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Ein Konventionen sprengendes Religionsverständnis

Der Dichter Maulana Djalaludin Rumi war mehr als nur ein Verfasser von Versen. Vor allem war er Mystiker, Gottsucher, Ekstatiker. Als Begründer des Mevlevi-Ordens im türkischen Konya, dem die berühmten Tanzenden Darwische entstammen, wird er in seiner Heimat bis heute wie ein Heiliger verehrt.

Von Stefan Weidner | 27.09.2007
    "Höre auf die Geschichte der Rohrflöte, wie sie sich über die Trennung beklagt:
    Seit ich aus dem Schilf geschnitten wurde, hat meine Klage Mann und Frau zum Weinen gebracht
    Ich suche nach einer von der Trennung zerrissenen Brust, der ich meinen Sehnsuchtsschmerz enthüllen kann
    Jeder, der weit von seinem Ursprung entfernt ist, sehnt sich danach, wieder mit ihm vereint zu sein."

    Kann man diese Verse als bekannt voraussetzen, die eines der berühmtesten mystischen Lehrgedichte der Weltliteratur einleiten, das Masnawi? Sein Autor ist heute berühmter als je. Denn selten dürfen wir den 800. Geburtstag eines Dichters feiern, der auch jenseits akademischer Kreise oder einer kleinen Bildungselite gelesen wird. Im Fall des, laut Überlieferung am 30.9.1207 in Balkh, heute ein Vorort von Mazar-e Sharif in Afghanistan, geborenen Maulana Djalaludin Rumi, wagen wir die Behauptung, dass es überhaupt keinen Dichter seines Alters gibt, der eine vergleichbare Verbreitung genießt: im Westen, ebenso wie im Orient, in der Übersetzung, wie im persischen Original, unter Literaturfreunden, ebenso wie bei Lesern, die sonst kaum je Gedichte zur Hand nehmen. Wenn man seine Popularität in spirituell orientierten Subkulturen mitbedenkt, ist er nicht nur, wie es in den USA heißt, "the most read poet in America today", sondern vielleicht der meistgelesene Dichter überhaupt.

    Um die atemberaubende Renaissance dieses bis Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts im Westen allein Fachleuten bekannten Autors nachzuvollziehen, muss man sich klarmachen, dass Rumi mehr als nur ein Verfasser von Versen gewesen ist. Vor allem war er Mystiker, Gottsucher, Ekstatiker. Seine eingängige, leichtverständliche Dichtung spricht nicht nur Literaturfreunde an, sondern Sinnsucher jeglicher Provenienz. Als Begründer des Mevlevi-Ordens im türkischen Konya, dem die berühmten Tanzenden Darwische entstammen, wird er in seiner Heimat bis heute wie ein Heiliger verehrt. Schon in schmucklosen Interlinear-übersetzungen betört die bildkräftige Sprache seiner Gedichte; die persischen Originale sind reine Musik.

    Unter den vielen Rumi-Nachdichtern gibt es nur wenige, die den Ehrgeiz hatten, das betörende Klangbild des Persischen nachzubilden. Zu diesen zählt Friedrich Rückert und, in jüngerer Zeit, der Orientalist Johann Christoph Bürgel. Beispielhaft gelungen ist seine Eindeutschung von Rumis berühmtem Frühlingsgedicht:

    "Der Frühling kommt, der Frühling kommt,
    Frühling der duftgeschwellte kommt!
    Der Schöne kommt, der Schöne kommt,
    Der Schöne ohne Schelte kommt!
    Der Frühtrunk kommt, der Frühtrunk kommt,
    Die Heiterkeit des Geistes kommt!
    Der Reigen kommt, der Reigen kommt,
    Der Reigen ohne Reue kommt!
    Es kommt ein Sein, es kommt ein Sein,
    Das alle Herzen lachen macht
    Wieso: 'Es kommt!' Wieso 'Es kommt!'
    Da es doch nie von hinnen ging?! "

    "Jetzt muss wer spricht verstummen, und
    Der Stumme wird zum Sprecher jetzt.
    Zähl nicht die Laute mehr: Das Wort,
    Des Laute keiner zählte, kommt!"

    Das Wechselspiel zwischen Immanenz und Transzendenz, zwischen dem Lob Gottes und der Feier der Schöpfung, kennzeichnet die meisten von Rumis Versen. Die monotheistische Strenge des islamischen Glaubens wird abgefedert durch eine pantheistische Verherrlichung der Elemente. Diesem Weltverständnis ist das Paradoxon naturgemäß das angemessenste Stilmittel. Wenn der Dichter wie am Ende des Frühlingsgedichts die Selbstabschaffung proklamiert und verstummen will, besingt er doch zuvor in aller Ausführlichkeit Schenke, Steine, Frühling, Buhle, Blumen und dergleichen sinnlicher Dinge mehr. Esoterik und Exoterik, das Hohe und das Gewöhnliche, Gelehrsamkeit und Didaktik fallen bei Rumi in eins. Diese lyrische Feier von Schöpfer und Schöpfung hat ihren Urgrund in einer spirituell grundierten Liebesphilosophie. Rumi und die Liebe gelten, in der weltweiten Populärrezeption des mittelalterlichen Dichters, praktisch als synonym. Sogar Popstar Madonna hat einen Videoclip mit einem Gedicht von Rumi aufgenommen.

    Die für die mystische Dichtung des Islam charakteristische Vieldeutigkeit begünstigt die Rezeption über weltanschauliche Grenzen hinweg. Der Synkretismus, der diese Rezeption auszeichnet, ist schon bei Rumi selbst angelegt. Obwohl er lange Jahre als ausgebildeter Rechtsgelehrter tätig war, hat sein Wirken mit dem traditionellen Islam, der heute so negativ von sich reden macht, wenig zu schaffen.

    Die urknallhafte Begegnung mit dem charismatischen Wanderderwisch Schams at-Tabrisi verwandelte den damals 37 Jahre alten, gewissenhaften Gelehrten selbst in einen Gottsucher. Der Liebesrausch führte ihn an den Rand seiner bürgerlichen Existenz und endete mit der nie recht aufgeklärten Ermordung von Schams. Wichtiger, als der schon damals skandalträchtige homoerotische Charakter dieser Freundschaft, erscheint heute ihre geistige Dimension. Erst Schams, dessen unorthodoxe mystische Lehren Rumi ein neues, die Konventionen sprengendes Religionsverständnis vermittelten, machte ihn zum Dichter. Der Geliebte erscheint in Rumis Versen als beinahe gottähnliche Gestalt.

    "O Mondenglanz, o Königsblut,
    o besser Du als hundert Glut,
    o Wasser und o Feuersglut,
    O Perle und O Meerflug, komm!

    Schams, meiner Seele Herr Du heißt!
    Durch Dich, o auserkorner Geist,
    Tabris wie Gottes Thronstuhl gleißt!
    Vom Fernsten Tempel her, o komm!"

    Über Rumi zu sprechen heißt zwangsläufig auch, über die Rumi-Übersetzungen zu sprechen. Sucht man im Buchhandel, in Antiquariaten oder im Internet, findet man sich mit einer Überfülle von Ausgaben für die unterschiedlichsten Zielgruppen konfrontiert. Wer sich vornehmlich für den spirituell erbaulichen Rumi interessiert, hat es am einfachsten. Er kann zu einer der, meist aus dem englischen weiterübersetzten, Rumi-Auswahlen greifen, die mittlerweile in zahlreichen Taschenbuchsausgaben vorliegen. Wer dem echten Rumi näher kommen will, der wird zu den Werken der Orientalisten greifen, im deutschsprachigen Raum vor allem Annemarie Schimmel und Johann Christoph Bürgel. Diese Ausgaben bieten sachgerechte Hintergrundinformationen und Nachdichtungen, die den Anspruch haben, die sprachliche Meisterschaft des Originals nachzuahmen. Bürgel gelingt dies besser als Schimmel, doch bei beiden gehen die formalen Bemühungen auf Kosten des Gehalts und der Bildkraft von Rumis Texten.
    Besonders bedauerlich ist dabei, dass alle Übersetzer Rumi als Steinbruch begreifen. Eine Gesamtausgabe fehlt, ja nicht einmal ein komplettes Einzelwerk wie der "Diwan des Schams at-Tabrisi" oder das "Masnawi" ist gegenwärtig auf deutsch greifbar. Erlauben wir uns daher aus Anlass des 800sten Geburtstags dieses poetisch-mystischen Giganten den Vorschlag, dass die literaturfreundlichen Stiftungen und akademischen Vereine zur Abwechselung einmal nicht die dritte, vierte oder fünfte historisch-kritische Kafka-, Hölderlin- oder Thomas Mann-Edition finanzieren, sondern für einmal eine schöne, vollständige deutsche Rumi-Übersetzung.

    Rumi: Gedichte aus dem Diwan
    Aus dem Persischen von Johann Christoph Bürgel
    C. H. Beck Verlag, München 2003