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"Ein Held unserer Zeit"

Billige Klassikerausgaben - die gibt es heute überall. Jede Zeitung, die etwas auf sich hält, hat eine eigene Buchreihe, viele Titel sind schon für fünf Euro zu haben. Aber wer auf Qualität und besondere Bücher Wert legt, sollte sich lieber bei den alteingesessenen Verlagen umschauen. Eine der besten Adressen ist die Friedenauer Presse der Berliner Verlegerin Katharina Wagenbach. Seit 23 Jahren legt sie ein handwerklich auf höchstem Niveau aufgemachtes Programm vor. Genauso sorgfältig ist die editorische Gestaltung: Anmerkungen und Nachworte machen einen Klassiker überhaupt erst zu dem, was er ist. Das gilt auch für Michail Lermontovs großes Prosawerk "Ein Held unserer Zeit", die aktuelle Neuerscheinung in der Friedenauer Presse. Maike Albath über Peter Urbans neue Übersetzung von Lermontovs "Ein Held unserer Zeit", heute unser Buch der Woche.

Von Maike Albath | 29.10.2006
    23 Jahre ist Michail Lermontov alt, als er an seinem Prosawerk Ein Held unserer Zeit feilt. Er ist ein gestandener Soldat, begabter Zeichner und bekannter Lyriker, Sohn eines schottischen Offiziers, zugleich Abkömmling eines russischen Adelsgeschlechts, wegen seiner Frauengeschichten allenthalben verrufen und gerade mal wieder strafversetzt. Durch seine einflussreiche Großmutter hatte Lermontov in Moskau studiert, war dann aber sehr zum Ärger der mächtigen alten Dame ohne Abschluss auf die Gardekavallerieschule nach Petersburg gewechselt. Dort verkehrte er in den einschlägigen Salons und begann eine standesgemäße Karriere beim Leibhusarenregiment. Zeitgenössische Porträts zeigen einen hübschen jungen Mann mit weich geschnittenen Zügen, spärlichem Schnurrbart und ordentlich frisiertem Haar. Hinter seiner tadellosen Erscheinung verbirgt sich ein kämpferischer Geist. Lermontov war 1837 auf einen Schlag berühmt geworden, weil er unmittelbar nach Puškins tragischem Duelltod ein empörtes Gedicht verfasst hatte. Mit harschen Worten klagte der junge Lyriker darin die Hofschranzen an und gab der Gesellschaft Schuld am sinnlosen Ende des größten russischen Dichters. Lermontov, wie Puškin ein Angehöriger des Erbadels, benannte die intriganten und machtgierigen Züge des neureichen Petersburger Dienstadels unter Nikolaus I. Da war von "Betrug und Niedertracht" die Rede, von "Ehrabschneidern" und einem "Gewürm von Missetätern", die "als Henkerknechte" dienten. Was für eine ungeheuerliche Bestandsaufnahme! Lermontov rüttelte die Gemüter auf, und die 72 Verse wurden tausendfach abgeschrieben und landauf, landab verteilt. Natürlich bekam die Geheimpolizei Wind von der Angelegenheit. Der junge Hitzkopf wurde sofort verhaftet. Nur eine Intervention der Großmutter konnte eine Verbannung nach Sibirien abwenden. Lermontov landete beim Nižegoroder Dragonerregiment an der Front im Kaukasus. Da oft die Hälfte der Regimenter durch Krankheiten und Gemetzel mit den abtrünnigen Bergvölkern dahin gerafft wurde, war eine Versetzung Richtung Asien fast ein Todesurteil. Der aufmüpfige Lyriker, durch derartige Repressalien nicht zu verschrecken, drehte den Spieß um und nutzte den Kaukasus als Reservoir für seine Dichtung. Auch Ein Held unserer Zeit führt in die atemberaubende Landschaft der umkämpften Provinzen. Auf der ersten Seite tritt erst einmal ein Erzähler an die Rampe.

    " Ein Held unserer Zeit, meine Herrschaften, ist in der Tat ein Porträt, aber nicht das eines einzelnen Menschen: es ist ein Porträt, zusammengesetzt aus den Lastern unserer ganzen Generation, in ihrer vollen Entfaltung. Ihr wiederum werdet mir sagen, so schlecht könne ein Mensch doch nicht sein, ich aber sage Euch: wenn Ihr an die Möglichkeit der Existenz aller tragischen und romantischen Bösewichter geglaubt habt, wieso glaubt Ihr dann nicht an die Wirklichkeit eines Pecorin? Wenn ihr Euch an weit schrecklicheren und monströseren Erfindungen ergötzt habt, wieso findet dann dieser Charakter, selbst als Erfindung, bei Euch keine Gnade? Nicht etwa deshalb, weil er mehr Wahrheit enthält, als Ihr Euch gewünscht hättet?... Ihr werdet sagen, dass dadurch die Sittlichkeit nicht gewönne? Entschuldigt. Lange genug hat man die Menschen mit Süßigkeiten gefüttert; daran haben sie sich den Magen verdorben: Not tun jetzt bittere Arzeneien, beißende Wahrheiten. "

    Mit ironischer Nonchalance kündigt der Schriftsteller seinen Lesern unbequeme Erkenntnisse an. Dabei hat er sich, so sehr er das auch zurück weist, selbst zum Studienobjekt auserkoren. Sein Held Pecorin, ein unverbesserlicher Lebemann mit einer kalten Seele, teilt etliche Eigenschaften mit seinem Erfinder. Der Prozess der ungeschonten Selbstanalyse ist auf äußerst raffinierte Weise in die Erzählkonstruktion eingewoben. Bei Ein Held unserer Zeit handelt es sich nämlich um einen fünfteiligen Novellenkranz. Diese Novellen sind miteinander verknüpft und drehen sich allesamt um Pecorin, der jedoch immer wieder aus einer anderen Perspektive wahrgenommen wird. Dabei kommt es zu einer Steigerung: das Geheimnis des Protagonisten verdichtet sich, und es entspinnt sich ein reizvolles Spiel zwischen Außen- und Innenansichten. Zuerst wird uns der "Held unserer Zeit" nur über Dritte präsentiert. In der zweiten Geschichte läuft er dem Erzähler selbst über den Weg, und in den übrigen drei Geschichten, die als Tagebuchaufzeichnungen Pecorins deklariert werden, schlüpfen wir sogar in Pecorin hinein und haben direkt teil an seinen manipulativen Strategien. Lermontov springt auch zeitlich hin und her und zersplittert die Chronologie: das Pferd wird mal von hinten, mal von vorne, mal von der Seite aufgezäumt, was den Reiz der Charakterstudie noch verstärkt und das ins Wanken geratene Ich in einer Art Prisma spiegelt. In der Novelle mit dem Titel "Bela" ist der Verfasser des Vorworts und fiktive Herausgeber unser Gewährsmann. Er befindet sich im Kaukasus und begegnet auf einem unwegsamen Pfad inmitten von Eis und Schnee einem Stabshauptmann namens Maksim Maksimyc. Als die beiden wegen der Witterung eine Pause einlegen müssen, beginnt Maksimyc von einem jungen Offizier zu berichten, der auf seiner Festung stationiert war und sein Freund wurde: Grigorij Alesksandrovic Pecorin. Ein prächtiger Kerl sei das gewesen und ein hervorragender Jäger, nur ein wenig übermütig. Lermontov imitiert den Duktus der klassischen Reiseerzählung und betreibt durch seine gewiefte Konstruktion auch eine Verdoppelung der Erzählerfigur, denn jetzt hat Maksimyc die Rolle des Auskunftgebers inne. Am Feuer hingekauert mit einem Glas Tee in der Hand, beginnt der Stabshauptmann von der Tartarenprinzessin Bela zu schwärmen.

    " Und wirklich, sie war schön: hochgewachsen, zart, schwarze Augen wie eine Gemse, sie blicken einem tief in die Seele, Pecorin, oft versonnen, wandte kein Auge von ihr, und auch sie schaute oft verstohlen zu ihm herüber. Nur, nicht allein Pecorin ergötzte sich an der hübschen Prinzessin: aus einer Ecke des Zimmers schauten auf sie zwei andere Augen, reglos, feurig. Ich sah genauer hin und erkannte meinen alten Bekannten Kasbitsch. Er, wissen Sie, war weder ein uns Ergebener noch ein Feindlicher. Wir hatten ihn für vieles im Verdacht, doch konnte ihm kein Vergehen nachgewiesen werden. Manchmal brachte er uns Hammel in die Festung und verkaufte sie billig, nur ließ er nie mit sich handeln: was er verlangt, hast du zu zahlen, - und wenn du ihn erstichst, er lässt nichts nach. Man erzählte von ihm, er triebe sich am Kuban mit den Abreken herum, und um die Wahrheit zu sagen, hatte er eine echte Räubervisage: klein, dürr, breitschultrig... Und geschickt, geschickt war er wieder Teufel! "

    Schon deuten sich dramatische Verwicklungen an, und wie bei einer Abenteuergeschichte arbeitet Lermontov mit Tempoverzögerungen, kleinen Höhepunkten und veritablen Cliffhangern. Unser Reisender erfährt noch, dass Pecorin Bela mithilfe einer List entführen lässt. Die Prinzessin sträubt sich anfänglich gegen Pecorin, aber der Offizier, abgehärtet durch die verwöhnten Petersburger Damen, weiß sich bei ihr einzuschmeicheln, bis sie ihm ganz und gar verfällt, und ein jeder sein Glück gefunden zu haben scheint. Das sei aber langweilig, erlaubt sich der Zuhörer Maksimyc vorzuhalten, und sofort kommt Maksimyc auf die Ermordung von Belas Vaters zu sprechen, doch kaum wird es wieder spannend, ist der Tee ausgetrunken, sind die Pferde angespannt, und die Geschichte bricht mittendrin ab. Der Leser solle geduldig bleiben, heißt es beschwörend, schließlich könne man den Stabshauptmann nicht zum Erzählen zwingen. Es folgen eindringliche Landschaftsbeschreibungen. Immer wieder gelingen Lermontov bezwingende Bilder, von Peter Urban feinfühlig ins Deutsche übersetzt: da ist von der "goldenen Borte des ewigen Schnees" die Rede, von den Wolken als "Fetzen eines Vorhangs", von einem Flüsschen, das sich wie "ein Silberfaden" durch den dunklen Dunst dahin zieht und dem "Schuppenkleid einer Schlange" ähnele. Bei Lermontov liegen die Hügelketten nicht einfach da, sondern "blauen", und Steinmassive, an denen unser Erzähler vorbei reitet, sind zum Beispiel "Kardinalsmützen". Auf dem Weg hinab ins Teufelstal, wohin auch Maksimyc unterwegs ist, drohen Lawinen, und der Stabshauptmann hat Gelegenheit, das traurige Ende von Bela nachzutragen. In geschickten Verschachtelungen wandelt sich die Abenteuergeschichte in ein Märchen und dann wieder in eine Reiseskizze, und plötzlich befinden wir uns mitten in der zweiten Novelle. Unser Gewährsmann durchquert weitere Schluchten und Täler, bis er in einem Gasthaus absteigt, wo er zu seiner Überraschung erneut auf Maksimyc stößt. Aber dieses Mal kommt ihm keine Posse über Pecorin zu Ohren, sondern der sagenumwobene Offizier will sich höchstpersönlich ein Stelldichein geben. Eine ganze Nacht lang wartet der treue Maksimiyc vergeblich auf den angekündigten Freund. Erst am nächsten Tag bequemt sich Pecorin, dem Gasthaus einen Besuch abzustatten. Während Pecorin auf dem Hof steht, nimmt ihn unser Erzähler genau unter die Lupe und liefert ein großartiges Porträt, das filmische Qualitäten besitzt. Zuerst schildert der Betrachter den Wuchs des Mannes, das zarte Gesicht, seine Kleidung, die saubere Wäsche, seine Hände, Handschuhe und seinen Gang, und schließlich die Art, wie er sich auf einer Bank niederlässt. Mit seiner in sich zusammen sackenden Bewegung erinnere er an eine Balzacsche Kokotte, die nach einem anstrengenden Ball erschöpft in einen Flauschsessel sinkt. Die Beobachtungen gehen über in Deutungen: Pecorins widersprüchlicher Charakter schlägt sich in Physiognomie und Körperhaltung nieder. Mit seinem stählernen Blick müsse der Mann einen Schlag bei Frauen haben, wird vermutet, aber zugleich wirke er abgebrüht, verwöhnt, gleichgültig und selbstgefällig. Der Eindruck findet sich bald bestätigt. Mit wehenden Rockschößen kommt Maksimyc angerannt und will seinem alten Festungsgenossen um den Hals fallen, doch dieser wehrt ihn kühl mit der Hand ab.

    " Der Stabshauptmann erstarrte einen Augenblick, doch dann ergriff er seine Hand mit beiden Händen: er konnte noch nicht sprechen.
    - Wie ich mich freue, teurer Maksim Masimyc! Nun, wie geht es Ihnen? - sagte Pecorin.
    - Und... dir... und Ihnen? ...murmelte mit Tränen in den Augen der Alte... - Wie viele Jahre... wie viele Tage... und wo soll es hingehn?
    - Ich reise nach Persien - und weiter...
    - Doch nicht sofort?...Aber warten Sie doch, mein Lieber!... Sollen wir uns sofort wieder trennen?... So lange haben wir uns nicht gesehen...
    Es ist Zeit, Maksim Maksimiyc, - war die Antwort.
    - Mein Gott, mein Gott! wohin haben Sie es bloß so eilig?... Ich möchte Ihnen so vieles sagen... Sie so vieles fragen... Und Sie? Den Abschied genommen?.. Wie?... was haben Sie gemacht die ganze Zeit?...
    - Mich gelangweilt! - antwortete Pecorin lächelnd...
    - Und denken Sie noch an unser Leben auf der Festung? Ein prächtiges Land für die Jagd! Sie waren doch ein leidenschaftlicher Jäger.. Und Bela?
    Pecorin erbleichte kaum merklich und wandte sich ab.
    - Ja, ich erinnere mich - sagte er, und gähnte beinahe gleichzeitig gezwungen.
    Maksim Maksimyc begann ihn inständig zu bitten, noch zwei Stunden bei ihm zu bleiben. - Wir werden prächtig essen, - sprach er, - ich habe zwei Fasanen, und der Kachetiner ist hier sehr gut... versteht sich, nicht wie in Georgien, aber die beste Sorte... Und reden wollten wir... Sie werden mir von Ihrem Leben in Petersburg erzählen... Ja?...
    - Ich habe wirklich nichts zu erzählen, teurer Maksim Maksimyc... Aber leben Sie wohl, es ist Zeit...ich habe es eilig... Und danke, dass Sie mich nicht vergessen haben... - setzte er, ihn am Arm nehmend, hinzu. "

    Natürlich gibt es Vorbilder für den überheblichen Pecorin. Da wäre zum einen Puškins legendärer Jefgenij Onegin, der seiner selbst überdrüssig ist, unfähig zu wahren Gefühlen, bereits in jungen Jahren innerlich ein Greis und ohne jede Leidenschaft für seine äußere Umgebung oder andere Menschen. Pecorin sei Onegins jüngerer Bruder: so beschreibt Peter Urban in seinem klugen Nachwort die Verwandtschaft beider Figuren. Lermontovs Pecorin und Puškins Onegin begründen den Topos des überflüssigen Menschen in der russischen Literaturgeschichte: ihre Helden sind die Urzelle für Goncarovs Oblomov, Turgenevs Radin und zahlreiche Abkömmlinge, wie sie Tolstoi und Tschechow erfinden werden. Gleichzeitig verwandelt sich Lermontov als letzter Vertreter der russischen Romantik auch englische und französische Vorbilder an, allen voran natürlich Byrons Dandy aus Childe Harold's Pilgrimage mit seinem übersteigerten Individualismus, der in ganz Europa die Mode der herablassenden Haltung verbreitete. Außerdem weist Pecorin Spuren von Choderlos de Laclos ausgekochtem Intriganten Vicomte de Valmont auf. Anders als Onegin zergliedert Pecorin sein Seelenleben und geht streng mit sich ins Gericht, allerdings ohne sich auch nur einen Deut zu ändern. Vielmehr wendet er sich angeekelt ab.

    " Ob ich ein Dummkopf bin oder ein Bösewicht, ich weiß es nicht, aber sicher ist, dass ich des Mitleids würdig bin: meine Seele ist verdorben von der großen Welt, meine Vorstellungsgabe ist ruhelos, mein Herz unersättlich; alles ist mir zu wenig: an Kummer gewöhne ich mich heute ebenso leicht wie an den Genuss, und mein Leben wird leerer von Tag zu Tag; geblieben ist mir das eine Mittel: zu reisen. Sobald es nur irgend möglich ist, begebe ich mich - nur nicht nach Europa, Gott bewahre! - sondern nach Amerika, nach Arabien, nach Indien - und irgendwo unterwegs werde ich wohl schon sterben! "

    Aber vorher will er noch ein bisschen herrschen und Menschen wie Marionetten tanzen lassen. Lermontovs Entlarvung erreicht ihren Scheitelpunkt, als er seinen Helden in den Tagebuchaufzeichnungen selbst das Wort ergreifen lässt. In der vierten und längsten Novelle kommt noch einmal der Frauenvernichter Pecorin zum Zug, und neben Choderlos de Laclos Gefährlichen Liebschaften schwingt auch Denis Diderots Jacques, der Fatalist mit. Der "Held unserer Zeit" ist für die Sommerfrische in ein langweiliges Bad gereist, wo er seinem Freund Grušnickij begegnet - der Mann ist eine schlechte Kopie seiner eigenen Person, womit Lermontov das Doppelgängermotiv der Romantik ironisch abwandelt. Dieser tumbe Grušnickij verliebt sich in die reizende Prinzessin Mary, trotz ihres modischen englischen Namens eine Russin, und macht ihr nach anfänglicher Schüchternheit den Hof. Grund genug für Pecorin, ihm Sand ins Getriebe zu streuen, zumal seine ehemalige Geliebte Vera anwesend ist, die er gern ein bisschen eifersüchtig machen möchte. Er übt sich in demonstrativer Nichtbeachtung der Prinzessin und ihrer Mutter, bis diese immer begieriger werden, seine Bekanntschaft zu machen. Als er dies dann großmütig zulässt, wandelt er sich zum charmantesten Begleiter, befreit Mary aus peinlichen Situationen, tanzt mit ihr die Mazurka und sticht nebenbei den Freund aus.

    " 11. Juni
    Endlich sind sie angekommen. Ich saß am Fenster, als ich das Rattern der Kutsche hörte: mein Herz erschauderte... Was ist das nur? Bin ich etwa verliebt? Ich bin so dumm erschaffen, dass man das von mir erwarten kann.
    Ich habe bei ihnen diniert. Die Fürstin schaut mich sehr zärtlich an und weicht keinen Schritt von der Seite der Tochter... das ist schlecht! Dafür ist Vera auf die Prinzessin eifersüchtig: dieses Glück habe ich mir eingebrockt! Was tut eine Frau nicht alles, um ihre Rivalin zu kränken? Ich erinnere mich, eine hatte sich in mich verliebt, weil ich eine andere liebte. Es gibt nichts Paradoxeres als den weiblichen Verstand: Frauen sind schwer von etwas zu überzeugen, man muss sie dazu bringen, sich selbst zu überzeugen; die Ordnung der Beweise, mit denen sie ihre Vorurteile vernichten, ist sehr originell; um ihre Dialektik zu erlernen, muss man alle Schulregeln der Logik umstoßen. "

    Dieses abgefeimte Spiel beherrscht Pecorin im Schlaf, und jeder Schachzug gelingt, bis ihm die Prinzessin eine heiße Liebeserklärung macht, die Mutter ihm die Hand der Tochter anträgt und Pecorin mit tiefer innerer Befriedigung beide kalt zurück weist. Am Ende kommt es sogar noch zum Duell mit Grušnickij, bei dem der arme naive Freund dann über die Klinge springt. Lermontov, dessen literarischer Ruhm mit einem Gedicht über Puškins Duelltod begann, sollte nur ein Jahr nach der Veröffentlichung von Ein Held unserer Zeit eben dieses Ende nehmen: mit nur siebenundzwanzig Jahren wird er 1841 beim Duell tödlich getroffen. Seine Studie zynischer Intellektualität liefert ein schillerndes Psychogramm der russischen Gesellschaft und ist in einer Epoche von inhaltslosem Hedonismus wie unserer aktueller denn je. Aber warum eine Neuausgabe, wenn sogar im Taschenbuch zwei Übersetzungen des Prosawerks vorliegen, nämlich die von Johannes von Guenther von 1923 und eine zu DDR-Zeiten erschienene von Günther Stein? Bei dem Band der Friedenauer Presse handelt es sich um eine unvergleichlich gründlichere Edition. Anders als die vorliegenden Ausgaben enthält der neue Lermontov ein äußerst aufschlussreiches Nachwort von Peter Urban. Ein umfangreicher Anmerkungsapparat, eine Zeittafel zu den kaukasischen Kriegen und eine Landkarte komplettieren das Unternehmen. Aber auch die Neuübersetzung ist unbedingt ein Gewinn. Urban bleibt näher am Original, sein Lermontov ist zupackender und direkter. Er behält den mitunter abrupten Tempuswechsel des Schriftstellers bei, der einen Teil der Lebendigkeit ausmacht, und er hütet sich davor, unvollständige Sätze zu ergänzen. Im Vergleich zu von Guenther ist seine Sprache frischer und entschlackter: es wird gegessen und nicht gespeist, jemand fragt sich etwas, statt sich eine Frage vorzulegen, seine Kutsche rattert, statt das ein Wagen rasselt. Nicht ganz einsichtig ist, warum Peter Urban vor allem in der ersten Novelle immer wieder Wörter aus der Originalsprache stehen lässt. Da ist von Telega die Rede, von Kunak, Beschmet, Nagaijka, Busa und Kalym. Als Leser, der sich in diesem Kulturkreis weniger auskennt, blättert man hin und her zwischen Anmerkungen und Text, was das Versinken in der kaukasischen Welt zumindest am Anfang etwas behindert. Schließlich trinken die Helden in einer italienischen Novelle auch nicht dauernd vino , sondern meistens Wein. Vielleicht sollte auf diese Weise der Eindruck des historisch Fernen verstärkt werden? Das gelingt ihm ungleich überzeugender durch ein anderes Verfahren: bei der Entscheidung für archaischere Begriffe, für die es auch modernere gegeben hätte. Gepäckstücke heißen altmodisch "Fangeisen", und eine Kompagnie wird einmal als "Rotte" bezeichnet, was einem heutigen Leser genau wie ein fremdsprachlicher Terminus nicht geläufig sein kann, aber dennoch Assoziationen weckt und das Gespür für die Zeit schärft, in der sich die Geschichte zuträgt. Mit dieser Neuausgabe kann man sich Lermontov wunderbar erschließen. Ein Held unserer Zeit ist eine große Wiederentdeckung.

    Michail Lermontov, Ein Held unserer Zeit. Aus dem Russischen übersetzt und herausgegeben von Peter Urban. Friedenauer Presse Berlin 2006. 256 Seiten, 22, 50 Euro.