da ist und auch eine Übererregung, wenn sie sehen, die freuen sich, einige davon jedenfalls. Es stellt sich für sie die Frage, wie geht es denn jetzt tatsächlich weiter? Wenn der Medienrummel vorbei ist und die Aufmerksamkeit nicht mehr bei ihnen liegt, dann kehrt Normalität ein, und dann fragen die Leute sich natürlich, soll ich jetzt überhaupt so weitermachen. Auch die Frage nach dem Sinn des Lebens stellt sich für die. Und die berufliche Reeingliederung - darauf sprechen Sie ja gerade an - wird schwierig. Ich kenne das sehr gut aus der Beschäftigung mit Verkehrsunfallopfern. Die berufliche Reeingliederung gelingt nur in kleiner als 50 Prozent der Fälle. Die wollen das dann nicht mehr, weil sie die Gefahr sehen, sich genau wieder in die Situation zu begeben. Da kommt Angst und Depressionen sind damit sehr stark verbunden.

    Armbrüster: Es ist also ein Thema und eine faszinierende Rettung, die uns sicher auch hier im Deutschlandfunk noch weiter beschäftigt. - Das war Professor Edmund Neugebauer, Traumaforscher an der Universität Witten-Herdecke. Ich danke Ihnen vielmals für das Gespräch.

    Neugebauer: Sehr gerne. Vielen Dank!