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Ein literarischer Almodovar

Mit dem Buch "Die Silikonliebhaber" über zwei zum Leben erweckte Sexpuppen begibt sich Javier Tomeo auf eine Gratwanderung zwischen sexistischem Trivialschwank und Pornosatire.

Von Wolfram Schütte | 10.08.2010
    Der heute 78-jährige spanische Erzähler Javier Tomeo ist mit seinen Kurzromanen und -geschichten nie "ein Kind von Traurigkeit" gewesen. Obwohl seine schmalen Bücher meist von der Einsamkeit ihrer Protagonisten ausgehen, gelangt Tomeos humoristische Fantasie schnell in komische Umstände. Deshalb zählt er zu den am meisten übersetzten spanischen Autoren. Es macht Spaß, ihn zu lesen.

    Mit dem bereits vor zwei Jahren erschienenen und jetzt - wie immer mit Lust und Laune - von Heinrich von Berenberg übersetzten "Silikonliebhabern" aber hat der Aragonese, der in Barcelona lebt, sich auf eine ziemliche Gratwanderung zwischen sexistischem Trivialschwank und Porno-Satire begeben. Sein Verleger Jorge Herralde, dem der Autor das Büchlein gewidmet hatte, hat es als "pornosentimentales Meisterwerk” gefeiert, in dem ein Schweizer Rezensent aber nur ein "Kleines Feigenblatt für Zoten und Kalauer" erblicken konnte.

    Nun ist das literarische Feigenblatt so klein nicht, das Tomeo seinen "Silikonliebhabern" anfänglich vorhält - wenn auch durch häufigen Gebrauch ziemlich fadenscheinig geworden. Denn wieder einmal wird einem fiktiven Herausgeber von dessen Freund Ramon M. ein work in progress zugeschickt - in fünf Teilen, zwischen denen jeweils der Herausgeber literaturkritisch zurecht niedermacht, was ihm sein Freund als erotische Männerfantasie portionsweise per Post zugehen lässt.

    Diese erzählerische Methode hat zum einen den großen Vorteil, dass sie dem unzufriedenen Leser wie Kritiker vorauseilend den Wind der Kritik aus den Segeln nimmt; zum anderen demonstriert Javier Tomeo, dass er selbst am besten weiß, dass seine zerebral-sexuellen Ausschweifungen, die er Ramon M. zuschreibt, "reiner Blöd-" , beziehungsweise "prächtiger Schwachsinn" sind, wie Ramons Lektor am Ende diesem und uns mitteilt.

    Man kann das auch ein wenig anders und ein bisschen vorteilhafter für Javier Tomeo sehen. Denn das von Ramon M. erfundene, ein wenig in die Jahre gekommene Ehepaar Basilio und Lupercia, das ein Kurzwarengeschäft für Reizwäsche besitzt, zuhause aber in weit von einander getrennten Schlafzimmern nächtigt, kompensiert das beidseitige erotische Desinteresse aneinander, indem es sich mit zwei Gummipuppen - Marilyn und Big John - jeweils ersatzbefriedigt. Als aber Basilio und Lupercia eines nachts Marilyn & Big John im Fernsehzimmer beim Liebesakt überraschen, ist ihre synthetische Sexwelt nicht mehr in Ordnung. Wurden sie von ihren mechanisch-sterilen Silikon-Geliebten etwa: betrogen? Wenn auch wohl kaum ein Ehebruch vorliegt, so doch ein Vertrauensbruch innerhalb der Geschäftsbeziehungen.

    Als aber die Ertappten, die plötzlich auch sprechen können, sich nicht nur - wie Romeo und Julia - ihre Liebe gestehen, sondern auch ihre bisherigen Besitzer wegen ihrer sexuellen Minderwertigkeit demütigen, ersticht die beleidigte Lupercia ihren Big John und Basilio kauft sich in einem Sexshop eine "saugende Japanerin", von der ihm versprochen wird, sie sei ihm treu. Marilyn aber kann sich aus dem Schrank, in den sie Basilio gesperrt hatte, befreien und den zur Fläche geschrumpften Big John mit einem Gummipflaster wie einen undichten Fahrradschlauch abdichten und wieder erektil aufpumpen. Als die Menschen aus Fleisch und Blut zurückkehren, bleibt den verzweifelten Silikonliebhabern nur der gemeinsame Sprung über den Balkon in den Tod. Aber anstatt zu fallen, heißt es, segeln sie wie zwei verliebte Luftballons, eng umschlungen, eskortiert von einem halben Dutzend schneeweißer Tauben zum Himmel empor - bis sie nicht mehr zu sehen sind.

    Dieses Ende meinte wohl Jorge Herralde, als er von einem "pornosentimentalen Meisterwerk" sprach. Nun: ein Chef d´Oeuvre sind "Die Silikonliebhaber" nicht. Aber denn doch ein grobianisch-satirischer Versuch, der sexistisch und pornografisch ausgefütterten televisionären spanischen Gegenwart den literarischen Spiegel vorzuhalten. Die subtileren Anspielungen auf zeitgenössische Phänomene einer erotischen Vulgarität sind für deutsche Leser nur zu erahnen. Deshalb scheint der (zweifellos) grobe Keil, den Javier Tomeo hier auf den groben Klotz der spanischen Realität gesetzt hat, noch grober. Schließlich sind Javier Tomeos "Silikonliebhaber" nicht sehr weit von den schrillsten, vulgär-jokosen Filmen seines jüngeren Landsmanns Pedro Almodovar entfernt.

    Javier Tomeo: "Die Silikonliebhaber”. Roman. Aus dem Spanischen von Heinrich von Berenberg. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2010. 141 Seiten. 16.90 Euro