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Ein Leben als Gleichnis

"Mister Conscience, Herr Gewissen" nannte ein englischer Kritiker den polnischen Schriftsteller Jerzy Andrzejewski. Der Autor war eine der wichtigsten literarischen Stimmen Polens im 20. Jahrhundert.

Von Christian Linder | 19.08.2009
    Der Weltruhm kam zu Jerzy Andrzejewski auf einem Umweg, 1958, als der polnische Regisseur Andrjez Wadja den zehn Jahre zuvor erschienenen Roman "Asche und Diamant" seines Landsmannes verfilmte. Ein Buch über die letzten Tage vor der deutschen Kapitulation und dem Ende des Zweiten Weltkriegs, mit Blenden ins frühe Nachkriegspolen. Andrzejewski wusste, wovon er schrieb, denn er hatte sich am Widerstand gegen die deutschen Besatzer aktiv beteiligt. Geboren am 19. August 1909 in Warschau als Sohn eines Beamten, stand für ihn trotz aller widrigen politischen Verhältnisse früh fest, dass er schreiben wollte. Sein erster, 1938 erschienener Roman "Ordnung des Herzens" wurde in Polen sofort sehr beachtet. Mochte er in späteren Büchern seine Geschichten in eine noch so ferne Vergangenheit rücken, zum Beispiel in dem – später auch als Hörspiel eingerichteten – Buch "Finsternis bedeckt die Erde" in die Zeit der spanischen Inquisition, so war für jeden Leser doch immer klar, dass dieser Schriftsteller die Gegenwart vor Augen hatte, die Gegenwart im Nachkriegspolen.

    "Das Schreckliche ist nicht eine Eigenschaft der Ereignisse, sondern das Ergebnis ihrer Aufeinanderfolge. Großer barmherziger Gott ... Meinen Glauben habe ich mir unbefleckt bewahrt, aber mein Herz, Matteo, mein Herz ist verwundet und mein Gewissen betrübt. Auf dem Markt in Sevilla sah ich Hunderte von Menschen auf Scheiterhaufen brennen ... "

    Geschrieben 1957, während der sogenannten Tauwetterperiode in Polen, war der Roman Andrzejewskis erste Abrechnung mit dem Stalinismus – nachdem er sich den Kommunisten in den ersten Nachkriegsjahren zunächst zur Verfügung gestellt hatte und für sie sogar im Parlament saß. So war das Buch nicht nur eine Anklageschrift gegen den spanischen Großinquisitor, der seine Machtpraxis damit rechtfertigt, dass die Angst "jeden ergreifen und zu einem Zustand werden" solle, der "alle Lebensgebiete erfüllt, sodass sich kein Mensch mehr ein Leben ohne Angst vorzustellen" vermöge. Solche öffentlichen Angstbilder und Repressalien zu untergraben, hat Andrzejewski in seinen Büchern versucht, auch wenn er seinerseits auf Repressalien in seinem Land stieß und zeitweilig nur im westlichen Ausland veröffentlichen konnte, Bücher wie "Appellation", 1968 in Deutschland erstmals erschienen und zu lesen auch als autobiografischer Bericht über seine Erfahrungen mit allen Formen der Zensur. 1968 war ein entscheidendes Jahr für Andrzejewski, als Truppen des Warschauer Pakts die Tschechoslowakei besetzten und das Modell eines demokratischen Sozialismus zerstörten. In einem Brief an den tschechoslowakischen Schriftstellerverband solidarisierte er sich:

    "Das Gefühl der Ohnmacht gegenüber der Gewalt und der Übermacht stellt von allen menschlichen Erniedrigungen die schwerste Niederlage dar."

    In Polen mundtot gemacht, bestand Andrzejewski in westlichen Medien auf seiner Position:

    "Ich persönlich bin gegen dieses System in seiner russischen Ausgabe ... Mir scheint, dass diese Art von Kommunismus, die den unterjochten und sich unter dem völligen Einfluss des russischen Imperiums befindenden Völkern oktroyiert wurde, der Feind allen Fortschritts und der Feind der Menschenwürde ist."

    Was solle ihm persönlich schon passieren, er habe schließlich die deutsche Besetzung Polens überlebt, tröstete sich Andrzejewski – und schrieb weiter, auch wenn er in Polen nicht veröffentlicht wurde. Sein Schreiben wurde immer artistischer, der Roman "Die Pforten des Paradieses" etwa besteht aus einem einzigen Satz. Schuld und Reue, Liebe und Tod – es waren die alten Themen, die Andrzejewski aufgriff, und immer hatte er, bei all seiner Aufmerksamkeit für politische Zeitläufte, den Einzelnen im Sinn, der trotz aller Demütigungen für sich selber verantwortlich ist:

    "Vater, weshalb sagst Du mir das alles? Bin ich nicht schon gerichtet? – Ja, wahrhaftig, das Urteil über Dich ist gefallen. Du selbst hast es gefällt. – Ich?"

    Wegen dieses persönlichen Bekenntnisses wurde Jerzy Andrzejewkis Leben – er starb 1983 in Warschau – von allen, die ihn gekannt haben, als Gleichnis empfunden – als Gleichnis, wie Marcel Reich-Ranicki in seinem Nachruf schrieb, vom "irrenden und letztlich in der individuellen Revolte sich bewährenden und triumphierenden Intellektuellen des 20. Jahrhunderts".