Freitag, 19. April 2024

Archiv


"Ein Licht ist mir aufgegangen"

Der Hauslehrer – ein Deutscher; die Ehefrau – deutschstämmig; Briefwechsel mit deutschen Lesern, zwei Reisen nach Deutschland – den russischen Nationaldichter Lev Tolstoi verband vieles mit dem damals noch unmittelbaren Nachbarn im Westen.

Von Knut Cordsen | 22.10.2010
    Erstaunlicherweise sind diese Verbindungen aber noch nie in einer Ausstellung aufgezeigt worden. Das geschieht jetzt, aus Anlass von Tolstois 100. Todestag im November, im Literaturhaus München.

    Da werden sich jetzt aber sicherlich ein paar Naturschützer aufregen. Muss das denn sein? Bäume fällen? Für eine Literaturausstellung? Ja, es stehen Birkenstämme im Münchner Literaturhaus, so wie sie heute noch auf Tolstois Landgut Jasnaja Poljana stehen, allerdings hat man die Birken in Niederbayern geschlagen, nicht in Russland. Das hätte Tolstoi, dem "Landmann" - in seinen Aufzeichnungen findet sich dieses deutsche Wort - sicher gut gefallen, durch einen Wald zu wandeln statt an Vitrinen entlang.

    Die Exponate sind hier drapiert auf Nachbildungen von Tischen Tolstois und auf einer Rekonstruktion des Flügels, an dem der leidenschaftliche Klavierspieler so oft saß. Die Musik war ihm, er schrieb auch das auf Deutsch, "pflichtloser 'Genuss'". Das Erstaunliche ist, wie viele der gezeigten Dokumente, der Briefe Tolstois etwa, in wohlgesetztem Deutsch verfasst sind, ob er sich nun bei einem Leser für die Zusendung eines "Goethe-Kalenders" bedankt oder in seinen Notizen über deutsche Philosophen das deutsche Wort "grübeln" verwendet.

    Tolstoi war ein Sprachentalent, er beherrschte 24, und das Deutsche lag ihm besonders am Herzen. Nicht allein deshalb, weil er als Kind mit Friedrich Rössel einen deutschen Erzieher gehabt hatte, erklärt Vitaly Remizov, der Direktor des Moskauer Tolstoi-Museums, der gemeinsam mit Johanna Renate Döring-Smirnov die Münchner Tolstoi-Ausstellung konzipiert hat:

    "Tolstoi hat sich der deutschen Philosophie wahrscheinlich nicht allzu früh zugewandt, das war erst, als er 'Krieg und Frieden' schrieb. Damals hat er vor allem Arthur Schopenhauer für sich entdeckt. Als er dann später an 'Anna Karenina' arbeitete, begann er sich mit Immanuel Kant auseinanderzusetzen. Er liest Übersetzungen Kants ins Französische, er liest Kant auf Deutsch und die raren Übersetzungen Kants ins Russische."

    Zwei Deutschland-Reisen unternahm Tolstoi. Verzockte nach bewährter Manier russischer Schriftsteller sein Geld in den Casinos von Baden-Baden. Sah in Berlin "auf den Straßen das Laster" der Prostitution und erregte sich darüber genauso so wie über die harten Prügelstrafen, die die Lehrer Schülern in einer Leipziger "Kleinkinderbewahranstalt" verabreichten. Das war das Gegenteil jener Pädagogik, die Tolstoi später auf Jasnaja Poljana einführte.

    Von der Volksschule in Bad Soden zeigt sich im Besucherbuch ein Deutsch unterzeichnender "Lev Tolstoi, Gutsbesitzer" am 28./29. August 1860 sehr überzeugt: "keine bessere gesehen". Bei all der Verve, mit der Tolstoi sich für eine kindgerechte Erziehung einsetzte, denkt man dann schon mal, dass die Audioguides der Münchner Ausstellung, eigentlich ja die Form jener Kellen haben, mit denen Schülerlotsen die ihnen Anvertrauten sicher über die Straße geleiten. Tolstois Weg indes führte zu land- und forstwirtschaftlichen Akademien in Jena, Dresden und Greifswald, die er allesamt besichtigte.

    Vitaly Remizov:
    "In den Tagebüchern von Tolstoi gibt es erstaunliche Einträge darüber, wie er sich mit deutschen Bauern unterhalten hat und wie begeistert er war von deren Lebensart. Er beteiligte sich in Bad Kissingen im Sommer 1860 sogar selbst an der Feldarbeit. Deutschland, die deutsche Kultur übte offensichtlich eine starke Anziehungskraft auf ihn aus. Er zeigt sich beeindruckt von der Tiefe der Deutschen, von der Einfachheit des Lebens der Deutschen und natürlich von der Nähe zu den Russen. Interessant ist ja auch zu sehen, dass die wichtigsten Worte in 'Krieg und Frieden' im russischen Original des Romans ausgerechnet auf Deutsch fallen. Nikolaj Rostov sagt darin den Satz: 'Und vivat die ganze Welt'. Es lebe die ganze Welt. Er sieht die Welt vor sich und äußert seine Begeisterung - auf Deutsch."