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Ein Jahr Cinema Jenin

Aus einem alten Lichtspieltheater aus den 60er-Jahren im palästinensischen Jenin hat der deutsche Filmemacher Marcus Vetter wieder ein Kino gemacht. "Dort gibt es natürlich nicht nur Terroristen", sagt er über die Stadt, die als Hochburg der Selbstmordattentäter galt - und nun Schauplatz eines Friedensprojekts ist.

Marcus Vetter im Gespräch mit Rainer Berthold Schossig | 05.08.2011
    Rainer Berthold Schossig: Die palästinensische Stadt Jenin galt jahrelang als Hochburg der Al-Aksa-Brigaden in der Westbank und als Ausbildungsort von Selbstmordattentätern. 2002 überfiel deshalb das israelische Militär Jenin und zerstörte große Teile des dortigen Flüchtlingslagers. Inzwischen hat sich die Situation in Jenin deutlich entspannt, die Armee hat sich aus der Stadt zurückgezogen und stattdessen haben Geschäfte und Cafés wieder geöffnet. Jenin gilt als Laborversuch sogar für einen zukünftigen Palästinenserstaat. Im Frühjahr 2008 kam der deutsche Regisseur Marcus Vetter nach Jenin, um dort seinen Film "Das Herz von Jenin" zu drehen, und auf den Tag genau, vor einem Jahr, am 5. August 2010, wurde das neue Cinema Jenin eröffnet. Vor der Sendung habe ich mit Marcus Vetter gesprochen. Er ist Filmemacher, wie gesagt, und Mitbegründer dieses Cinema Jenin. Ich habe ihn gefragt: Die Idee zum Cinema Jenin entstand nach Ihren Dreharbeiten dort, als Sie eher zufällig dieses verlassene Jeniner Lichtspieltheater aus den 60er-Jahren entdeckten?

    Marcus Vetter: Ja, weil ich, als ich angekommen bin, ganz andere Erwartungen hatte. Wir waren erst auf israelischer Seite, alle haben uns gewarnt, nach Jenin zu gehen, und dann habe ich plötzlich ganz andere Menschen dort kennengelernt als Terroristen. Und ich glaube, darum geht es auch, deswegen haben wir dann auch das Kino aufgebaut, und darum geht es in allen Filmen, die wir im Moment machen: Einfach zu sagen, dort gibt es natürlich nicht nur Terroristen - oder Freiheitskämpfer, wie sie andere nennen -, sondern in erster Linie gibt es dort ganz normale Menschen. Und um diesen Konflikt zu verstehen, ist das die Grundvoraussetzung.

    Schossig: Cinema Jenin, das muss ein altes Gebäude gewesen sein, stelle ich mir vor. War das schon mal Kino gewesen oder wie sind Sie auf diesen Ort gestoßen?

    Vetter: Ja, das war sogar ein Bauhausgebäude, weil die Palästinenser haben sich das Bauhaus aus Tel Aviv kopiert. Ein wunderschönes, riesengroßes Gebäude mitten in der Stadt. Das Kino wurde 1987 wie, ich glaube, über 60 Kinos in Palästina geschlossen mit der ersten Intifada. Denn nach der ersten Intifada gab es keinen Sinn mehr, ins Kino zu gehen, da hatten alle andere Sachen vor und es war ja ein kleiner Volksaufstand. Und damit haben eigentlich alle Kinos zugemacht. Und man muss sich auch diese Zeit, 1987, so vorstellen, dass die Menschen dort keine Kopftücher getragen haben, im Gegenteil, die Frauen haben Petticoats, kurze Röcke getragen, es war eine sehr offene Gesellschaft. Und mit den beiden Intifadas hat erst die Religion überhandgenommen, so wie in Jenin.

    Schossig: Es muss ja dann, als Sie dann vor einem Jahr oder auch noch davor, als Sie Ihren Film "Das Herz von Jenin" drehten, eine mittlerweile wieder andere Situation eingetreten sein. Man sagt ja in dieser Zeit, Jenin sei eigentlich ein Ort, der geradezu exemplarische Bedeutung haben könnte, weil er für eine friedliche Perspektive der Palästinenser stehe. War das auch ein Anlass für Sie, dieses Kino zu probieren, einfach?

    Vetter: Ja, als wir angefangen haben, galt Jenin noch als das Symbol für Terrorismus, weil 30 Prozent der Selbstmordattentäter alleine aus Jenin kamen. Aber, als wir anfingen, ging der Himmel ein bisschen über uns auf. Das liegt aber an Salam Fajad, der Ministerpräsident, der palästinensische, der den Kämpfern die Waffen weggenommen hat. Und dann konnten wir auch Hunderte Volontäre nach Jenin holen, die zusammen mit Palästinensern dieses Kino aufgebaut haben.

    Schossig: Manche Leute in Jenin, habe ich gelesen, befürchteten damals, dass durch Ihre doch sehr stark friedensorientierte Arbeit an diesem Kino ja so ein falsches Einverständnis - auch durch Ihre zum Teil Kooperation mit israelischen Einrichtungen -, ein falsches Bild des Konflikts entstehen könnte. Hat sich das bewahrheitet oder konnte das ausgeräumt werden?

    Vetter: Genau das war das Grundproblem. Ich meine, wir haben unser Kino auf der Entscheidung eines Mannes, eines Palästinensers aufgebaut, der die Hand gereicht hat nach Israel, indem er die Organe seines Sohnes, der getötet worden ist von israelischen Soldaten, an israelische Kinder gespendet hat. Und darauf haben wir das Kino aufgebaut. Und ich glaube, es ist wichtiger, die guten Kräfte in Israel, die an ein Palästina glauben, zu unterstützen und ihnen die Angst zu nehmen vor Palästina. Weil die israelische Besatzungsarmee ist ja nur ... Oder man könnte sagen: Sie sind auch in Palästina, weil sie Angst haben, weil sie Angst haben loszulassen. Weil in dem Moment, wo sie vielleicht loslassen würden, die Grenzen öffnen würden, sich Palästinenser rächen würden, weil sie sehr, sehr hart gegenüber den Palästinensern vorgegangen sind. Und ich denke, um diesen Circulus vitiosus zu durchbrechen, ist es, glaube ich, ganz gut, in die Richtung zu gehen, wie Ismael Khatib es gemacht hat, den ersten Schritt zu machen und auf die Israelis zuzugehen.

    Schossig: Ihr jetzt noch nicht ganz fertiger Film soll den Titel haben "Nach der Stille". Das klingt so ein wenig nach jener Stille oder dem Lärm, der eintritt nach der Stille, einer Explosion. Hat es damit etwas zu tun?

    Vetter: Ja, es gibt ja zwei Filme, die wir machen. Den einen, dass wir drei Jahre lang dieses Kino-Projekt begleitet haben, und dieser Film kommt im Januar, also im Winter in die Kinos. Aber wir als Kino haben einen Film gemacht über einen Selbstmordattentäter, der sich in Haifa in die Luft gesprengt hat. Und die Witwe eines Opfers hat sich entschieden, die Hand zurückzureichen, und ist nach Jenin gereist, um die Familie des Selbstmordattentäters zu besuchen. Und darum geht es in "Nach der Stille". Ein palästinensisches Kino hat einen Film gemacht über die andere Seite. Und das steht auch für das Cinema Jenin und da sind wir sehr, sehr stolz drauf, dass wir es geschafft haben, mit Palästinensern zusammen und mit einem palästinensischen Produzenten so einen Film zu machen.

    Schossig: Eine Kino- und Kulturinsel im Westjordanland. Das war Marcus Vetter, Filmemacher, über sein Projekt Cinema Jenin.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.