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Ein Jahr nach dem rassistischen Anschlag von Hanau
Trauer und Wut über mangelnde Aufarbeitung

Am 19. Februar 2020 wurden in Hanau neun Menschen bei einem rassistisch motivierten Attentat ermordet. Ein Jahr später fühlen sich viele Angehörige der Opfer vom Staat immer noch allein gelassen. Es fehlen viele Antworten.

Von Ludger Fittkau | 17.02.2021
Einen Tag nach der Tat in Hanau: Passanten halten in der Innenstadt mit Kerzen eine Mahnwache für die Opfer ab.
Einen Tag nach der Tat in Hanau: Passanten halten in der Innenstadt mit Kerzen eine Mahnwache für die Opfer ab (picture alliance / dpa / Peter Kneffel)
"Die Ermordeten hießen Ferhat Unvar, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Kaloyan Velkov, Vili Viorel Păun, Said Nesar Hashemi und Fatih Saraçoğlu." Bundeskanzlerin Angela Merkel erinnert vor wenigen Tagen in einer Videoansprache an die rassistischen Morde in Hanau. "Ich habe es vor einem Jahr gesagt und wiederhole es voller Überzeugung heute: Rassismus ist ein Gift, der Hass ist ein Gift".
Dieser Vergiftung des gesellschaftlichen Klimas werde man sich mit aller Kraft entgegenstellen, verspricht die Kanzlerin erneut. Doch wenige Tage vor ihrer Videoansprache wurde in einer Debatte im hessischen Landtag zum Jahrestag der Morde deutlich: In der Tatnacht am 19. Februar 2020 funktionierten offenbar einfache Dinge nicht ausreichend, die Bürgerinnen und Bürgern Sicherheit geben sollen – etwa der Notruf 110:
"Könnte Vili Viorel Păun noch leben, wenn der Notruf in der Nacht erreichbar gewesen wäre, meine Damen und Herren?", fragt in dieser Debatte die hessische SPD-Landesvorsitzende Nancy Faeser. Der Kurierfahrer Vili Viorel Păun ist 22 Jahre alt, als in Hanau-Kesselstadt sieben Kugeln auf den Wagen abgefeuert werden, in dem er am Lenkrad sitzt. Drei Projektile durchschlagen die Windschutzscheibe und treffen Vili Viorel Păun im Oberkörper und im Kopf. Er gehört damit zu den neun Menschen, die der Hanauer Tobias R. aus rassistischen Motiven am 19. Februar vergangenen Jahres ermordet, bevor er seine Mutter und sich selbst tötet. Der Täter steuerte binnen weniger Minuten in der Stadt zwei Tatorte an – zunächst die Shisha-Bar "Midnight" in der Hanauer Innenstadt.
Menschen stehen vor eine Shisha-Bar, vor der Blumen und Kerzen gelegt sind
Gedenken vor der Shisha-Bar (picture alliance/dpa | Frank Rumpenhorst)
Dort tötet er vier Personen. Anschließend fährt er in den Stadtteil Kesselstadt, wo er Menschen in der "Arena Bar", angreift – ein Lokal mit angeschlossenem Kiosk. Dort und in einem Pkw in der Nähe erschießt Tobias R. fünf weitere Menschen.

Notruf-Telefon war unzureichend besetzt

Indizien sprechen dafür, dass Vili Viorel Păun den Attentäter mit seinem Auto verfolgt hat. Während der kurzen Fahrt von der Hanauer Innenstadt in den Vorort Kesselstadt versuchte er mehrmals, die Polizei über den Notruf 110 zu erreichen – vergeblich:
"Es ist tragisch, wenn man spekulieren kann oder muss, ob Vili Viorel Păun noch am Leben sein könnte, wenn einer seiner abgesetzten Notrufe erfolgreich durchgekommen wäre und er wahrscheinlich aufgefordert worden wäre, den Attentäter nicht weiterzuverfolgen", sagt Stefan Müller, der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende im hessischen Landtag. Seine Fraktion hatte die Debatte ein Jahr nach dem Anschlag in Hanau beantragt. Erst kurz zuvor war durch journalistische Recherchen ein schon länger schwelender Verdacht bestätigt worden: Das Notruftelefon der Hanauer Polizei war in der Tatnacht nur unzureichend besetzt. Das räumt in der Debatte auch der hessische Innenminister Peter Beuth von der CDU ein:
"Es ist richtig, dass die Polizeistation in Hanau nur eine begrenzte Anzahl von Anrufen in dieser Nacht entgegennehmen konnte. Das gesamte Notrufaufkommen für die Polizeistation Hanau beträgt täglich durchschnittlich 80 Anrufe. Eine Weiterleitung von vielen gleichzeitig eintreffenden Notrufen war zum Zeitpunkt der Tat nachts technisch nicht möglich."
"Fühle mich von Politik und Ermittlungsbehörden allein gelassen"
Auch ein Jahr nach dem rassistisch motivierten Anschlag von Hanau blieben viele Fragen der Hinterbliebenen unbeantwortet, sagte Ajla Kurtović, deren Bruder Hamza bei dem Attentat getötet wurde.
Solche Notruf-Weiterleitungen sind aber in den meisten Bereichen der hessischen Polizei längst üblich. Die Angehörigen der Opfer von Hanau hatten deshalb schon deutlich früher als der Wiesbadener Landtag gefragt: Könnte Vili Viorel Păun noch leben, wenn er die Polizei erreicht hätte?
SPD-Oppositionsführerin Nancy Faeser kritisiert in der jüngsten Landtagsdebatte zu Hanau scharf, dass der Innenminister Peter Beuth sich erst so spät dazu äußert: "Es ist allein der Beharrlichkeit der Angehörigen (zu verdanken), die nämlich Strafanzeige gestellt haben, weshalb es überhaupt dazu kam, dass über die Frage der Nicht-Erreichbarkeit des Notrufes debattiert wird und überhaupt Öffentlichkeit hergestellt wird. Und das, meine Damen und Herren, wäre der Job des Innenministers gewesen und zwar seit vielen Monaten."
Hessens Innenminister wehrt sich in der Debatte gegen den Vorwurf der Opposition, er reagiere immer erst dann auf Fragen zu den Hintergründen des Attentats von Hanau, wenn der öffentliche Druck zu groß werde. Er sei bereits vor Monaten bei den Gesprächen dabei gewesen, die der hessische CDU-Ministerpräsident Volker Bouffier mit den Hinterbliebenen der Opfer von Hanau geführt habe, so Beuth:
"Ich muss Ihnen aber auch sagen, dass weder die hessische Polizei noch das hessische Innenministerium auf Grund der nach wie vor laufenden Ermittlungen umfänglich zu konkreten Fragen, die die Tatnacht betreffen, Auskunft geben darf. Die Auskunftshoheit liegt alleine bei der Staatsanwaltschaft beziehungsweise beim Generalbundesanwalt."

Alleingelassen von den Ermittlungsbehörden

Der Generalbundesanwalt hat zwar seine Ermittlungen inzwischen abgeschlossen. Doch die Ermittlungsakten werden aktuell von den Rechtsanwälten der Opferangehörigen geprüft. Erst danach soll das Verfahren offiziell abgeschlossen werden – wann genau das sein wird, ist noch offen. "Also das Leben von mir und meiner Familie hat sich innerhalb von wenigen Sekunden komplett verändert. Man hatte auf einmal … ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, wenn einem der liebste oder einer der liebsten Menschen genommen wird auf die Art und Weise, wenn man seinen Bruder auf die Art und Weise verliert. Und …"
Ajla Kurtović stockt. Die 25-Jährige ist die Schwester des am 19. Februar ermordeten Hamza. Ihr Bruder war gerade 23 Jahre alt geworden, als er in der Hanauer Innenstadt starb:
"Und wenn das Leben eigentlich komplett auf den Kopf gestellt wird, wenn auf einmal nichts mehr so ist, wie es einmal war. Und wenn auch elf Monate nach der Tat eigentlich alle Fragen unbeantwortet geblieben sind. Fragen, die ja eigentlich für die Aufarbeitung und Verarbeitung von der Trauer sehr wichtig sind. Und man fühlt sich schon ein Stück weit allein gelassen, allein gelassen von der Polizei, alleingelassen von den Ermittlungsbehörden und aber auch allein gelassen von der Politik. Weil ich ehrlich gesagt finde, dass ziemlich wenig passiert ist nach dem Anschlag von Hanau und dass die Aufarbeitung der Fragen eigentlich gar nicht stattgefunden hat."
Kampf gegen Rassismus in Hessen
Knapp ein Jahr nach den Anschlägen von Hanau sind Opfer-Angehörige besorgt. Sie fürchten, dass vom Vater des Täters eine Gefahr ausgehen könnte, denn er teile offenbar die Ideologie seines Sohns.
Das betreffe nicht nur den unzulänglichen Polizeinotruf, der nun endlich auch im hessischen Landtag diskutiert werde, so Ajla Kurtović. Für sie gibt es viele weitere unbeantwortete Fragen zur Tatnacht:
"Warum es überhaupt so weit kommen konnte? Warum der Täter von einem Tatort zum anderen Tatort fahren konnte, warum der Täter anschließend nach Hause fahren konnte? Warum es alles so lange gedauert hat, obwohl der Täter ja mit seinem Fahrzeug, mit seinem amtlichen Kennzeichen gefahren ist? Und obwohl das Kennzeichen bereits in der Stadt durchgegeben worden ist und obwohl der Täter ja eigentlich nur 300 Meter entfernt vom zweiten Tatort wohnt."
Diese Fragen stellen auch andere Mitglieder der Familie Kurtović und viele weitere Opferangehörige seit fast einem Jahr immer wieder. Beantworten könnten sie wohl am besten die hessischen Behörden. Aber von da kommt bisher nicht viel – sagt auch Andreas Jäger, der Opferbeauftragte der Stadt Hanau.
"Der Oberbürgermeister hat mit dem Polizeipräsidenten mehrfach telefoniert und auch gesprochen im persönlichen Austausch. Und es wird sehr oft auf andere Stellen verwiesen, oder es wird darauf verwiesen, dass man im Ermittlungsverfahren ist, man zu manchen Dingen nichts sagen kann und den Abschlussbericht abwarten will. Und man kommt da an der Stelle auch nicht als Oberbürgermeister der Stadt Hanau weiter. Das ist genau wie bei den Familien auch, es gibt da einfach Grenzen in den Behörden, die auch wir erreichen. Und deswegen kann man nur einfach immer wieder appellieren zu sagen: Bitte beantwortet die Fragen. Wir erwarten das auch, weil ich glaube, das ist der Staat und das Land auch den Familien einfach schuldig."

Zunehmend mehr Rechtsextremisten mit Waffenzugang

Doch nicht nur Aufklärung ist Ajla Kurtović wichtig. Es müsse auch konsequent politisch gehandelt werden. Ajla Kurtović erinnert noch einmal daran, dass die Täter sowohl in Hanau als auch im Fall Lübcke in Schützenvereinen aktiv waren. Der Hanauer Mörder Tobias R. soll zwei Pistolen in einer Waffenbesitzkarte eingetragen haben. "Ich würde mir wünschen, dass das Gesetz nicht nur als streng betitelt wird, sondern dass es tatsächlich auch in der Realität so streng ist, wie es immer gesagt wird. Das wäre mein Wunsch. Mein Hobby ist nicht das Schießen, also ich weiß nicht wie es ist, wenn man Schießen als Hobby hat, aber ich glaube nicht, dass in Deutschland irgendjemand Waffen braucht, außer die Sicherheitsbehörden und die Polizei."
Die Zahl der erlaubnispflichtigen Waffen und von Waffenzubehör in Privatbesitz hat jedoch in den letzten Jahren zugenommen. Laut Bundesinnenministerium waren im Nationalen Waffenregister Mitte 2017 insgesamt rund 5,3 Millionen Waffen oder Waffenteile gespeichert. Drei Jahre später waren es schon 200.000 mehr. Auch die Zahl der Rechtsextremisten, die Zugang zu Waffen hat, steigt laut Bundesregierung. Ende 2020 gab es bundesweit rund 1.200 tatsächliche oder mutmaßliche Rechtsextremisten mit legalen Waffen – ein Anstieg um knapp 35 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
Rechtsextreme in der Polizei - Vom Einzelfall zum Tatendrang
Rechtsextremismus in den eigenen Reihen? Deutschlands Polizeibehörden haben bei dem Thema lange abgewiegelt, doch inzwischen herrscht Tatendrang.
Der Journalist Roman Grafe hatte bereits nach dem Schulmassaker von Winnenden 2009 mit 15 Toten die Initiative "Keine Mordwaffen als Sportwaffen" gegründet. Auch damals hatte der Täter Zugang zu Sportwaffen gehabt: "In Deutschland ist es erlaubt, dass Sportschützen mit Mordwaffen schießen, sogenannten Gebrauchswaffen. Und solange Sportschützen mit solchen tödlichen Waffen schießen dürfen, werden sie damit nicht bloß auf Scheiben schießen, sondern es wird immer wieder Sportschützen geben, die sie dafür gebrauchen, wofür sie gemacht sind, zum Töten und Verletzen von Menschen."

Zuständige Behörde war nicht informiert

Die Behörden sollen künftig mehr Möglichkeiten bekommen, Informationen über psychische Erkrankungen von Menschen zu erlangen, die legal Waffen besitzen. Das wollen die Innenminister von Bund und Ländern. Entschieden werden soll darüber voraussichtlich im Juni.
Der rassistisch motivierte Täter von Hanau litt laut einem psychiatrischen Gutachten aber wohl auch an krankhaften Wahnvorstellungen. Die für seine Waffenerlaubnis zuständige Behörde in Gelnhausen bei Hanau wusste jedoch davon nichts. Das kritisiert Pieter Minnemann. Er ist einer der Überlebenden des Attentats von Hanau und Sprecher der Initiative "19. Februar Hanau", in der sich viele Angehörige der Mordopfer zusammengeschlossen haben. Pieter Minnemann erinnert auch an den Mordanschlag im benachbarten Wächtersbach wenige Monate zuvor. Dabei wurde der aus Eritea geflüchtete Bilal M. von einem rassistischen Sportschützen angegriffen:
"Bilal wurde schwer verletzt und überlebte nur knapp. Auch hier war der Täter im Schützenverein und seine Tatwaffe war legal in seinem Besitz. Sollte das die zuständige Behörde – also das Waffenamt in Gelnhausen-Linsengericht – nicht nochmal besonders aufgerüttelt haben? Wie ist es möglich, dass wenige Wochen später von der gleichen Behörde Waffenerlaubnisse ohne wirkliche Zuverlässigkeitsprüfung verlängert beziehungsweise erweitert werden, wie die des späteren Attentäters von Hanau?"
Helmut Fünfsinn, der Opferbeauftragte des Landes Hessen, unterstützt die Forderung der Hanauer Initiative, aufzuklären, warum der Täter von Hanau legal Zugang zu Waffen bekommen konnte. Der ehemalige Frankfurter Generalstaatsanwalt Fünfsinn kümmert sich seit einem Jahr um die Angehörigen der am 19. Februar in Hanau ermordeten Menschen, erklärt er am Telefon: "Am Ende ist für die Angehörigen eine Person verstorben und das ist ein unendliches Leid. Und das ist dann die Frage, ob ich es politisch verarbeite oder ob ich es für mich verarbeite."

Merkel: "Demokratische Zivilgesellschaft stärken"

Bundespolitisch verarbeitet wurde das Attentat von Hanau zunächst durch den sogenannten "Kabinettsausschuss zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus". Dieses Gremium der Bundesregierung wurde kurz nach dem Attentat in Hanau ins Leben gerufen und hat Ende letzten Jahres einen Katalog von rund 90 Einzelprojekten vorgelegt: Von mehr Stellen für Polizei, Justiz und Verfassungsschutz über neue Online-Plattformen gegen Hass und Hetze bis zu mehr politischer Bildung vor Ort in Kooperation mit NGOs reicht das Spektrum der Maßnahmen.
Edgar Franke steht am Redepult des Deutschen Bundestags.
Opferbeauftragter Edgar Franke (SPD): "Die Fragen der Hinterbliebenen sind berechtigt"  Die Bundesregierung nehme endlich die Gefahr von Rechtsextremismus ernst, sagte der Beauftragte der Bundesregierung für Opfer und Hinterbliebene terroristischer Straftaten, Edgar Franke (SPD), im Dlf. Doch im Fall Hanau sind ein Jahr nach dem Anschlag immer noch viele Fakten ungeklärt und die Hinterbliebenen fordern Antworten.

Dafür sollen in den nächsten Jahren mehr als eine Milliarde Euro zur Verfügung stehen. Das sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel vor einigen Tagen in ihrer Videoansprache: "Wir verbessern die staatlichen Strukturen zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus, so stellen wir die Sicherheitsbehörden des Bundes für diesen Kampf neu auf und stärken ihre Fähigkeiten. Wir wollen mehr Unterstützung für die Mitbürger, die Opfer rassistischer Diskriminierung werden. Wir tun mehr für Programme, die die demokratische Zivilgesellschaft stärken."
In Hanau wird sich der Bund auch an einem europaweit ausgeschriebenen Wettbewerb zu einem Kunstdenkmal für die Opfer des Anschlags vom 19. Februar 2020 beteiligen – sowie am Aufbau eines lokalen Demokratiezentrums. Das sind wichtige Projekte für eine Stadt, die wohl noch lange brauchen wird, um die Tatnacht vor einem Jahr zu verarbeiten. Der Hanauer SPD-Oberbürgermeister Claus Kaminsky:
"Es braucht einen Ort des Miteinanders, der Kommunikation, des Diskurses. Auch über Wege, wie bekämpft man denn den Extremismus? Wie setzt man sich denn für eine freiheitlich-demokratische Ordnung auch wirklich ein? Und daneben viele weitere Begegnungen mit den Opferangehörigen, all das ist erforderlich."

Viel Vertrauen verloren gegangen in Hanau

Der Bürgermeister von Hanau, Claus Kaminsky, in der Feuerwehrhalle
Der Bürgermeister von Hanau, Claus Kaminsky (Deutschlandradio / Ludger Fittkau)
Die Angehörigen fühlen sich durch das anstehende Treffen mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zum Jahrestag des Attentats respektiert. Dennoch ist viel Vertrauen verloren gegangen in Hanau. Insbesondere etliche Bürgerinnen und Bürger mit Migrationsgeschichte blicken seit einem Jahr nicht mehr unbefangen auf das lokale Gemeinwesen und die öffentlichen Institutionen. Selma Yilmaz-Ilkhan, die auch Vorsitzende des Ausländerbeirats von Hanau ist, spricht etwa vom Vertrauensverlust vor allem gegenüber der Hanauer Polizei, den auch heute noch viele Angehörige und Freunde der Opfer empfinden würden:
"Wir möchten wirklich auch Vertrauen in die Polizei haben. Wer, wenn nicht die Polizei, kann einem in einer Gefahrensituation helfen? Und ich möchte keine Jugendlichen in Hanau haben, die sagen oder behaupten: Wenn mal etwas passiert, werde ich gar nicht die Polizei anrufen, sondern werde meine Freunde anrufen. Das ist bitter, das ist schade."
Vertrauen verloren – das haben nicht nur die staatlichen Sicherheitskräfte in Hanau. Sondern seit Jahren auch die gesamte hessische Polizei. Das macht Janine Wissler deutlich. Die südhessische Linken-Politikerin und Kandidatin für den Bundesvorsitz ihrer Partei bekommt seit Längerem Morddrohungen – unterzeichnet mit dem Kürzel "NSU 2.0". Die Daten, die in den Drohmails verwendet wurden, stammen wahrscheinlich aus hessischen Polizeicomputern, das legen erste Untersuchungen der Behörden nahe. Aufgeklärt ist das bis heute nicht. Die Drohungen gegen Janine Wissler begannen etwa zeitgleich zum Hanauer Attentat vor einem Jahr:
"Und natürlich müssen wir auch die Rolle der Sicherheitsbehörden hinterfragen. Also wenn wir eben offensichtlich rechte Netzwerke innerhalb der Polizei haben, auch innerhalb der Bundeswehr, dann ist das natürlich noch einmal gefährlicher als rechte Netzwerke in der Gesellschaft, weil das Menschen sind, die an der Waffe ausgebildet sind, die Zugang zu Waffen haben, die Zugang zu sensiblen Daten haben. Und natürlich ist es notwendig, hier auch anzusetzen und diese rechten Strukturen zu bekämpfen."

Mit Bildungsarbeit gegen Rassismus

Die hessische Landesregierung hat das Personal bei Polizei und Justiz in den letzten Jahren schon deutlich aufgestockt. Und auch die Hanauer Zivilgesellschaft wird den Kampf gegen rechts zukünftig wohl sehr entschlossen führen. Auch, weil das hilft, das Trauma nach dem Anschlag zu überwinden. Selma Yilmaz-Ilkhan: "Der 19. Februar hat für mich persönlich schon viel bedeutet, weil in zwölf Minuten sind am 19. Februar neun Menschen ums Leben gekommen. Ermordet, in Hanau, in meiner Geburtsstadt."
Hinterbliebene suchen weiter nach Antworten
Ein Jahr nach dem rassistischen Terroranschlag in Hanau melden sich Angehörige und Überlebende in einem Radiofeature zu Wort.
Selma Yilmaz-Ilkhan und ihr Mann Ferdi Ilkhan haben einen türkisch-muslimischem Familienhintergrund. Beide sind Mitte dreißig, sie haben zwei kleine Kinder. Das Paar wurde nach dem Attentat Teil des städtischen Krisenstabes und sie sind gewählte Mitglieder des Hanauer Ausländerbeirates. Beide erzählen, dass sich für die Mitglieder des Ausländerbeirates persönlich und politisch viel verändert hat seit dem Attentat vor einem Jahr:
"Das ist für mich ein Tag, den ich auf keinen Fall vergessen werde." - "Das war so ein Schock. Wir haben sozusagen funktioniert. Also die ersten Tage haben wir funktioniert, wir hatten zu funktionieren."
Jetzt, Anfang 2021, sitzen die beiden Hanauer mit schwarzen Corona-Atemschutzmasken in den neu eingerichteten Räumen ihres "Instituts für Toleranz und Zivilcourage", das haben sie mit Freunden kurz nach dem Attentat als Verein gegründet, um Bildungsarbeit gegen Rassismus zu leisten. "In der ersten Nacht war es ja so, dass wir gar nicht wussten, worum es geht. Und am nächsten Morgen, nachdem das dann wirklich klar wurde, es gibt einen rechtsradikalen, rechtsextremistischen Hintergrund, dann haben wir uns erst recht verpflichtet gefühlt da als Personen, die schon seit Jahren in Hanau vernetzt sind, als Ausländerbeiratsmitglieder unseren Beitrag zu leisten."
Für das Engagement nach dem Attentat hat der Verein inzwischen den Integrationspreis des Landes Hessen bekommen – aber die ehrenamtliche Krisenintervention und auch die Arbeit im Ausländerbeirat nach dem rassistischen Anschlag haben einen Preis, sagt Selma Yilmaz-Ilkhan, die Vorsitzende des Ausländerbeirates: "Rückblickend merke ich, dass ich meine Gremiumskollegen zu sehr auch, wie soll ich sagen, unbedacht überfordert habe, weil ich auch einige Gremiumskollegen hatte, die nach einem Monat immer noch nicht so ganz diesen Schock oder diesen Dauerstress verarbeiten konnten."
Bis heute haben auch Selma Yilmaz-Ilkhan und ihr Mann Ferdi die Ereignisse vom 19. Februar 2020 nicht vollständig verarbeitet – inzwischen bekommt das Paar trauerpädagogische Hilfe. "Und ich finde, was halt auf jeden Fall wichtig ist: Ich hoffe und wünsche mir, dass es keinen 19. Februar mehr gibt, weder in Hanau noch in Deutschland noch auf der ganzen Welt, weil wir haben wirklich hautnah erlebt, was es mit einer Familie oder mit den Menschen macht. Diesen Schmerz kann man glaube ich mit keinem Satz oder Wort beschreiben."