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Ein janusköpfiger Roman

Catherine O'Flynns Debutroman "What was lost" ist ein gut erzählter, spannender Bericht aus der Wirklichkeit, der von Einsamkeit, Entfremdung, Leere und dem Niedergang des öffentlichen Lebens handelt.

Von Brigitte Neumann | 21.07.2009
    Ein janusköpfiger Roman ist das: Beschwingt, zart, urkomisch erzählt er einerseits aus dem alltäglichen Leben kleiner Leute in Birmingham; andererseits zeigt er uns eine dunkel dräuende Schattenseite der Gegenwart, Ansichten einer schwerbeschädigten Gesellschaft. Harmlosigkeit und Horror: Das passt in einem Krimi ja immer gut zusammen. Hier tritt als drittes stimmungsbildendes Moment noch die Heiterkeit hinzu. Die Heiterkeit der zehnjährigen Kate, die von einem Tag auf den anderen verschwindet. "Was mit Kate geschah" heißt der deutsche Titel. "What was lost" weitaus präziser der Englische. Denn es verschwindet nicht nur Kate. Jede Person des Romans trägt die Bürde eines Verlusts. Catherine O'Flynn, die mit ihrem Debutroman "What was lost" gleich den englischen First Novel Award gewonnen hat:

    "In meinem Buch geht es um mehrere Ebenen von Verlust. Aber wenn ich das so sage, hört es sich an, als sei der Roman unendlich düster. Das aber soll er ganz und gar nicht sein. Ich habe stets versucht, den Verlusten etwas Lebensbejahendes entgegenzusetzen. Zum Beispiel das Verschwinden Kates. Wenn ein Kind verschwindet, wird das allgemein als tragisch und traurig empfunden. Aber ich wollte, dass Kate ein richtiger Charakter ist, nicht nur ein Symbol der Unschuld, ein Opfer. Meiner Meinung nach macht die Tatsache, dass hier ein Kind mit Würde und Persönlichkeit verloren geht, das Verschwinden selbst weniger tragisch."

    Die 39-jährige Autorin betont im Gespräch immer wieder, dass ihr Buch leicht und humorvoll sei und überhaupt nicht düster. Dabei liegt der Reiz des Buches genau in den gegenläufigen Stimmungen, dunkel und heiter, die Catherine O'Flynn miteinander zu einer einzigartigen Geschichte kombiniert.

    Die Heldin des Romans, Kate Meaney aus Birmingham, verbringt ihre Zeit nach der Schule damit, sich unheimliche Kriminalfälle auszumahlen. Die Täter sieht sie überall: Im Bus, in den Sozialbaukasernen ihres Viertels, in der örtlichen Shopping Mall. Elternlos, von einer wenig kinderbegeisterten Großmutter aufgezogen, verfügt Kate kaum über Anhaltspunkte, wie das Gehabe der Menschen zu deuten wäre. Für sie ist die Welt verschlossen, unverständlich. Buchstäblich haltlos und überwältigt von Ahnungen der Katastrophe, nimmt sie ihren Mut zusammen und versucht sich durch ausdauernde Observation einen Reim auf die Verhältnisse zu machen. Sie gründet das Detektivbüro "Falcon-Ermittlungen". Catherine O'Flynn:

    "Ich glaube, alle oder wenigstens viele Kinder sind so. Denn als Kind bist du dir ganz sicher, dass die Welt auf keinen Fall so langweilig ist, wie sie vorgibt zu sein. Du vermutest eine Menge aufregender Dinge und hoffst, als Detektiv hinter die Fassade der Normalität zu kommen. Ich war genau so ein Kind. Immer auf der Suche nach kriminellen Machenschaften in meiner Gegend. Natürlich ist es gut, dass nicht wirklich etwas passiert ist. Aber in meiner Vorstellung, da rechnete ich immer mit dem Schlimmsten, und das war auch das Aufregendste: Überfall, Mord, Raub. Ich rechnete mit einem Leben, wie man es im Fernsehen sieht."

    Am liebsten ermittelt Kate im örtlichen Shoppingcenter Green Oaks: einem fensterlosen, rundum überwachten, gigantischen Konsummoloch, durch den ein eigener Radiosender pausenlos beschwingte Musik schickt und in dem die Menschen aufbereitete Luft atmen. Green Oaks ist für Kate der klassische Ort des Verbrechens. Sie vermutet einen baldigen Überfall auf die dortige Bank. In gespannter Erwartung der frevelhaften Tat, verbringt Kate jede freie Minute mit der Beschattung von Bankkunden und -Angestellten. Aber alles, was ihr unter die Augen kommt, sind Konsumzombies und Verrückte: Der Mann, der Orangenschalen isst, ein anderer, der mit Zierpflanzen spricht, die dünne Frau, die einen leeren Kinderwagen schiebt. Catherine O'Flynn beobachtet in ihrem Roman die Folgen des Strukturwandels, der die Industrielandschaft der 80er-Jahre in eine sogenannte Service- und Freizeitoase verwandelt. Dazu gehören auch die Auswirkungen der Globalisierung, die aus ehemaligen Fabrikarbeitern unterbezahlte Reinigungskräfte im Einkaufszentrum macht.

    "Ich wollte darüber schreiben, was ich erlebt habe, als ich in Birmingham und in den Midlands aufwuchs. Und das kam unvermeidlicherweise heraus als Kritik an den Verhältnissen, wie sie waren. Dabei wollte ich nur die Realität widerspiegeln. Es gab eine Menge Sachen, die mich motivierten, das zu schreiben. Ich wollte die Stimmung wiedergeben, die ein Shoppingcenter ausstrahlt, seine Wirkung auf die Umgebung zeigen. Das Shoppingcenter, in dem ich arbeitete, schlug im Wortsinn ein wie eine Bombe. Es war das Epizentrum eines Bebens, das sämtliche kleine Läden in den Quartieren ringsumher verwüstete. Darüber wollte ich schreiben. Und zwar nicht auf politische Weise, sondern eher wehmütig. Wehmut wegen der Zerstörung dessen, was vorher war: die ausgestorbenen Industriehöfe und Brachen, auf denen ich in meiner Kindheit spielte. Die leeren Fabriken, die halbwegs eingestürzten Fertigungshallen, die großen ungenutzten Fuhrhöfe waren meine Spielplätze. Ich liebte diese apokalyptische Landschaft und empfand eine Sehnsucht nach diesen früheren Zeiten."
    Eines Tages kommt Detektivin Kate von einer ihrer Patrouillen durchs Shoppingcenter nicht wieder nach Hause. 20 Jahre ist sie verschwunden, als ein Wachmann sie auf einem der Videomonitore gesehen haben will: Nachts, wie sie alleine durch die Gänge der leeren Mall irrt.

    Im zweiten Teil des Krimis zeichnet Catherine O'Flynn die Lebenslinien einer Reihe von Figuren nach, die mit Kates Leben in irgendeiner Verbindung stehen: Lisa, die Music-Store-Managerin, die sich in beruflicher Routine und öden Privatbeziehungen verloren hat; zwangsneurotische Security-Männer und Schnäppchenjäger; Lisas Bruder Adrian, der nicht darüber hinwegkommt, dass man ihn verdächtigt, Kate ermordet zu haben; die Klebstoffschnüffler auf dem Dach des Shoppingcenters; der Metzger, der mangels Kundschaft nur noch faule Schnitzel im Angebot hat; selbst die verwilderten Hunde, die die umliegenden Wohnviertel unsicher machen. Alle scheinen die Orientierung verloren zu haben, was ein gutes Leben bedeuten könnte, unfähig, sich aus dem tristen, grauen Sumpf zu ziehen, der ihre Tage verschlingt.

    " Wissen Sie "What was lost" ist ein Buch über Shoppingcenter. Und manche Leute nehmen es als Statement gegen den Konsumismus. Aber mir kommt es so vor, als würden diese Leute mich in einer Position sehen, von der aus ich runterschaue auf andere Menschen. Als würde ich sagen wollen: Mein Gott, sind die doof. Die verbringen ihre Zeit in Kaufhäusern, diese Idioten. Aber das tue ich nicht. Ich verbringe selbst viel Zeit in Shoppingcentern. Dies ist vielmehr ein Roman darüber, dass die meisten Menschen gar nicht wissen, was sie mit ihrem Leben anfangen sollen, mit ihrer Zeit. Oder wie wir es anstellen könnten, ein wenig Glück zu erhaschen. Einkaufen gehen ist ein Weg, auf dem wir es versuchen. Aber das ist nicht sonderlich befriedigend. Ich bin mir aber nicht sicher, ob andere Tätigkeiten wie Kunstausstellungen besuchen oder Monumente ansehen uns per se sehr viel weiter bringen."
    Pack Dein Leben an!, scheint uns dieser mitten aus der gegenwärtigen Depressionsrealität geschöpfte Roman zuzurufen. Kate, dieses von allen guten Geistern verlassene Kind, könnte ein Vorbild sein. Wach, neugierig und mutig verfolgt sie ein eigenes Ziel, hat Träume und Hoffnungen. Tapfer ignoriert sie den bohrenden Schmerz ihrer Einsamkeit. Im Kontrast zu Kate wirken die Erwachsenen um sie herum wie unter dem Staub der Jahre begrabene Schildkröten, an deren Panzerung jede Regung des Lebens abprallt.

    Catherine O'Flynn, die zehn Jahre lang als Gelegenheitsjobberin Kinotickets oder CDs verkaufte, Testkäuferin im Einkaufszentrum und Briefträgerin war, will auch nach dem großen Erfolg ihres ersten Romans einen Fuß in der Realität behalten, wie sie es ausdrückt.

    Sie hält es für verhängnisvoll, ausschließlich Schriftstellerin zu sein.
    "Was mit Kate geschah" ist ein gut erzählter, spannender Bericht aus der Wirklichkeit, der von Einsamkeit, Entfremdung, Leere und dem Niedergang des öffentlichen Lebens handelt. Beseelt vom Optimismus, dass wir immer die Möglichkeit haben, die Verhältnisse zu ändern, solange wir noch darüber lachen können.