Dienstag, 16. April 2024

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Ein Jahr nach "Wir schaffen das"
Schüssel verteidigt Grenzöffnung

Wolfgang Schüssel hat die Grenzöffnung von Deutschland und Österreich vor einem Jahr als eine richtige Entscheidung verteidigt. Angesichts einer drohenden humanitären Katastrophe habe es keine Alternative gegeben, sagte der ehemalige österreichische Bundeskanzler im Deutschlandfunk.

Wolfgang Schüssel im Gespräch mit Christoph Heinemann | 02.09.2016
    Österreichs ehemaliger Bundeskanzler Wolfgang Schüssel (ÖVP)
    Österreichs ehemaliger Bundeskanzler Wolfgang Schüssel (ÖVP) (Imago)
    Im September 2015 sei keine andere Wahl geblieben. "In dieser Ausnahmesituatiuon ist das Dublinabkommen außer Kraft gesetzt worden", sagte Schüssel. Deutschland und Österreich hätten unheimlich viel geschafft. "Die Bevölkerung hat Unglaubliches geleistet. Niemand ist obdachlos geblieben. Die Menschen haben Wohnraum, Essen und Kleidung zur Verfügung gestellt." Das "Wir schaffen das" von Bundeskanzlerin Angela Merkel habe er als Ermutigung aufgefasst, "dass wir gemeinsam etwas schaffen sollten - in einer Ausnahmesituation, die natürlich nicht ewig weitergehen kann".
    "Grenzkontrollen vernünftig"
    Gleichwohl sei es vernünftig, das man in der Folge mit Grenzkontrollen Sicherheitsbremsen eingebaut habe, "damit die Menschen nicht den Eindruck bekommen, dass wir die Kontrolle verloren haben", sagte Schüssel. "Wir sind aber nach wie vor großzügig gegenüber denen, die legal zu uns kommen. Wir müssen aber unterscheiden zwischen denen, die aus Kriegsgebieten kommen und denen, die nur ein besseres Leben suchen", sagte Schüssel. Von den europäischen Institutionen erwarte er mehr in Bezug auf die Bekämpfung von Fluchtursachen. Wenn man den Menschen vor Ort helfen wolle, müsse mehr Geld in Hilfsprogramme fließen. Dort könnten europäische Institutionen "viel mehr leisten".
    Den Aufstieg von europaskeptischen und rechtspopulistischen Parteien wollte Schüssel nicht alleine in einen Zusammenhang mit der Flüchtlingspolitik stellen. Gerade in Österreich habe es eine Skepsis der Wähler gegenüber der Großen Koalition gegeben.

    Das Interview in voller Länge:
    Christoph Heinemann: Ein Jahr "Wir schaffen das!" Europa hat versagt, die Folgen sind spürbar. Dazu sagte der damalige österreichische Bundeskanzler Werner Faymann im Dezember bei uns im Deutschlandfunk:
    O-Ton Werner Faymann: "Ich bin zwar überzeugt davon, dass die rechten Nationalisten die falschen Lösungen haben, aber es gelingt uns proeuropäischen Kräften nicht zu beweisen, dass wir in der Flüchtlingsfrage, in der Frage der Beschäftigung in ganz Europa, dass wir die starken Lösungen auch verwirklichen können. In dieser Zeit wird die Auseinandersetzung sich zuspitzen, und da gibt es für mich nur eine Antwort, stark genug zu sein, das Gegenteil zu beweisen."
    Heinemann: Bis heute ist Europa gespalten, nur wenige Länder der Union sind bereit, Migranten aufzunehmen. Deshalb hat die Union ein Abkommen mit der Türkei geschlossen, mit einem unberechenbaren Partner.
    Vor einem Jahr spitzte sich die Lage zu. Ende August fanden Polizisten 71 Leichen in einem abgestellten Kühllaster. Das Bild des dreijährigen Syrers Aylan Kurdi ging um die Welt, der tot an einem türkischen Strand lag. In Ungarn saßen Tausende Flüchtlinge fest und am kommenden Wochenende jährt sich das Telefonat zwischen Angela Merkel und dem damaligen österreichischen Bundeskanzler Werner Faymann. Wir haben ihn gerade gehört. Beide vereinbarten, die Flüchtlinge einreisen zu lassen. Die hektischen diplomatischen Bemühungen der Nacht vom 4. Auf den 5. September lesen sich wie ein Krimi und man fragt sich: Wie kann es sein, dass Spitzenpolitiker manchmal nicht telefonisch zu erreichen sind.
    Wir haben vor dieser Sendung mit Wolfgang Schüssel gesprochen. Ich habe den ehemaligen österreichischen Bundeskanzler von der ÖVP gefragt, ob Angela Merkel und Werner Faymann vor einem Jahr richtig gehandelt haben.
    Wolfgang Schüssel: Ja, ganz eindeutig. Es gab auch keine andere Alternative. In der damaligen Situation war eine dramatische humanitäre Katastrophe ausständig, und um die zu verhindern ist in dieser Ausnahmesituation das Dublin-Abkommen für einige Zeit außer Kraft gesetzt worden. Und ich finde, dass Deutschland und Österreich auch in dieser Zeit, in diesen Monaten unglaublich viel geschafft haben. Deutschland hat über eine Million, wir haben über 130.000 Flüchtlinge aufgenommen, die Bevölkerung hat Unglaubliches geleistet, niemand ist obdachlos geblieben, es wurde Wohnung, es wurde Essen, es wurden Getränke, es wurde Kleidung zur Verfügung gestellt und Unterhalt geleistet. Und dieses "Wir schaffen das!" habe ich eigentlich als eine Anmutung, eine Aufforderung zur Ermutigung gesehen, dass wir gemeinsam so etwas schaffen sollten, in einer Ausnahmesituation, die natürlich nicht andauernd und ununterbrochen weitergehen kann.
    "Das ist keine 180-Grad-Wende"
    Heinemann: Und die Gemeinsamkeit dauerte auch nicht lange, denn die Regierung in Wien hat ja dann später dafür gesorgt, dass die Westbalkan-Route dichtgemacht wurde, und Österreich hat eine Obergrenze eingeführt. Wieso hat Bundeskanzler Faymann seinen Kurs geändert?
    Schüssel: Ich denke, dass alle letztlich auf diese enorme Herausforderung reagiert haben. Es haben die Dänen, es haben die Schweden ihre Grenzen kontrolliert, es haben die Deutschen übrigens Tageskontingente eingeführt in Absprache mit unseren Behörden, einige Hundert pro Tag, und wer darüber war, wurde sofort zurückgeschickt. Es haben die Balkan-Länder zugemacht, vor allem Mazedonien, aber auch die Ungarn, die Slowenen, die Kroaten. Wir haben begrenzt, und bitte: Deutschland kontrolliert heute noch am Walserberg und in Kufstein, und es ist vernünftig, dass man sozusagen Sicherheitsbremsen einbaut, damit der Eindruck, der ja eine Zeit lang vorgeherrscht hat und den Menschen tatsächlich Sorgen gemacht hat, dass wir die Kontrolle verloren haben, dass dieser Eindruck nicht fortgesetzt werden kann. Ich denke, dass jeder reagiert hat, und das war auch gut so.
    Heinemann: Sie sprechen von einer Bremse. War es nicht letztendlich eine Kurskorrektur oder eine 180-Grad-Wende?
    Schüssel: 180-Grad-Wende würde ich nicht sagen, denn wir sind ja nach wie vor zu denen, die legal zu uns kommen können, sich registrieren lassen - das ist eine wichtige Voraussetzung dafür -, großzügig. Sie dürfen ja nicht vergessen, dass noch immer Flüchtlinge kommen, deutlich weniger als früher, weil Gott sei Dank die Balkan-Grenze reduziert wurde und gleichzeitig das Abkommen mit der Türkei (übrigens Dank der Bundeskanzlerin) in Kraft getreten ist, so dass auch insgesamt der Flüchtlingsstrom deutlich geringer geworden ist. Aber man musste natürlich reagieren. Das ist keine 180-Grad-Wende. Es hat mehrere Asylgesetze gegeben, die Verschärfung und Beschleunigung der Verfahren gebracht haben, die Abschiebungen erleichtern, und das ist auch notwendig, eine klare Unterscheidung zu treffen zwischen denen, die aus Kriegsgebieten kommen und Asylstatus in Anspruch nehmen können, und anderen, die einfach ein besseres Leben suchen, so berechtigt und wünschenswert das ist. Das kann nicht die Lösung für alle sein.
    Heinemann: Nicht verringert hat sich der Zulauf zu Rechtspopulisten, in beiden Ländern nicht: in Deutschland nicht, in Österreich auch nicht. Ist das verwunderlich, wenn die Regierung erst Hü und dann Hott sagt?
    "Frontex hat noch immer kein ausreichendes Mandat"
    Schüssel: Ich denke, dass der Aufstieg von europaskeptischen oder rechtspopulistischen Parteien schon vorher da war. Übrigens hat Deutschland, wie Sie wissen, ja auch in der Vergangenheit bereits ähnliche Erfolge aufzuzeigen gehabt, kurzzeitig mit der NPD. Wir haben einen Aufstieg der FPÖ gehabt. Man sollte das jetzt nicht in einen unmittelbaren Zusammenhang mit der Flüchtlingssituation bringen. Richtig ist aber, dass manche Sorgen der Bevölkerung, die berechtigt sind aus meiner Sicht, von diesen Gruppierungen vielleicht schärfer artikuliert worden sind als vielleicht von den Regierungen.
    Ich würde mir übrigens, um das auch hier anzubringen, zumindest halb so viel Engagement von den europäischen Institutionen erwarten, als etwa die Bevölkerung in Deutschland, in Österreich und in anderen Ländern gezeigt hat. Wenn da härter und schneller gearbeitet worden wäre, dann hätte das vielleicht auch dazu beigetragen, den Menschen viele Sorgen zu nehmen.
    Heinemann: Wer schläft da?
    Schüssel: Es geht nicht um den Schlaf, aber es geht darum, den Schutz der Außengrenze effektiver zu machen. Frontex hat noch immer kein ausreichendes Mandat. Wenn man den Menschen vor Ort helfen will, was notwendig ist - da braucht’s mehr Geld -, dann muss man natürlich auch aus dem EU-Budget 10, 15 Milliarden für diese Zwecke, um Flüchtlinge im Libanon, in Jordanien, in der Türkei oder auch in Teilen Afrikas halten zu können und ernähren zu können, über die UNO-Programme oder bilateral, dann muss es auf diesem Gebiet mehr geben. Und da können die europäischen Institutionen viel mehr leisten.
    Heinemann: Sollte der FPÖ-Politiker Norbert Hofer nächster Bundespräsident Ihres Landes werden, würde er es dann vor allem dank der Flüchtlingspolitik der großen Wiener Koalition?
    Schüssel: Erstens ist der Bundespräsident in Österreich ein weitgehend repräsentativer Posten. Das mindert seine Bedeutung nicht, weil er natürlich eine entscheidende Bedeutung bei Regierungsbildungen haben kann und da sicherlich mit Reden und mit Auftritten einiges bewegen kann. Aber er ist nicht operativ tätig und kann daher die Politik der Regierung und das Parlament in keiner Weise beeinflussen. Und ich denke nicht, dass das mit den Flüchtlingen in einem ursächlichen Zusammenhang steht, eher, würde ich mal sagen, mit einer gewissen Skepsis der Wähler gegenüber der Großen Koalition, die nicht mehr so groß ist in Österreich, und vielleicht auch dem Bedürfnis, einmal etwas Neues zu sehen. Ich bedauere das sehr, weil bessere Kandidaten zur Verfügung gestanden wären als die beiden, die jetzt in der Stichwahl kandidieren.
    Heinemann: Ist die nächste Koalition eine zwischen ÖVP und FPÖ?
    "Wir waren hier immer eigentlich eine Mischkulanz"
    Schüssel: Das kann niemand sagen. Schauen Sie, die Wahlen sind voraussichtlich in zwei Jahren und bis dorthin können sich sehr viele Dinge ändern. Es gab Personalwechsel sowohl bei der Sozialdemokratie wie auch bei der Volkspartei vor einiger Zeit. Ich denke, dass durch Arbeit sehr viel noch gewonnen werden kann, und für Koalitionsspekulationen bin ich auch nicht der richtige Interviewpartner.
    Heinemann: Herr Schüssel, einen Unterschied gibt es in der Flüchtlingspolitik. In Deutschland brennen Unterkünfte für Migranten, in Österreich nicht. Was klappt bei Ihnen besser?
    Schüssel: Das sollte man nicht aufrechnen. Ich denke, dass wir beide aufgerufen sind, und zwar als verantwortliche Meinungsbildner - vor allem aktive Politiker müssen hier mit gutem Beispiel vorangehen -, in einer Zeit sprachlicher Enthemmung, wie das die Bundeskanzlerin unlängst in einem Interview beschrieben hat, auch mit einem guten, maßvollen, sorgfältigen Umgang mit der Sprache aufzutreten. Das ist, glaube ich, ganz, ganz wichtig. Und man sollte auch mit aller Härte denen gegenüber zeigen, dass es nicht geht, Flüchtlinge, die aus einem Kriegsgebiet kommen oder aus einer anderen Weltgegend kommen, mit derartigen Gewaltmaßnahmen entgegenzutreten. Das ist nicht unser Stil.
    Heinemann: Diese Radikalisierung der Sprache gibt es in Österreich durch die FPÖ doch schon sehr viel länger als in Deutschland, und trotzdem reagiert die Bevölkerung, was die Brände der Unterkünfte betrifft, anders.
    Schüssel: Wir Österreicher sind natürlich auch etwas anders in unserer geschichtlichen Situation. Wir waren hier immer eigentlich eine Mischkulanz. Bei uns mischt sich das Germanische mit dem Romanischen, dem Slawischen, bei uns ist noch jeder durchmarschiert. Wir haben eigentlich eine sehr gute Integrationskraft bewiesen noch aus der Zeit der Monarchie. Wir waren das erste Land, das den Islam als eine gesetzlich anerkannte Religion anerkannt hat, aber zugleich auch bestimmte Spielregeln gesetzlich verankert hat, und vielleicht gibt es daher auch eine gewisse größere Gelassenheit. Aber auf der anderen Seite finde ich, dass das Deutschland insgesamt hervorragend macht, und vor allem unter der Führung der Bundeskanzlerin und der Regierung in diesen multiplen Krisen, die wir haben - das ist die Griechenland-Krise, die britische Krise, die Russland-Ukraine-Krise, die Populismus-Krise -, da ist Deutschland als Führungskraft gefordert, respektiert, aber natürlich auch kritisiert. Das gehört dazu.
    Heinemann: Herr Schüssel, wissen Sie eigentlich, ob sich deutsche Politiker (zumindest heimlich) in Wien mal bedankt haben für die Schließung der Balkan-Route?
    Schüssel: Das ist nicht notwendig. Aber ich glaube, wir beide profitieren davon. Noch mal: Deutschland und Österreich sind Zielländer. Deutschland und Österreich profitieren davon, dass es ein Türkei-Abkommen gibt, dass die Balkan-Route mehr oder weniger stillgelegt ist. Beide wollen einen Schutz der Außengrenze über ein effektives Frontex. Beide sind hoffentlich für eine aktive Nachbarschaftspolitik und hoffentlich auch als Nettozahler dafür, dass wir mehr Geld einsetzen, um an unseren Außengrenzen Auffanglager und bessere Wirtschaftsbedingungen zu schaffen. Das ist, glaube ich, der entscheidende Punkt. Da braucht man sich nicht bedanken. Da genügt’s, wenn wir voneinander wissen und nicht getrennt durch eine gemeinsame Sprache an einem Strickende ziehen und nicht gegeneinander.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.