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Ein Jahr Präsident Obama - Wunsch trifft Wirklichkeit

Die schlechte Nachricht für seine Anhänge nach einem Jahr Obama: Er ist nicht der Überzeugungstäter, für den sie ihn hielten. Die gute Nachricht lautet aber: Obama ist ein Pragmatiker. Endlich ist wieder ein Realpolitiker ins Weiße Haus eingezogen.

Von Gabor Steingart | 31.12.2009
    Die Bürde des Amtes
    So einfühlsam hat schon lange kein amerikanischer Präsident mehr im Ausland geredet. Barack Obama beruhigt. Für eine nervös gewordene Welt bedeutet er eine Wohltat. Man ist geneigt, das einst aggressive Amerika der Reagan-Ära zu vergessen, als man sich in Washington auf den Krieg der Sterne vorbereitete. Auch das nassforsch Auftrumpfende der Regierungszeit von Dick Cheney und George W. Bush verblasst allmählich. Barack Obama hat einen neuen Ton angeschlagen. Es ist ein warmer Ton, der andere, auch Andersdenkende und Andersgläubige, einschließt. Obama sagt "wir", nicht "ich". Sein Amerika will Partner, nicht Gegner sein. Er selbst spricht von der "new era of engagement". Einer Außenpolitik also, in der man miteinander redet, sich zuhört, die anstehenden Probleme versucht, gemeinsam zu lösen. An Problemen der Kategorie "akut" herrscht bekanntlich kein Mangel: Wirtschaftskrise. Klimakatastrophe. Atomwaffen. Die Bedrohung durch den Terrorismus kommt hinzu. Und dann ist da noch die allseitige Aggressionsbereitschaft im Nahen Osten. Für seinen wohlmeinenden Denkansatz, für den Wechsel des Tons bekam Obama den Friedensnobelpreis in Oslo überreicht. Das war ein Preis für die gute Absicht. Das Preiskomitee hat es gut gemeint mit dem neuen, dem 44. Präsidenten der USA.

    Die Wirklichkeit springt deutlich ruppiger mit ihm um. Erkennbar hat der neue Mann im Weißen Haus bisher bei den vielen Bösewichtern dieser Welt keinen Kredit für seine Gutwilligkeit bekommen. Nordkorea testet die Atomwaffe. Iran baut sich eine. Die Taliban und die El-Kaida-Kämpfer morden und hassen als sei nichts gewesen. Chinesen und Russen attackieren Obama zwar nicht, aber sie halten die Hände über dem Bauch verschränkt. Man wartet ab. Wenn Gutwilligkeit eine Währung ist, dann ist sie in den internationalen Beziehungen eine weiche Währung. Sie wird gern genommen, aber man bekommt nichts dafür. Sie kann sogar zur Abwertung Amerikas führen, denn die Autorität der Großmacht leidet mit jedem Tag, an dem der Siedlungsbau in den von Israel besetzen Gebieten weitergeht und an dem Teheran weitere Nuklearanlage baut. Beides gegen den ausdrücklichen Wunsch der USA. Der Befund nach einem Jahr Obama ist mehr als niederschmetternd.

    Außenpolitisch steht der Mann mit nahezu leeren Händen da. Seine Großvision von der atomwaffenfreien Welt wird Vision bleiben. Die atomare Aufrüstung läuft auf Hochtouren, es gehört offenbar zum Prestige der Nationen, die große Bombe zu besitzen. Es geht dabei nicht nur um Nordkorea und Iran. Auch Pakistan und Indien, beide einander im tiefen Misstrauen verbunden, rüsten auf. China will da nicht abseitsstehen, weshalb Moskau sich schwer tut, mit Amerika ein neues Abrüstungsabkommen zu schließen. Das Neue ist: Die Welt rüstet nicht auf wegen eines aggressiven Amerikas. Sie rüstet auf trotz Amerika. Die guten Absichten Obamas scheinen nicht zu den Verhältnissen zu passen.

    In Afghanistan und Pakistan das gleiche böse Spiel. Auch dort wird der Obama-Ton nicht empfangen. Die Anhänger des radikalen Islam zeigen sich taub auf diesem Ohr. Die Rede von Kairo verpuffte. Die ausgestreckte Hand Obamas blieb in der Luft hängen. Und wie reagiert Obama? Er verändert sich. Er wird härter. Seine Taten passen schon längst nicht mehr zum Ton der frühen Tage. 30.000 zusätzliche Soldaten will er nach Afghanistan schicken. Das entspricht in etwa einer Verdreifachung der Truppenstärke gegenüber der Bush-Regierung. Damit ist der Afghanistankrieg nun Obamas Krieg geworden. "Unsere Soldaten werden töten und sie werden getötet", stellte er in Oslo fest. Nie zuvor klang der neue, noch junge Präsident der USA so realistisch, so nüchtern und: so desillusioniert. "Das Amt verändert einen Menschen mehr als der Mensch das Amt", hat Joschka Fischer einmal gesagt. Obama macht gerade dieselbe Erfahrung. Ursprünglich wollte er nicht nur das Amt, sondern die Welt verändern. Nun verändert die Welt ihn. Wie weit wird sie ihn treiben? Was wird sie aus ihm machen? Keiner kann das heute wissen, nicht einmal Obama selbst.

    Uncle Sam auf Droge
    Die schwerste Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit war für Obama zunächst ein Segen, auch wenn er das so nie zugeben würde. Ihr großer Vorteil lag darin, dass sie ihm zur Präsidentenwahl verhalf. Die Pleite der Investmentbank Lehmann Brothers löste nicht nur eine Kernschmelze im Finanzsystem aus, sondern sie zerstörte auch die Chancen der Republikaner, an der Macht zu bleiben. Ihr Feindbild vom starken Staat, der die Wirtschaft daran hindere, erfolgreich und damit menschheitsbeglückend zu wirken, war für einen historischen Moment erschüttert. Das war der Moment, an dem Obama die Weltbühne betrat. Der Nachteil der Krise ist allerdings auch nicht zu übersehen. Sie lastet schwer auf dem jungen, noch unerfahrenen Präsidenten. Er sieht sich einer Aufgabe gegenüber, die auch erfahrene Staatsmänner überfordern würde. Denn es geht bei dieser Krise nur scheinbar um faule Immobilienkredite, wackelige Banken und fehlende Liquidität. In Wahrheit geht es um Amerika selbst. Uncle Sam ist süchtig nach chinesischen Billigimporten. Er ist abhängig von ausländischen Geldverleihern. Er hat den Weltexportmärkten nichts zu bieten, jedenfalls nicht genug, um seinen eigenen, hohen Lebensstandard finanzieren zu können.

    Amerika muss sich ändern, sagt daher auch Paul Volcker, der ehemalige Notenbankchef der USA, der heute einem von Obama einberufenen Expertenrat, dem Economic Recovery Board, vorsteht. Bei einem Treffen war der 82-Jährige jüngst gar nicht milde gestimmt. Amerika brauche einen Kulturbruch, sagte er, brauche wieder industrielle Produktion, solle sich an Deutschland ein Vorbild nehmen. Der Exportweltmeister Deutschland verdankt seine wirtschaftliche Stabilität tatsächlich der alten Industrie, dem Maschinenbau und der Autoherstellung, die heute hochmodern arbeiten. In Deutschland sind 30 Prozent aller beschäftigten Industriearbeiter. In Amerika nur noch 15 Prozent. Der größte Teil der Unternehmensgewinne stammt in den USA von den Banken, die ihr Geld wiederum mit fragwürdigen Finanzprodukte verdienen. Volcker rät zur Zerschlagung dieser Banken. Er will sie kleiner machen und ihnen verbieten, die Gelder ihrer Kunden in komplexe Spekulationsprodukte zu investieren, die sich, wie man ja weiß, alle paar Jahre wieder in Luft auflösen. Die Amerikaner nennen das Boom-and-burst-Economy, eine Wirtschaft, die schnell wächst und zerplatzt, um wieder zu wachsen und wieder zu zerplatzen.

    Doch genau diesen Kulturbruch, die Rückkehr zur Seriosität, zum langfristigen Denken, traut sich die Regierung Obama offenbar nicht zu. Volcker ist mit seinen radikalen Vorschlägen abgeblitzt. Obama wettert zwar gegen die Bonzen der Wall Street, aber er wagt es nicht, sich ernsthaft mit ihnen anzulegen. Das Ziel seiner Wirtschaftspolitik ist in weiten Teilen die Wiederherstellung des Bekannten. Die Regierung pumpt unvorstellbare Summen in alte, ungesunde Strukturen. Die Banken werden so, wie sie sind, am Leben erhalten. Die strengeren Regeln zu ihrer Regulierung stehen in der Zeitung, aber nicht im Gesetzblatt. Die Wirtschaftsinstitute melden wieder Wachstum. Aber es ist ein Wachstum, das der Staat künstlich erzeugt. Uncle Sam halluziniert; er ist auf Droge. Und das trotz Obamas Versprechen, trotz seiner Kernbotschaft: Ich habe verstanden. The time is now, sagte er in seiner großen Grundsatzrede auf Capitol Hill. Doch davon ist der Präsident nach seinem ersten Amtsjahr weit entfernt. Das neue Amerika sieht aus wie das alte. Nur dass die private Verschuldung mittlerweile noch von der staatlichen übertroffen wird. Alle Projektionen für die kommenden zehn Jahre verheißen nichts Gutes. Amerika, einst der größte Geldgeber der Welt, ist zum größten Schuldner der Welt geworden und wird diese unrühmliche Position unter Obama weiter ausbauen. Es geht nicht nur um Amerikas Weltmarktposition. Es geht um Amerikas Selbstwertgefühl. Und um Obamas Wiederwahl geht es auch.

    Die teuflische Reform
    Diesmal hat Obama wirklich etwas investiert: Zeit, Kraft, vor allem Leidenschaft. Auch deshalb wird er wohl in Kürze seinen bisher größten Erfolg vermelden können: Die lange angekündigte Reform des Gesundheitswesens wird Wirklichkeit. Es wird zwar keine medizinische Versorgung für alle Amerikaner geben. Dieses Ziel hat Obama schnell aufgegeben. Zu schnell, sagen seine Kritiker. Aber: Es werden wohl rund 30 Millionen der bisher 47 Millionen Unversicherten erstmals in ihrem Leben eine Versicherungskarte besitzen. Immerhin. Amerika wird sozialer und menschlicher aussehen als bisher. Die Zeit ist reif dafür, die Umstände scheinen günstig. Bill Clinton, der ebenfalls einen Anlauf in Richtung Gesundheitsreform unternahm, konnte auch nicht annähernd auf eine vergleichbare Mehrheit zurückgreifen. Auch daran ist er gescheitert.

    Der Jubel über eine Obama-Reform dürfte allerdings schon bald abklingen. Denn die Mängel dieser Reform sind so groß, dass sie dem Präsidenten viele Probleme bereiten werden. Mehr noch: Das neue Gesundheitssystem könnte ihn sogar die Mehrheit bei den Präsidentschaftswahlen 2012 kosten. Denn: Die Vorteile spüren im Wesentlichen die 30 Millionen Neuversicherten. Die Nachteile aber könnten sich auf jene 85 Prozent der Amerikaner verteilen, die heute schon eine Versicherung besitzen. Die sind, sagen sie neuerdings zumindest, mehrheitlich zufrieden. Obama reagierte nachsichtig, als er von diesem Umfrageergebnis erfuhr. Er beschrieb seine Landsleute bei einem Abend im Kreise der Hauptstadtjournalisten so: "Die Leute wissen schon, dass das bisherige System ein Teufel ist. Aber es ist nun mal der Teufel, den sie kennen."

    Der Hauptmangel seiner Reform ist ihre Unehrlichkeit: Wer bezahlt am Ende die Zeche? Diese Frage blieb bisher unbeantwortet. Mit Absicht, sagen die Obama-Berater, denn sonst hätten noch mehr Menschen aufgeschrien, und das Jahrhundertwerk wäre zum Scheitern verurteilt. Doch politische Rücksichtnahmen dieser Art entwickeln oft ihr Eigenleben. Was gestern klug war, wird schon morgen als große Dummheit betrachtet. Die Wähler sind empfindlich, man kann auch sagen: mündig geworden. Sie wollen die Wahrheit wissen, zumindest eine Ahnung davon haben, in welche Richtung sich die Dinge entwickeln. Sie wollen den neuen Teufel kennenlernen. Die Amerikaner geben heute pro Kopf doppelt so viel für ihre Gesundheit aus wie die Deutschen. 7300 Dollar pro Kopf und Jahr sind es in den USA. Rund 3500 Dollar pro Kopf und Jahr sind es hierzulande. Der bisherige amerikanische Teufel ist ein teurer Teufel.

    Aber: Eine Mehrzahl der Amerikaner will nicht spürbar abspecken. Vor allem lehnt sie es ausweislich aller Umfragen ab, die Regierung darüber befinden zu lassen, was not tut und was nicht. Die Regierung hat im Weltbild vieler Amerikaner im Gesundheitswesen keine große Rolle zu spielen. "Sozialistische Medizin" nennen die Obama-Kritiker das deutsche Gesundheitssystem mit seinen staatlich kontrollierten Krankenkassen. Viele Amerikaner reklamieren für sich ein Recht auf Verschwendung. Freiheit beinhaltet für sie auch die Freiheit, unvernünftig zu sein. Der Präsident aber hat Leidenschaft investiert. Das wird sich rentieren. Damit dürfte er es in jedem Fall ins Geschichtsbuch schaffen. Unklar ist nur, ob über der entsprechenden Seite "Gewinner" oder "Verlierer" steht.

    Obama auf Erden, der Messias bleibt im Himmel
    Der Rückhalt für den Präsidenten schmilzt dahin. Der Krieg in Afghanistan ist nur ein Grund dafür. Die hartnäckige Wirtschaftskrise kommt hinzu. Und immer größer wird auch die Zahl derer, denen die ganze Richtung nicht mehr passt: Zuviel Staat, zu viele Schulden, zu viele schöne Reden, zu wenige Taten. Die Magie des Barack Obama wirkt nicht mehr. Zumindest wirkt sie nicht mehr in gleicher Intensität wie vor einem Jahr. Jeden Tag wird die Zustimmung zur Politik des Präsidenten von den Meinungsforschern neu vermessen. 70 Prozent waren am Tag seiner feierlichen Amtseinführung glücklich und zufrieden mit ihm. Diese Zustimmungsrate ist zwischenzeitlich auf unter 50 Prozent abgesackt. Seither schrillen im Weißen Haus die Alarmsirenen.

    Was einst Obamas großer Vorteil war, die bunte Mischung aus Gefolgsleuten, ist mittlerweile sein größter Nachteil. Die Obama-Koalition funktioniert nicht mehr. Eigentlich kennt Amerika ja keine Koalitionsregierung. Die eine Partei führt, die andere opponiert. So soll es sein. So steht es auch in der Verfassung. Doch um eine Regierung bilden zu können, braucht jeder amerikanische Präsident eine informelle Große Koalition unter den Wählern. Obama verdankt seinen Wahlsieg einer Wähler-Koalition, die es so bisher noch nie gab. Fast alle Schwarzen haben für ihn gestimmt. Er konnte auch jene Menschen für sich gewinnen, die aus Lateinamerika eingewandert sind. Die Jugend des Landes, vom Harvard-Absolventen bis zur Verkäuferin bei Wall Mart, kam noch hinzu. Ganze Jahrgänge votierten fast geschlossen für ihn. Und, nicht zu vergessen: Auch viele Wechselwähler ließen sich vom Obama-Fieber anstecken. Ihr Herz schlägt eher rechts, aber der gut aussehende Mann mit der Mutter aus Hawaii und dem Vater aus Kenia faszinierte sie. Sie schenkten ihm zwar nicht ihr Herz, aber doch immerhin: ihre Stimme.

    Diese historisch ungewöhnliche Versammlung aus Menschen verschiedener Hautfarben und sozialer Herkünfte ist nun in Auflösung begriffen. An allen Ecken und Enden sind Abgänge zu verzeichnen. Obama, der große Versöhner, kann es plötzlich keinem mehr recht machen. Der Prozess der Enttäuschung ist vor allem bei den treuesten der Treuen weit fortgeschritten. Viele Jugendliche wenden sich von ihrem Idol ab. Sie fühlen sich betrogen. Dass Obama im Afghanistankrieg aufrüstet, dass er das Strafgefangenenlager Guantanamo auf Kuba noch immer nicht geschlossen hat, dass er wie Bush plötzlich von den Guten und den Bösen auf der Welt redet; sie nehmen ihm das persönlich übel. In der Vorweihnachtszeit wurde wieder demonstriert – aber nicht für, sondern gegen Obama.

    So schrumpft denn die Anhängerschaft an allen Ecken der Obama-Koalition dahin. Das Obama-Fieber ist abgeklungen. Der 47-jährige Präsident wird mit neuem, nüchternem Blick betrachtet. Und plötzlich fällt auf, was schon vorher hätte auffallen können: Er ist ein Politiker, gerissen und schlau, widersprüchlich, zuweilen konfliktscheu, oft auch druckempfindlich und natürlich nicht immer prinzipientreu. "Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern", sagte einst Alt-Bundeskanzler Konrad Adenauer. "We have to shift our lines", sagen sie im Weißen Haus, was soviel bedeutet wie: Wir müssen die Grundlinien unserer Politik verändern, wenn es die Lage erfordert. Die schlechte Nachricht für seine Anhänger lautet nach einem Jahr Obama: Er ist nicht der Überzeugungstäter, für den sie ihn hielten. Die gute Nachricht aber hat sich in der schlechten versteckt: Obama ist ein Pragmatiker. Nach dem Ideologen George W. Bush ist - endlich wieder- ein Realpolitiker im Weißen Haus eingezogen. Es wird regiert im Rahmen des Möglichen. Und der Messias bleibt da, wo er hingehört: im Himmel.