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Ein Leben im Dorfschritt

"Niederungen" ist ein Drei-Stunden-Hörbuch mit drei Sprechern - ein ungewöhnlicher Ansatz, zumal bei einer Autorin mit einer so prägnanten Vortragsweise wie Herta Müller.

Von Florian Felix Weyh | 08.04.2010
    "Die Leichenversammlung stand am anderen Ende des Grabes. Ich sah an mir herab und erschrak, weil man meine Brüste sah. Ich fror. Alle hatten die Augen auf mich gerichtet. Sie waren leer. Ihre Pupillen stachen unter ihren Lidern. Die Männer hatten Gewehre auf den Schultern hängen, und die Frauen rasselten mit Rosenkränzen."

    Unverkennbar in Wort und Klang: Das ist Herta Müller. Dies allerdings ebenfalls:

    "Manchmal lag ich ganz ruhig da, und dennoch raschelte es. Und ich hatte Angst, dass der große, knochige Mann im Zimmer ist, der am Dorfrand ein Haus gekauft hatte, und von dem niemand wusste, woher er gekommen war, und von dem jeder wusste, dass er nicht arbeiten gehen musste, weil er sein riesengroßes Skelett dem Museum verkauft hatte und dafür monatlich Geld bekam. Dieser Mann war nächtelang bei mir im Zimmer."

    Herta Müllers "Niederungen" in der Interpretation von Marlen Diekhoff. Und noch eine Version:

    " Die LPG besteht aus einem Vorsitzenden, der der Bruder des Bürgermeisters ist, aus vier Ingenieuren, von denen einer für das Unkraut, einer für die sieben Kühe und elf Schweine, einer für die drei Hektar Gurken und zwei Hektar Tomaten, und einer für die drei Traktoren verantwortlich ist. Und aus sieben LPG-Bauern, die über 50 sind, im Dorf "Mitglieder" genannt, und von den Ingenieuren mit "Mädels und Buben" angeredet werden."

    Hier liest Albert Kitzl die "Dorfchronik" von Herta Müller. Ein Drei-Stunden-Hörbuch auf drei Sprecher zu verteilen, ist ungewöhnlich, zumal bei einer Autorin mit einer derart prägnanten Vortragsweise, dass sich Herta Müllers Stimme jedem, der sie einmal vernahm, auf Anhieb einprägt. Warum "Niederungen", jene dunkelschwarze Dorfbeschreibung aus dem rumänischen Banat, die der Autorin frühen Ruhm bescherte und nun neu ediert vorliegt, nach solcher Aufteilung verlangt, erschließt sich nicht auf Anhieb. Klar liegt die Sache bei Albert Kitzl und der abgeschlossenen Erzählung "Dorfchronik". Der Text fällt aus dem Rahmen des restlichen Buchs, verankert er das sonst zeitlos-archaisch daherkommende ländliche Leben deutlich im Sozialismus der 50er- und 60er-Jahre und ist eine zwar milde, doch erkennbare Satire. Albert Kitzl, der wie die Autorin aus dem Banat stammt, lässt dies deutlich hören:

    Albert Kitzl: " Selbstmörder gibt es im Dorf keine, da alle Dorfbewohner einen gesunden Menschenverstand haben, den sie auch im hohen Alter nicht verlieren. Die Helden, die im Dorf "Gefallene" genannt werden, sind, um zu beweisen, dass sie nicht vergebens gestorben sind, was im Dorf "den Heldentod gefunden haben" genannt wird, weil man wahrscheinlich annimmt, dass sie ihn gesucht haben, auf demselben Friedhof gleich zweimal begraben. Einmal im Grab der jeweiligen Familie und einmal unter dem Heldenkreuz. In Wirklichkeit liegen sie aber irgendwo in einem Massengrab, was im Dorf "im Krieg geblieben" genannt wird. "

    Marlen Diekhoff: " Niemand redet mehr ein Wort. Mein Hals ist trocken. Ich darf kein Wasser verlangen, weil ich beim Essen nicht sprechen darf. Wenn ich groß bin, werde ich Eisblumen kochen! Ich werde beim Essen reden und nach jedem Bissen Wasser trinken. "

    Marlen Dieckhoff hingegen, die den überwiegenden Teil der "Niederungen" liest, tut das auf ganz eigene Weise, indem sie sich dem Text mit einer fast schmerzlichen, allerdings auch gewöhnungsbedürftig unkulinarischen Genauigkeit nähert: Sie spricht - vielmehr schweigt - jedes Satzzeichen mit, was bei einem ausgeprägt parataktischen Stil wie dem Herta Müllers mit seinen vielen, kurzen Hauptsätzen zunächst eigenartig entfremdet klingt. Das allerdings - ein bewusster Kunstgriff von Autorin wie Rezitatorin - lässt poetische Wendungen, Beobachtungen, Metaphern umso schärfer hervortreten:

    " Mutter hätte schöne, stille Augen, wenn sie nicht den ganzen Tag ein Vorgang wär. "

    "Niederungen" ist kein Hörbuch zum schnellen Verzehr, so wenig wie der Text entgegen seiner scheinbar einfachen Struktur zu Nebenbeilektüre taugt. Die Qualität teilt sich nur mit, wenn man sich auf Tempo und Rhythmus von Autorin und den beiden anderen Vortragenden einlässt, und das ist ein Leben im Dorfschritt, kein Großstadtgerenne, bei dem man auf dem Weg zum Ziel alle Seitenblicke vergisst. Wer sich darauf einlässt, merkt auch bald, dass sich Marlen Diekhoff nicht nur eines distanzierten Gestus bedient, sondern wie Albert Kitzl durchaus den grotesken Humor der Vorlage aufzuspüren vermag. Etwa in der Szene von Cousin und Cousine, die das Donnergrollen eines Gewitters unter eine Bettdecke getrieben hat:

    " "Ich könnte dich gern haben, wenn du nicht so komisch pissen würdest, aus dieser Verlängerung. Die ist so häßlich."
    "Lass sein, morgen schneiden wir sie ab."
    "Ich habe Angst, daß ich ein Kind kriege von dir. Ich glaube, das darf man nicht, wir haben in denselben Topf gepisst."
    "Lass sein, dann heiraten wie eben."
    "Aber du bis doch mein Cousin."
    "Großmutter pisst so viel. Sie hat einen sehr tiefen Bauch."
    "Woher weißt du das?"
    "Das sieht man doch durch ihre Röcke!"
    Dann schliefen wir ein. "


    Herta Müller: "Niederungen" (Ausschnitte)
    Gelesen von Marlen Diekhoff, Albert Kitzl und Herta Müller
    3 CDs, Hörbuch Hamburg, 3 Stunden, 36 Minuten