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Ein Jahr nach Germanwings-Absturz
Angehörige wollen Schmerzensgeld einklagen

Knapp ein Jahr nach dem Absturz der Germanwings-Maschine hat sich die Konzernmutter Lufthansa noch immer nicht finanziell mit den Angehörigen der Opfer geeinigt. Die Lufthansa will jedem nahen Angehörigen 10.000 Euro "Trauerschaden", wie es im Juristendeutsch heißt, zahlen. Viel zu wenig, finden die Hinterbliebenen und wollen nun klagen.

Von Vivien Leue | 17.03.2016
    Angehörige der Opfer legen an der Absturzstelle Blumen nieder.
    Lufthansa, die Konzernmutter von Germanwings, will nicht das zahlen, was die Hinterbliebenen der Opfer als angemessen empfinden. (Alberto Estevez, dpa picture-alliance)
    "Es ist etwas zerstört worden, das in dieser Welt nicht mehr geheilt werden kann."
    Als Bundespräsident Joachim Gauck im April vergangenen Jahres bei der Trauerfeier im Kölner Dom diese Worte sprach, war die Germanwings-Katastrophe gerade erst wenige Wochen alt. Das Entsetzen darüber, dass der Co-Pilot selbst die Maschine zum Absturz brachte und dabei 149 Menschen mit sich in den Tod riss – sie war neben der Trauer das vorherrschende Gefühl.
    Ein Jahr später sind bei vielen Angehörigen weitere Gefühle hinzugekommen: Wut und Enttäuschung. Der Berliner Anwalt und Luftverkehrsrechts-Experte Elmar Giemulla, der Dutzende Familien der Absturz-Opfer vertritt, erklärt, dass Lufthansa anfangs noch sehr positive Signale aussandte:
    "Jetzt die Konfrontation und das Signal: Wir nehmen Euren Schmerz nicht richtig ernst. Ob das so gemeint ist, sei mal dahin gestellt, aber es wird von den Hinterbliebenen so empfunden. Dass das wahre Gesicht sich jetzt erst zeigt, jetzt wo es um Cent und Euro geht."
    Laut Lufthansa sind schon mehr als 11 Millionen Euro an Hinterbliebene geflossen
    Denn Lufthansa, die Konzernmutter von Germanwings, will nicht das zahlen, was die Hinterbliebenen als angemessen empfinden, erklärt auch Opfer-Anwalt Christof Wellens aus Mönchengladbach:
    "Es ist unsäglich, dass man sich so verweigert und dann auch noch sagt, man würde bereit stehen."
    Wellens und Giemulla haben deshalb Kontakt zu einer US-amerikanischen Kanzlei aufgenommen – jetzt soll der Lufthansa-Konzern vor einem US-Gericht verklagt werden. Aber worum geht es hier eigentlich genau? Soforthilfe, Schmerzensgeld, Entschädigung – laut Lufthansa sind schon mehr als 11 Millionen Euro an die Hinterbliebenen geflossen.
    Pro Opfer gab es 50.000 Euro Soforthilfe für die Hinterbliebenen, um zum Beispiel die Beerdigung zu bezahlen und die ersten Verdienstausfälle zu entschädigen. Hinzu kamen 25.000 Euro Schmerzensgeld, die eigentlich den Opfern selbst zugestanden hätten und die jetzt die Erben erhalten.
    "Wir müssen uns ja vorstellen, dass etwa zehn Minuten Todesangst in der Kabine geherrscht hat, als man erlebte, dass der Kapitän ausgeschlossen war, vor der Türe stand, mit einem metallischen Gegenstand vor die Cockpit-Tür hämmerte und das Flugzeug ständig an Höhe verlor. Also da war den Passagieren schon klar, dass sie ihrem Ende entgegen fliegen, dafür muss eine Entschädigung bereitgestellt werden."
    10.000 Euro für den Verlust eines geliebten Menschen?
    Außerdem werden materielle Schäden ausgeglichen. Dabei geht es unter anderem um Unterhaltszahlungen, zum Beispiel an Kinder, die ihre Eltern verloren haben. Daneben steht der immaterielle Schaden, der eben nicht wieder gut gemacht werden kann. Der "Trauerschaden", wie es im Juristendeutsch heißt:
    "Es gibt sehr viele, die so betroffen sind, dass man sagen muss, die verlieren Jahre ihres Lebens dadurch, dass es nur gerecht ist, dass sie wenigstens finanziell etwas dafür bekommen."
    Bekommen sie. 10.000 Euro hat die Lufthansa jedem nahen Angehörigen angeboten, also vor allem den Eltern und Geschwistern. 10.000 Euro für den Verlust eines geliebten Menschen? - Die Angehörigen empfinden das als zu wenig und sogar beleidigend.
    Allerdings: Lufthansa muss hier eigentlich gar nichts zahlen, denn das deutsche Recht sieht dieses sogenannte Angehörigen-Schmerzensgeld nicht vor, wie die Grünen-Bundestagsabgeordnete und Anwältin Katja Keul erklärt:
    "Für ihre Trauer, der Trauerschaden als solcher, dafür gibt es keine Anspruchsgrundlage im Bürgerlichen Recht."
    Deutsches Recht sieht Angehörigen-Schmerzensgeld nicht vor
    Dass sich das ändern muss, hat die Bundesregierung offenbar erkannt und schon im Koalitionsvertrag Ende 2013 angekündigt, eine entsprechende Gesetzesänderung auf den Weg zu bringen. Aber geschehen ist bisher nichts. Keul hat mit ihrer Fraktion der Grünen deshalb im Sommer vergangenen Jahres einen eigenen Antrag in den Bundestag eingebracht. Aber auch hier bewegt sich nichts.
    Warum das Bundesjustizministerium seinen Gesetzesentwurf bisher nicht vorgelegt hat, kann Keul nicht sagen. Sie spekuliert, dass die Versicherungsunternehmen vielleicht im Hintergrund Druck machen. Beweisen kann sie das nicht – aber sie gibt den Versicherungen Entwarnung:
    "Es geht ja nicht darum, wie in Amerika dann Millionenbeträge auszusprechen, sondern im Rahmen des üblichen deutschen Schmerzensgeldes in der Höhe einen Anspruch zu schaffen."
    In vielen europäischen Nachbarländern erhalten Angehörige in vergleichbaren Fällen 30.000 bis 80.000 Euro, sagt Keul. In diesem Rahmen könnten sich die deutschen Zahlungen bewegen. Auch für Opferanwalt Elmar Giemulla ist die Zeit für eine Gesetzesänderung überreif:
    "Sie macht Schluss mit dieser unseligen Tradition der Nicht-Anerkennung seelischen Schmerzes. Die Tradition, die fast deutsch zu nennen ist, dass man seelische Schmerzen nicht zu haben hat, dass man sich gefälligst zusammenzureißen hat."
    Angehörige aus europäischen Nachbarländern erhalten oft mehr Schmerzensgeld
    Im Fall der Germanwings-Katastrophe kommt noch hinzu, dass mehrere Nationalitäten betroffen sind und Lufthansa die Opfer-Familien nach jeweiligem nationalem Recht entschädigen will. Heißt: Eine spanische oder französische Familie erhält mehr für den Tod ihres Angehörigen. Aus Sicht Vieler ist das nicht gerecht. Lufthansa-Anwalt Rainer Büsken hingegen verteidigt die unterschiedlichen Entschädigungs-Summen:
    "Da es in unterschiedlichen Rechtsordnungen unterschiedliche Rechtsverständnisse gibt, aber auch unterschiedliche Sozialsysteme, die ganz andere Absicherungen vorsehen, teilweise deutlich geringere Absicherungen als in Deutschland."
    Büsken meint damit, dass zum Beispiel in den USA Hinterbliebene kaum sozial abgesichert sind. Deshalb muss hier das Schadensrecht einspringen. Und doch: Dass Lufthansa es ein Jahr nach dem Absturz noch nicht geschafft hat, sich den Angehörigen finanziell zumindest zu nähern, verärgert Viele. Als im Juli 2000 eine Concorde der Air France kurz nach dem Start verunglückte, war etwa ein Jahr später schon eine Einigung da: Die Hinterbliebenen der 113 Opfer – darunter 97 Deutsche – erhielten insgesamt etwas mehr als 170 Millionen Euro.