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Ein konsequent nüchterner Denker

Er ist einer der großen Geheimnisvollen in der Geschichte der Weltliteratur. Äußerlich führte Fernando Pessoa über 30 Jahre lang ein unauffälliges Leben als einfacher Angestellter. Erst nach seinem Tod wurde das umfangreiche, visionäre Werk des Portugiesen entdeckt.

Von Ruth Jung | 13.06.2013
    In einer Wäschetruhe fand man den Nachlass: die sorgsam mit Bindfaden verschnürten und signierten Manuskripte des am 13. Juni 1888 in Lissabon geborenen Schriftstellers Fernando Pessoa. In der Stadt am Tejo hatte er nach außen hin ein unauffälliges Leben als kleiner Angestellter geführt. Seine in über drei Jahrzehnten entstandenen Gedichte, Romanfragmente, Essays zählen heute zu den großen Werken des 20. Jahrhunderts. Vor dem legendären Café A Brasileira im Chiado-Viertel setzte ihm seine Heimatstadt ein spätes Denkmal: Die Bronzeskulptur zeigt einen kleinen Mann mit Schnauzbart, Anzug, Fliege, spitzem Hut und runder Brille.

    "Wenn ich ihn verließ, habe ich mich nie nach ihm umgedreht: ich hatte allzu sehr Angst, er könnte verblassen, durchsichtig werden oder sich in die abendliche Luft auflösen."

    Der französische Dichter Pierre Hourcade war einer der Wenigen, der den Portugiesen persönlich kennengelernt hatte. 1905 war Pessoa aus Südafrika zurückgekehrt, wo er seine Kindheit verbracht hatte. Dort lebte die Mutter in zweiter Ehe mit dem portugiesischen Konsul; Fernandos Vater war 1893 gestorben.

    Zweisprachig aufgewachsen verfasste Pessoa erste Gedichte auf Englisch. In Lissabon schrieb er sich an der Philosophischen Fakultät ein, brach das Studium aber bald ab. Er gründete zwei Literaturzeitschriften, die allerdings nach wenigen Nummern wieder eingestellt wurden; er machte avantgardistische Strömungen der europäischen Literatur in seinem Heimatland bekannt, übertrug Shakespeare und Edgar Allen Poe ins Portugiesische. Eine brotlose Kunst in Lissabon. In einem Handelsbüro fand Pessoa schließlich eine Anstellung, übersetzte Frachtbriefe und wohnte in einem möblierten Zimmer am Tejo.

    "Abermals seh ich dich wieder,
    du Stadt meiner schrecklich verlorenen Kindheit …
    Heitere, traurige Stadt, abermals träume ich hier …
    Ich? Aber bin ich derselbe, der hier gelebt hat, der hierher zurückkam,
    von neuem zurückkam und wieder von neuem?
    Oder sind wir sämtliche Ichs, die hier waren,
    eine Anzahl von Perlen, verbunden durch einen Gedächtnisfaden,
    eine Reihe von Träumen eines Außer-Ichs über
    mich?"


    Die Frage nach dem Ich, das Spiel mit Identitäten durchzieht das Werk. Bitterböse Ironie, tiefe Melancholie und Sinn für das Absurde kennzeichnen sein Schreiben. Portugal ist in jenen Jahren ein zerrissenes Land. 1910 wurde die Monarchie gestürzt, die Erste Republik ausgerufen, eine Regierung folgte auf die nächste, bis 1926 ein Militärputsch die Republik niederschlug und dem späteren Diktator Antonio de Oliveira Salazar den Weg an die Macht bahnte.

    "Pessoas Dichtung ist die komplexste, schmerzvollste und tragischste, gleichzeitig aber auch die luzideste und unbarmherzigste Analyse, die ein Mensch des 20. Jahrhunderts anstellen kann."

    So resümiert der italienische Pessoa-Kenner Antonio Tabucchi.

    "Ein gequälter Mensch, der sich über alles, nicht zuletzt über sich selbst lustig macht und der mit seiner Wahrhaftigkeit und seiner Boshaftigkeit, seiner auf die Spitze getriebenen Lust am Paradox (…) eines der revolutionärsten dichterischen Werke des 20. Jahrhunderts schafft."

    Pessoa war keineswegs ein Revolutionär, er sympathisierte mit nationalistischen
    und monarchistischen Ideen. Am meisten, so Tabucchi, fürchtete er tröstliche Theorien und Utopien. Ein konsequent nüchterner Denker in einem vergessenen kleinen Land am Rande Europas, nahm Fernando Pessoa jene Fragen vorweg, die zu den großen Themen der Literatur des 20. Jahrhunderts werden sollten. In einem originellen Kunstgriff erschuf er verschiedene Autoren, die er "Heteronyme"nannte und in deren Namen er literarische Werke verfasste. Mit diesen seinen Geschöpfen kommunizierte er, führte sogar Streitgespräche und schrieb Kritiken. Eines seiner bekanntesten Heteronyme ist Bernardo Soares, "Hilfsbuchhalter aus Lissabon", den er das Romanfragment "Das Buch der Unruhe" schreiben ließ - erst 1982 wurde es entdeckt. Zu Lebzeiten Pessoas war nur ein einziger Gedichtband erschienen, ein Jahr vor seinem Tod: Mensagem - Botschaft.

    "Der Poet verstellt sich, täuscht
    So vollkommen, so gewagt,
    daß er selbst den Schmerz vortäuscht,
    der ihn wirklich plagt."


    Fernando Pessoa starb, erst 47 Jahre alt, am 30. November 1935 in einem Lissaboner Krankenhaus.