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Ein Kompendium der Kleist-Kenntnis

Kleist erscheint in Günter Blambergers Biografie als unermüdlicher Schmied von Lebensplänen, gerade weil er weiß, wie leicht einem beim Leben die Zügel aus der Hand rutschen und die Karre kippen kann. Auf der Kippe – das ist auch ein Motto seiner Schreibexistenz.

Von Wolfgang Schneider | 20.11.2011
    Im Sommer 1801 ist Kleist wieder einmal unterwegs, mit seiner Schwester Ulrike. Nach Straßburg und Paris soll die Reise führen. Bei Butzbach aber gehen die Pferde durch, weil am Wegesrand ein Esel grässlich wiehert. In voller Fahrt stürzt die Kutsche um. Der Verkehrsunfall hätte übel ausgehen können. "Und an einem Eselsgeschrei hing ein Menschenleben? Und wenn es nun in dieser Minute geschlossen wäre, darum also hätte ich gelebt?" - so schreibt Kleist in einem Brief.
    Er kommt mit dem Schrecken davon. Sein Weltvertrauen aber hat einen weiteren Riss davongetragen. Der "absurde Beinahe-Tod in Butzbach" ist eine Schlüsselepisode in Günter Blambergers Biografie. Kleist erscheint in ihr als unermüdlicher Schmied von Lebensplänen, gerade weil er weiß, wie leicht einem beim Leben die Zügel aus der Hand rutschen und die Karre kippen kann. Auf der Kippe – das ist auch ein Motto seiner Schreibexistenz. Zeitlebens steht seinen Kontrollphantasien die immense Faszination durch Krisen und Katastrophen gegenüber.
    Kleists kurzes Leben voller Umschwünge ist ein Labyrinth, durch das immer neue Biographen einen roten Faden zu ziehen versuchen. Wie aber schreibt man über dieses Leben? Die meisten Biografien vertrauen insgeheim auf das alte Modell des Bildungsromans, mit ordentlichem zeitlichen Nacheinander und der sauberen Behauptung von Ursachen und Wirkungen. Das ist, wendet Günter Blamberger ein, deplatziert bei einem Autor, der selbst eben keine Bildungsromane schrieb, sondern katastrophische Novellen – bei einem Autor, in dessen Werk alles drängt und stürzt. Auch die Teleologie des Todes ist Blamberger suspekt:

    "Walter Benjamin hat über das Verhältnis von Todesalter und Gedächtnis einmal bemerkt: "Ein Mann, der mit fünfunddreißig Jahren gestorben ist, wird dem Eingedenken an jedem Punkte seines Lebens als Mann erscheinen, der mit fünfunddreißig Jahren stirbt." Auf Kleist, mit vierunddreißig Jahren gestorben, trifft das zu. Fast jeder Biograph schreibt seine Geschichte von ihrem monströsen Ende her. Der Selbstmord am Wannsee 1811 gilt nur als die finale Katastrophe einer Lebensgeschichte, die sich als permanente Krisengeschichte darstellt und damit als letzte Konsequenz eines Nonkonformisten, der – einer staatstragenden Familie entstammend – den Militärdienst quittiert, das Studium abbricht, die standesgemäße Verlobung mit der Generalstochter Wilhelmine von Zenge beendet, den Versuch einer Beamtenlaufbahn rasch aufgibt, erfolglos ist bei den Zeitgenossen als Dichter und gescheitert mit dem großen journalistischen Projekt der Berliner Abendblätter. Eine einzige Kette von Enttäuschungen und Versagen, die das Selbstopfer erklären soll. Dabei ist es umgekehrt: Aufgrund des rätselhaften Todes stellen die Biographen Kleists ganzes Leben im Nachhinein unter Melancholieverdacht, und seine Werke gelten ihnen somit als Dokumente des Leidens."

    Blamberger, Präsident der Kleist-Gesellschaft und gewissermaßen das Mastermind des aktuellen Kleist-Jahres, versucht die Perspektive des Todes zu vermeiden, indem er eine eher präsentische Erzähltechnik wählt und auf Höhe von Kleists Lebens- und Schreibhorizont bleibt. Gleichzeitig stellt er allerdings weiträumige und oft überraschende Zusammenhänge her zu den Tatsachen aus Historie, Wissenschaft, Gesellschaft und Literatur.
    Kleist wurde im Oktober 1777 in Frankfurt an der Oder geboren. Großer Karrieredruck lastete auf ihm. Die Familie von Kleist brachte zwischen 1640 und 1892 allein 23 preußische Generäle hervor. Dieser Adel verpflichtete. Auch das führte bei Kleist zu einem hyperaktiven Lebenslauf: Da wechselt er etwa nach Jahren als Offizier, die ihn beinahe noch als "Kindersoldat" mit blutigen Schlachten vertraut machten, hinüber zur Wissenschaft, will sich an der Waffe der Gelehrsamkeit ausbilden. Um dann wie im Zeitraffer auch schon wieder ans Ende des aufklärerischen Erkenntnis-Optimismus zu gelangen. Dass die Welt nicht so ist, wie sie der menschliche Wahrnehmungsapparat zurichtet, ist heute, in Zeiten der Hirnforschung und der evolutionären Erkenntnistheorie, eine Selbstverständlichkeit. Den Kant-Leser Kleist traf sie mit unerhörter Wucht, dergestalt, dass er gar nicht merkte, wie sehr er den ganz anders temperierten Philosophen missverstand, dessen "Kritik der reinen Vernunft" er freilich auch bloß im Vorbeigehen studierte. Kant wollte doch gerade Gewissheit schaffen im Reich der Spekulierfreude; Kleist aber wurde über Kants Gewissheitsanstrengung alles ungewiss – und es blieb nur die Wahrheit des Gefühls. Dass auch die gefährlich trügen kann, wird nirgendwo deutlicher als in den großen Fehlentscheidungs- und Missverständnisaugenblicken seiner Dramen und Novellen. Die fundamentale Täuschbarkeit des Menschen gehört zu Kleists großen Themen.

    Kleist schwankt zwischen Aufklärung und Romantik, zwischen der Suche nach Authentizität und der aristokratischen Verhaltenslehre der Verstellung. Sein Leben ist ein Tanz an der Abbruchklippe der Epoche, eine Sandwich-Existenz zwischen Bürgertum und Adel, dessen Lebensformen um 1800 brüchig wurden. Die "Wartesaal-Stimmung" unter der Regierung Friedrich Wilhelms III., dem "entscheidungsunfähigen Melancholiker auf dem Thron", war für den existenziellen Experimentator Kleist schlicht unerträglich; zum Sterben langweilig.

    "Er wollte kein "Projektemacher" werden, aber er wurde einer. Ständig wechselte er nach seiner Studentenzeit die Lebenspläne, entwarf sich als Gelehrter, Bauer und Familienvater, Beamter, Buchhändler oder Redakteur. Sein Nachruhm nur hätte ihm versichern können, dass die Schriftstellerei seine eigentliche Bestimmung war ... Er kam nur bis nach Frankreich und in die Schweiz, träumte aber davon, nach Australien auszuwandern, und entwarf im Juli 1805 mit Pfuel zusammen ein hydrostatisches Tauchboot, das zweifellos havariert wäre, wenn die beiden ihre Pläne in die Tat umgesetzt hätten, denn die Berechnungen der Druckverhältnisse in der Tiefe stimmten nicht. Ähnlich kühn und der Zeit vorausgreifend waren andere Projekte Kleists, zum Beispiel die Erfindung einer artilleristischen "Wurf- oder Bombenpost" zur raschen Nachrichtenübermittlung."

    Wo sich in der Kleist-Forschung ein Konsens herausgebildet hat, etwa über seine vermeintlich lieblos-oberlehrerhaften Erziehungsmaßnahmen gegenüber der Verlobten Wilhelmine von Zenge, geht Blamberger dazwischen. Es handele sich weder um Sadismus noch die Errichtung einer Bildungsdiktatur – sondern um pädagogische Liebesbriefe auf den Spuren von Rousseaus "Emile". Und das Geheimnis der von Spekulationen umwucherten Würzburger Reise im Jahr 1800 könnte darin bestehen, dass es gar kein Geheimnis gab – und die Reise samt begleitendem Briefwerk nur ein "Spiel mit Formen der Geheimhaltung" war. So verpufft der Forschungsaufwand eines Jahrhunderts. Die in jüngerer Zeit prominent gewordene These, dass Kleist in preußischen Diensten in Würzburger Textilfabriken Industriespionage betrieb, wird abgefertigt:

    "Dass ein staatlicher Geheimdienst einem in der Herstellung von Farben wie in der Agententätigkeit völlig unerfahrenen Exsoldaten und 'Dritt-Semester' nur aufgrund seines Namens einen Spionageauftrag vermittelt, dürfte um 1800 genauso unwahrscheinlich gewesen sein wie heute. Man findet auch selten Geheimagenten, die in den Briefen immer wieder auf den geheimen Zweck ihrer Reisen hinzuweisen pflegen."

    Hart geht Blamberger auch mit Wieland ins Gericht, der doch, anders als Goethe, Kleist nicht ablehnte, sondern ihn zum frühestmöglichen Zeitpunkt lobte. Kostproben aus dem "Guiscard"-Fragment ließen ihn schwärmen: Es sei "als ob die Geister des Aischylus, Sophokles und Shakespeare sich vereinigten, eine Tragödie zu schaffen". Maßloses Geraune, so Blamberger – und mit fatalen Folgen. Denn so wurde der junge Kleist an die "alte Wielandsche Schule" gebunden, deren Stern damals gerade stark am Sinken war:

    "Wielands Lob zwingt Kleist in die Isolation. Es verhindert, dass er die Weimarer Chancen nutzt und Kontakte zu Goethe und Schiller und zu den Dichtern seiner Generation knüpft, die seine Karriere wirklich hätten fördern können. Es ist, in dem Maße, in dem Wielands Ansehen sinkt, auch folgenlos für Kleists Rezeptionsgeschichte. Im allgemeinen Gedächtnis bleiben dagegen Goethes "Schauder und Abscheu" vor dem hypochondrischen Kleist."

    Als das "Guiscard"-Projekt stagniert und es Kleist nicht im Handumdrehen gelingt, Goethe als Dramatiker zu übertrumpfen, will er lieber Landwirt in der Schweiz sein. Als auch das scheitert, träumt er vom ruhmvollen Tod in der Schlacht. Zu diesem Zweck macht sich der spätere Verfasser von antinapoleonischen Hassgesängen im Herbst 1803 auf den Weg nach Nordfrankreich, um sich in Napoleons Invasionsarmee aufnehmen zu lassen. Tagelang marschiert er zu Fuß und ohne Pass die 230 Kilometer von Paris bis zur Kanalküste – eine lebensgefährliche Schnapsidee, denn die französische Armee hat zwar Verwendung für internationales Kanonenfutter, nicht jedoch für preußische Offiziere. Sein Glück, dass er nicht als Spion verhaftet und womöglich erschossen wird.

    Kleist schrieb nicht autobiografisch. Seine Werke sind so wenig aus dem Leben zu erklären wie sein Leben aus den Werken. Trotzdem muss sich der Biograph gründlich mit den Werken beschäftigen, die schließlich der Grund aller Kleist-Faszination sind. Auch was sich angesichts der oft dürftigen Quellenlage – noch 1809 liegt ein halbes Jahr fast völlig im Dunklen – über Kleists Leben wissen lässt, weiß man vor allem aus dessen Texten: den 500 Seiten seiner Briefe. Eine Kleist-Biografie erfordert deshalb in besonderem Maß philologische Kompetenz. Blambergers Werk-Analysen bieten viele Deutungspointen.

    "Napoleon ist der 'deus absconditus' von Kleists manchmal historischen und doch immer aktuellen, das heißt auf die zeitgenössische Realität beziehbaren Novellen, er ist es, der in der preußischen Alltagswirklichkeit die gewöhnlichen Menschen "aus dem Paradies der Gewöhnlichkeit" vertreibt, die Prozesse kontinuierlicher Identitätsbildung unterbricht. Kleist spielt im abbreviatorischen Novellenmodell nach, was in der Wirklichkeit der Fall war, und seine Novellen sind Experimente, inwieweit es gelingen kann, das Ereignishafte, das unerhörte Geschehen, wieder in eine Ordnung einzubinden ... Das war das Problem der Kriegsgeneration der Romantiker schlechthin: die Suche nach Ordnungsphantasien, die die Zufälle, die Wechselfälle des realen Lebens integrieren konnten. Die bekannteste zeitgenössische Ordnungsphantasie ist die des Bildungs- und Entwicklungsromans."

    Ein Höhepunkt ist das Kapitel über den "Findling", Kleists "schwärzeste Novelle". Vehement opponiert er hier gegen die Schemata des Bildungsidealismus und der optimistischen Anthropologie.

    Die napoleonischen Eroberungs- und Raubzüge durch Europa beendeten auch den Kosmopolitismus der Aufklärung und trieben den Nationalismus hervor: Kleist ganz vorne dabei mit der "Herrmannsschlacht", seinem umstrittensten Stück. Während des Dritten Reichs wurde es tausendfach aufgeführt – "stählerne Romantik". Blamberger liest es neu als "Handbuch des preußischen Guerilleros", in dem die Realitäten des asymmetrischen Krieges beschrieben werden. Hintergrund des operativen Geschichtsdramas war das Bemühen preußischer Strategen, den spanischen Guerillakrieg gegen Napoleon nach Deutschland zu holen. Kleists Herrmann ist kein teutscher Recke, sondern ein kalter, kontrollierter, mörderisch listiger Intellektueller, der sich auf die Theorie des Partisanen versteht und weiß, wie man auf der Klaviatur populärer Gefühle spielt. Insofern ist die "Herrmannsschlacht" weniger ein Propaganda-Stück als ein Stück über effektvolle Propaganda. Blamberger interpretiert Herrmann als Gegenfigur zu Michael Kohlhaas, der in den ersten Kapiteln der berühmten Novelle redlich und untaktisch bis zur Einfalt agiert. Bis die narzisstische Wut aus ihm herausbricht: ein zorniger Schwärmer und Fanatiker, das Psychogramm eines Fundamentalisten.

    Kleist wurde zum Idol der Moderne. An dem literarischen Extremisten entzückte sich eine Nachwelt, die mit Goethe und Schiller schon in der Schule überfüttert worden war. Schockgefrostet oder ultrahocherhitzt: mit Kleist gegen alles Wohltemperierte. Döblin, Kafka, Rilke, Wedekind, Benn – sie alle kamen gewissermaßen aus Kleists Kutsche. "Penthesilea", das Drama des Geschlechterkriegs, das erst im Zeichen von Nietzsches Philosophie des Dionysischen plausibel wurde, war ein wuchtiger Schlag ins Gesicht der Weimarer Winckelmann-Klassik.

    "Kleists Penthesilea-Schock, seine vorgebliche Enthumanisierung der Antike, ist das Zeichen einer gegenklassischen Wendung, das Zeichen eines ästhetischen Paradigmenwechsels. Um 1800 mit Befremden aufgenommen, um 1900 dagegen mit Einverständnis. Zum Bundesgenossen der Moderne wurde Kleist, weil er die zuversichtliche Ehrfurcht vor dem griechischen Olymp durch den schaudernden Blick in den Abgrund des Orkus ersetzt und die von den Idealisten verdrängte Nachtseite des antiken Menschen in schonungsloser Offenheit dargestellt hatte: im Wahnsinn der von ihren Affekten getriebenen Penthesilea."

    Als einer der ersten Autoren entdeckte Kleist die ideenspendende Kraft der Naturwissenschaften. Im "Allerneuesten Erziehungsplan" zieht er aus dem Gesetz der Polarisierung elektrischer Ladungen Analogie-Schlüsse auf das menschliche Verhalten und Nutzanwendungen für die Pädagogik. Minus erzwingt Plus, und so müsse, wer das Gute fördern wolle, eine Lasterschule gründen, die durch die Kraft abschreckender Beispiele die Schüler auf den richtigen Weg bringe.

    Kleists Psychologie der Polaritäten hat den Glauben an essenzielle Charaktereigenschaften, feste Identitäten und kontinuierliche pädagogische Entwicklungsprozesse verloren. Niemand kann sich sicher sein, dass er ist, was er ist. Es hängt vom Kontext ab, wie man aufgeladen wird. Kohlhaas kann einer der "rechtschaffensten" und "entsetzlichsten" Menschen sein – es kommt auf die Konstellation an, ebenso beim Grafen in der "Marquise von O ... ", der mal ein "Engel", mal ein "Teufel" ist, je nachdem. Oder, um eines von Kleists eher spaßigen Beispielen anzuführen: Wenn man die klügsten Leute einer Stadt in einem Raum versammelt, werden einige von ihnen "auf der Stelle dumm".

    Über die letzten Stunden vor dem Selbstmord mit Henriette Vogel im November 1811 weiß man dank der polizeilichen Aussageprotokolle genau Bescheid. Die beiden ließen sich einen Tisch ans Ufer des Kleinen Wannsees stellen (der damals noch profan "Stolper Loch" hieß) und tranken dort ihren Kaffee, nachdem sie während der Nacht einen Stapel aufgekratzter Abschiedsbriefe verfasst hatten. Nicht dass oder warum Kleist sich umbrachte, ist am Ende das Mysterium, sondern dass er es "in unaussprechlicher Heiterkeit" getan hat – man lese nur die mit der Sterbegefährtin gewechselten "Todeslitaneien", euphorische Liebesbekundungen im Angesicht des Todes: sehr schön, sehr zart und spöttisch zugleich.

    "Drei Pistolen lagen neben den Leichen ... Kleist hatte Henriette ins Herz und sich in den Mund geschossen, die Kugel drang ins Gehirn ein, das wäre tödlich gewesen. Kleist starb aber nicht an dem Stückchen Blei, er erstickte, wie die Obduktion ergab, am Schießpulver.
    Von Interesse ist eigentlich nicht mehr, warum Kleist sterben muss – weil er an seiner hartherzigen Familie leidet, am schwachen, reformunfähigen preußischen Staat, am Misserfolg als Dichter, am Geldmangel usw. –, das erscheint in der Addition nun banal. Von Interesse ist, warum Kleist so gelassen, nüchtern, vergnügt und ohne religiösen Trost sterben kann. Kleists Freitod wird uns als Ausdruck eines destruktiven Charakters begreiflich, der sich dem aller Natur eingeschriebenen Zwang zur Selbsterhaltung ein Leben lang entzieht, der Freiheit als Akt begreift, der die eigene Selbsterhaltung notwendig verletzen muss. Wobei der destruktive Akt zugleich ein schöpferischer Akt ist: Denn ohne Aufgabe jeglicher Sicherheit ist Neues im Leben nicht möglich und nicht in der Kunst."


    Die Pathologen mit den kafkaesken Namen Sternemann und Greif überführten die unerhörte Begebenheit des Doppelselbstmords sogleich ins Verständnismuster der überkommenen Humoralpathologie: disharmonische Säfte, widernatürlich vergrößerte Leber, klarer Fall: Kleist muss ein "Sanguino cholericus" in "Summo gradu" gewesen sein und habe gewiss "harte hypochondrische Anfälle oft dulden müssen".
    Immer wieder findet Günter Blamberger Formulierungen für die moderne Sprache und die gleichsam gesplitterte Syntax Kleists. Der Tempo-Stil bilde "Strudel und Stromschnellen", der Leser werde hineingerissen in den Taumel der Desorientierung. Nur selten trägt es den Biographen im Taumel der Begeisterung ein kleines bisschen aus der Kurve, etwa wenn er mutmaßt: "Kleist hätte Formel-1-Rennen geliebt. Er versteht es, von Null auf Hundert in zwei Sätzen zu beschleunigen." Da bricht die notorische, dem Elfenbeinturm-Verdacht entgegenwirkende Liebe des Philologen zum populären Sport durch, was aber ebenso verzeihlich ist wie die ein paar Mal zu oft ins Feld geführte Formel vom "Gender Trouble". Ein bisschen Tribut an den aktuellen akademischen Diskurs muss sein bei einer Arbeit, die den Stand der Forschung geltend macht.

    Blambergers "Kleist" ist ein hohes intellektuelles Vergnügen – zweifellos die beste, facettenreichste und anregendste Biografie in diesen reichlich mit Kleist-Biografien gesegneten Jahren, ein Kompendium der Kleist-Kenntnis, das sich jahrzehntelanger Beschäftigung mit einem Lieblingsautor verdankt.

    Günter Blamberger: Heinrich von Kleist. Biografie. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2011, 598 S., 24,95 Euro