Donnerstag, 28. März 2024

Archiv


Ein Mann der Kirche

Der SPD-Politiker Manfred Stolpe war, bevor er in die Politik wechselte, ein Kirchenmann. Er vertrat als Jurist und später als Funktionär die Interessen der evangelischen Kirche in der DDR und versuchte Einfluss zu nehmen auch auf die Mächtigen im Staat. Diese Nähe war aber gleichzeitig auch ein Verhängnis: Seine Tätigkeit in der Kirche verschaffte ihm regelmäßige Kontakte zum Ministerium für Staatssicherheit. Laut eigener Aussage war er aber nie Stasi-Mitarbeiter.

Moderation: Rainer Burchardt | 29.05.2008
    Manfred Stolpe. Geboren am 16. Mai 1936 in Stettin. SPD-Politiker. 1990 bis 2002 Ministerpräsident von Brandenburg. Danach bis 2005 Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen. Ausbildung in der DDR zum Juristen. Von 1982 bis 1989 stellvertretender Vorsitzender des Bundes der evangelischen Kirchen in der DDR. Mitglied der SPD seit 1990.


    Kindheitserinnerungen

    "Das Schöne, woran ich mich besonders gern erinnere, war diese Ein-Klassen-Schule."

    Rainer Burchardt: Herr Stolpe, Sie sind im Jahre 1936 in Stettin geboren, als der Krieg zu Ende war, waren Sie neun Jahre alt. Welche Erinnerungen haben Sie eigentlich an zunächst die Jahre in den 30er-Jahren der Nazizeit und dann auch an die Kriegszeit?

    Manfred Stolpe: Sehr intensive Erinnerungen. Krieg hatte eigentlich immer den Hauch von Abenteuer, ich muss gestehen, auch bis zum Kriegsende, das hatte immer den Hauch von Abenteuer. Erst wo er dann näher kam und man merkte, was für schreckliche Dinge sich da ereigneten, und wer aus der Verwandtschaft eben auch gefallen war, aber trotzdem, offen gestanden und bekannt, gebeichtet: Es hatte immer so ein bisschen was Spannendes. Ich kannte keine Angst. Man ist zu klein und man ist zu einfältig.

    Burchardt: Wie stand denn Ihr Elternhaus damals zu der Entwicklung, politisch und auch zum Krieg?

    Stolpe: Ja, da gab es eine Szene, an die ich mich erinnere, die ich damals überhaupt nicht verstanden habe und die mir meine Mutter später erklärt hat. Es gab eine der seltenen Streitszenen zwischen meiner Mutter und meinem Vater. Das muss gewesen sein im Nachgang zu der Verfolgung der Juden. Wir hatten da in dem Ortsteil Stettins, wo wir lebten, eigentlich eine ganze Reihe von Händlern, Unternehmern, auch guten Bekannten, die Juden waren, deutsche Juden, muss man ganz schlicht sagen. Und da setzte die Drangsalierung ein, die Verfolgung beginnt ja mit der Kristallnacht, wie ich hinterher erst verstanden habe und schließlich der Abtransport von Juden, und irgendwo mit diesen Abtransporten muss das zusammengehangen haben, dass meine Mutter ziemlich laut und ziemlich heftig zu meinem Vater sagte, wenn du da mitmachst, sind wir geschiedene Leute. Das hat mich tief ... Ich wusste gar nicht warum, das hat mich tief beeindruckt, dass die jetzt offenbar so zerstritten waren miteinander. Das hing damit zusammen, dass mein Vater da noch in irgendeiner Organisation mit drin war, ich weiß nicht, vielleicht sogar SA oder so was, und die wurden ja mit eingesetzt, um dann diese Menschen aus ihren Wohnungen zu holen und zu verladen. Er hat meiner Mutter gehorcht.

    Burchardt: Sie waren gegen Kriegsende ja schon in der Schule. Gab es Schulkameraden, die dann plötzlich verschwanden?

    Stolpe: Nein, das hatten wir nicht. Das war nun so, dass ich die Schulzeit im wesentlichen auf dem Dorf verbrachte, weil wir doch in Stettin verstärkt Bombenangriffe bekamen. Das war nun so, dass mancher Angriff, der für Berlin gedacht war, durch die Flak-Abwehr um Berlin herum nicht durchkam und die mussten dann an irgendeinem geeigneten Ort die Bombenlast loslassen und das war sehr stark Stettin. Im Übrigen war das natürlich auch ein Verkehrsknotenpunkt und Hafen und so was. Und da entschieden meine Eltern, dass ich zu den Großeltern nach Ostpommern gehen würde, das war wohl schon so Anfang 1942 oder irgend so was gewesen. Und da habe ich sehr schöne Zeiten verlebt, denn auf dem flachen Lande, in Ostpommern, da waren meine ersten Kontakte auch mit polnischen Menschen, mit ukrainischen Menschen, die auf unserem Bauernhof alle gut behandelt wurden. Entgegen den Weisungen aßen die alle mit am Tisch. Keiner musste da irgendwelche Kennzeichen tragen, was sich dann 1945 sehr bewährt hat. Die haben geholfen, dass dann den Großeltern nicht viel passiert ist, als die Front rüberrollte. Ich lebte da also glücklich und zufrieden, das waren so meine ersten Kontakte da auch mit Menschen aus Polen, aus der Ukraine, auch mit russischen Kriegsgefangenen, so dass ich die eigentlich immer so als Partner erlebt habe, auch als hilfreiche Partner, die dann auch - wenn man mal ein Problem hatte als kleiner Junge - halfen und schnitzten einem dann irgendwas und dies und jenes. Und das Schöne, woran ich mich besonders gerne erinnere, war diese Ein-Klassen-Schule, weshalb ich immer etwas still bin, wenn geschimpft wird auf so primitive Schulsysteme. In dieser Ein-Klassen-Schule waren sie alle zusammen. Die Kleinen lernten von den Großen, und ich hatte da eine ganz besondere Rolle. Ich kam ja aus einer Stadtschule, aus der Stettiner Stadtschule, und kannte schon so ein bisschen was und war auch in vielen Dingen interessiert. Meine Mutter hatte mir relativ früh das Lesen und Schreiben dann doch beigebracht - das Zeitunghalten alleine war ja auch keine Lösung, mit den Bildern. Und wir hatten einen wunderbaren Lehrer, der war Imker und der hatte seine Bienen draußen auf dem Hof, und wenn er dann Aufträge verteilt hatte in der Klasse, dann ging er raus zu seinen Bienen und ich kleiner Knirps - da waren Kameraden, die gehörten eigentlich in die achte Klasse, die haben sie zeit ihres Lebens nie erreicht -, ich war dann plötzlich so ein Helfer des Lehrers. Was bleibt einem da weiter übrig? Man muss diplomatisches Talent entwickeln, man muss mit den Mächtigen umgehen. Und wie macht man das? Man guckt nach, was die nicht können.

    Burchardt: War das für Sie schon so eine Art Grundausbildung für Ihr späteres Leben?

    Stolpe: Im Nachhinein würde ich sagen, ja.

    Burchardt: Auch für die Frage des Verständnisses doch für die Ost-, für die slawische Seele?

    Stolpe: Das ganz sicher. Ganz sicher, dass ich da eigentlich gar keine dramatische Distanz empfunden habe, und wie das dann ja in der offiziellen Propaganda auch hieß, Untermenschen oder so was, das waren für mich vernünftige Leute, mit denen man vernünftig umgehen kann. Und wenn ich mich im Nachhinein frage, was hier jetzt gegenwärtig so meine Arbeitsschwerpunkte sind, dann wird mir deutlich, dass mein Interesse an den östlichen Nachbarn von uns natürlich diese ganz tiefen biographischen Wurzeln hat. Das sind Mitmenschen wie wir und das sind auch Leute, die man eigentlich gut brauchen kann und die uns brauchen.

    Burchardt: Sie haben nach dem Abitur Jura studiert. Warum gerade Jura?

    Stolpe: Ich hatte immer Interesse daran, an der Juristerei, das hing mit dem Vater eines Freundes zusammen, der war Jurist und war dann aber auch schließlich Jurist bei der Kirche, das war also insofern auch eine Vorgabe fürs spätere Leben. Und da fand ich diesen Beruf hochinteressant und dachte mir, es gibt doch gute Anwälte, wir hatten da in Greifswald, wo ich inzwischen war, auch sehr tüchtige, freie Anwälte, das muss doch möglich sein, da reinzukommen. Es gab aber zunächst gar keine Chance, ins Studium reinzukommen. Ich hatte mich beworben, ursprünglich doch für Germanistik. Das lag an meiner Lehrerin, die fand mich gut in Germanistik, und ich musste Aufsätze schreiben und Rollen spielen und weiß ich was alles. Aber Germanisten waren nur ganz wenige Plätze, ganz wenige Plätze. Da kam ich nicht ran. Also ging ich erst mal in einen Beruf, zur Bank, und dann kam in diesem Jahr, 1955, das erste Mal glaube ich richtig brutal zum Tragen, dass sich viele für ein Studium beworben hatten, aber nicht antraten, sondern nach dem Westen gingen. Und plötzlich: Das ganze strenge System der Zulassung fing an zu bröckeln. Ich kriegte das mit und sagte mir, jetzt wartest du gar nicht darauf, bis irgendwo eine höhere Instanz, Schule, Volksbildung, weiß ich was, dich lenkt, sondern jetzt bewirbst du dich mal. Da habe ich mich bei vier juristischen Fakultäten zur gleichen Zeit beworben - was eigentlich auch unmöglich war.

    Burchardt: Aber alle im Osten.

    Stolpe: Alle im Osten, ja, natürlich.

    Burchardt: Die DDR war damals sechs Jahre alt.

    Stolpe: Ja, und für uns, auch für mich persönlich, war das nie eine Frage, sondern das war der Standort, wo ich war. Es war auch ein bisschen geprägt, unsere Standortentscheidung für den Osten, für Greifswald, weil mein Vater und mein älterer Bruder im Krieg waren und bei Kriegsende keiner ganz genau wusste, was aus denen geworden ist. Aber die wussten, dass wir da in Greifswald waren, wo die Familie herstammte - mein Großvater, der immer noch sagt, er stammt aus Schwedisch-Pommern -, und da dachten wir, da finden die dann hin. Mein Bruder war bis 1950 völlig verschollen, bis wir eines Tages über das Rote Kreuz mitbekamen, dass er in England gelandet war. Und da war aber für uns, für meine Mutter und meine Eltern, wir bleiben jetzt hier, wir haben uns jetzt hier eingerichtet, und das war für mich also auch ...

    Burchardt: Ihr Vater?

    Stolpe: Mein Vater, der kam praktisch bei Kriegsende zurück. Der kam bei Kriegsende zurück, der schlug sich da auch so durch die Gegend, völlig in Zivil, die polnischen Brocken, die er gelernt hatte bei den Fremdarbeitern, waren hilfreich, die Russen, die da filzten und natürlich in Zivil gesteckte Soldaten suchten, hielten ihn auch für einen polnischen Arbeiter und dann stand er eines Tages, wenige Tage nach Kriegsende, bei uns aufm Hof.

    Kalter Krieg und Propaganda

    "Diese Gefahr des Krieges, die habe ich eigentlich mehr in der zweiten Hälfte der 50er-Jahre dann empfunden."

    Burchardt: Als die DDR gegründet wurde, da waren Sie 13. Haben Sie noch eine Erinnerung, wie Sie das empfunden haben? War Ihnen klar, jetzt haben wir erstens zwei deutsche Staaten und zweitens kann das ja vielleicht mal wieder aus einem kalten Krieg auch in einen heißen Krieg münden?

    Stolpe: Diese Gefahr des Krieges, die habe ich eigentlich mehr in der zweiten Hälfte der 50er-Jahre dann empfunden, also, 1949, so furchtbar ernst habe ich das nicht genommen, das waren eben die Besatzungszonen, das waren die Einflussgebiete, das blieb russische Zone oder sowjetische Zone, egal, wie das Staatswesen da so hieß, und in dem Alter machte der Propagandarummel, der dann da so aufgezogen wurde, beeindruckte, aber eben nur äußerlich. Dass jetzt hier eine auf lange Zeit angelegte deutsche Teilung kommen würde mit der Zuspitzung, dass die beiden deutschen Staaten sozusagen die Speerspitzen der Systeme waren, das war mir überhaupt nicht klar.

    Burchardt: 1952 gab es dann die Stalin-Note, die so was wie eine Neutralisierung von Deutschland beinhaltete. Haben Sie das bewusst empfunden und waren Sie möglicherweise auch dafür? Im Westen war das ja sehr umstritten.

    Stolpe: Nein, es gab immer wieder Hoffnung, dass dies Provisorium irgendwie vorbei sein würde und Deutschland wieder zusammenkommt und natürlich auch die Hoffnung, dass dann der Osten etwas Anteil haben würde an den positiven Entwicklungen, Marshallplan und Wirtschaftswunder und was da so war im Westen. Die Feinheiten der Stalin-Note oder des Bemühens wohl von Stalin zu verhindern, dass Westdeutschland eben Bestandteil des westlichen Militärbündnisses wird, vielleicht auch seine Hoffnung, dass man dann irgendwo ein kommunistisches Gesamtdeutschland schafft, dies habe ich in den Feinheiten damals nicht verstanden.

    Burchardt: Walter Ulbricht sprach damals immer von den "Bonner Ultras". Hat man das als einfacher DDR-Bürger oder noch eher auch Jugendlicher überhaupt ernst genommen und auch so empfunden?

    Stolpe: Das war die Propaganda, die eigentlich über die Köpfe hinwegrauschte, diese ganzen Beschimpfungen, und für Adenauer gab es ja auch immer alle möglichen Titel, das war etwas, was man, na gut, mithörte, aber nicht sonderlich ernst nahm. Und das setzte sich auch in der Schule und überall fort. Es war das eine, die Welt der großen Propaganda, und das andere war das, was die Leute sich dann so ihr Bild davon machten und diese Propaganda hat es glaube ich nie geschafft, bei der Mehrheit der Bevölkerung, in der dann DDR ein abschreckendes Bild vom Westen zu machen, im Gegenteil.

    Unruhen im Ostblock

    "Für uns hatte 68 eine ganz andere Bedeutung."

    Burchardt: Stalin ist im März 53 gestorben, im Juni 53 gab es den Arbeiteraufstand in der DDR. Was hat sich damit auch für Ihre Erinnerungen auch an Hoffnungen möglicherweise geknüpft, dass dies Provisorium möglicherweise auch dadurch beendet werden könnte?

    Stolpe: Der Tod Stalins im März 53, das war schon ein Ereignis, das wir alle mitbekamen. Das wurde natürlich auch über die Medien transportiert, die Schulkinder mussten Märsche machen, irgendwelche Trauermärsche oder so was, und man hatte das Gefühl, dass das doch eine Zeitenwende sein könnte, wenn ein großer Zar eben da ausfällt. Jedenfalls in den Gesprächen mit den Erwachsenen, auch speziell mit den Eltern, war das ein Ereignis, das mit besonderer Aufmerksamkeit wahrgenommen wurde. Und dann kam ja sehr bald danach, wenige Monate danach kam dann 1953 der 17. Juni, der ja diese Vorgeschichte hatte des neuen Kurses, des Ankündigens von Erleichterungen. Das haben wir sehr stark mitbekommen, weil meine Eltern da nicht nur eine starke Bindung zur Kirche hatten, sondern zum Teil auch tätig waren im Bereich der Kirche. Die Kirche hoffte ja auf solche Verbesserungen, die dann auch mit einem Mal zugesagt worden waren. Aber die Geschichte ging eher einen anderen Gang, dies Nachgeben der Führung hat natürlich dann eskalieren lassen die Erwartungen, und dann kam die Unruhe am 17. Juni. Wir haben das sehr aufmerksam verfolgt. Wir hatten gute Informationen über die Rundfunksender, die bei uns immer regelmäßig gehört wurden. Das war so, dass man bei uns zu Hause schon immer suchen musste, wo die DDR-Sender waren. Normalerweise waren die Informationen eingestellt auf die Sender, die aus der Bundesrepublik kamen. Wir haben dann das in Greifswald auch erlebt, dass mit einem Mal an dem größten Industriebetrieb - das war ein Bahnwerk - bewaffnete Seepolizei stand mit aufgepflanztem Bajonett, die offenbar abschrecken sollten vor Arbeiterunruhen. Das hat uns natürlich außerordentlich stark bewegt. Was ist hier los, warum machen die das? Die müssen die doch nicht schützen, die Arbeiter, vor wem sollen sie schützen? Offenbar müssen sie die Arbeiter doch niederhalten. Das war ein Schockerlebnis, dieser Juni 1953, dass offenbar dann, wenn die Menschen versuchen, sich durchzusetzen, dann am Ende die nackte, brutale Gewalt steht. Auch das saß dann ganz tief bei mir, hat mich auch in den Folgejahren immer umgetrieben, bis 88, 89 hin. Müssen wir nicht immer im Auge behalten, dass am Ende die Gewalt kommen könnte? Und müssen wir nicht alles tun, um dies zu verhindern, die gewaltsamen Auseinandersetzungen zu verhindern?

    Burchardt: Drei Jahre später hatten wir den Aufstand in Budapest, in Ungarn. War das für Sie da auch absehbar, dass es da genauso laufen könnte?

    Stolpe: Nein, da war ich Student, und da war ich in Jena inzwischen - wir haben eben von den Universitäten gesprochen, Jena waren die, die als erste reagierten, ich ging dahin und das war eine gute Entscheidung, ich habe auch meine Frau da kennengelernt und ging auch gut bis heute -, in Jena spielte das eine Riesenrolle. Gerade in diesen Wochen gab es die traditionellen Studentenbälle. Die Studentenbälle waren immer ausgestattet mit Saalschmuck der verschiedensten Art, und da gab es eigentlich nur ein Thema: An der schönen blauen Donau, Hoffnung auf Budapest, alle, selbst Professoren, redeten so. Die SED und die FDJ, die machten geradezu mobil, die machten schon Streifen und hatten eine Riesenangst, dass es übergreifen könnte. Umso größer war die Enttäuschung, als die Panzer rollten, das war der zweite Schock.

    Burchardt: Aber war das nicht absehbar für Sie, nachdem Sie 53 schon gesehen haben?

    Stolpe: Die Angst war da, aber es war nicht, ich habe nicht geglaubt, dass das sofort wieder so sein würde, weil ich mir dachte, Ungarn ist doch ein bisschen weiter weg und das ist alles ein bisschen liberaler.

    Burchardt: Gulaschkommunismus.

    Stolpe: Ja, und ist auch vielleicht für die Sowjets nicht so interessant wie die DDR, so meine Einschätzungen. Ich habe damals schon ein bisschen geglaubt, dass Ungarn da einen anderen Weg gehen könnte. Es war ja auch nicht so, dass die völlig ausbrechen wollten aus dem Lager, die wollten nur ein bisschen ihre Tagesordnung selber bestimmen, und dann natürlich dieser Schrecken, als das dann mit Gewalt niedergeschlagen war. Nun ja, wir haben dann ja im gleichen Jahr noch in Polen ähnliche Ereignisse gehabt, eigentlich noch brutaler oder mindestens genauso brutal, und 68 in Prag. Ich bin immer ein bisschen geschockt, wenn jetzt hier in Deutschland ständig von den 68ern, dem Jahr 68 ... Für uns hatte 68 eine ganz andere Bedeutung. Für uns war das der Prager Frühling, das war die Hoffnung auf einen verbesserlichen Sozialismus, auf eine DDR, in der man sich freier bewegen konnte, in der man seine Meinung sagen konnte, in der man vor allen Dingen, was den Leuten ja allen wichtig war, reisen konnte.

    Burchardt: Auch wenn es ein Sprung ist, Herr Stolpe, aber dann bleiben wir doch mal dabei. Aber hat Sie dann nicht auch irritiert zumindest in der damaligen Zeit, dass auch DDR-Truppen dann mobilisiert worden sind gegen den Prager Frühling?

    Stolpe: Ich war dann ja inzwischen bei der Kirche tätig und wir hatten Protestbewegungen, wir hatten tapfere, junge Leute, die richtige Protestaktionen gemacht haben dagegen und wir waren dann ganz unmittelbar befasst damit, wie kann man diesen inzwischen inhaftierten Leuten auch helfen? Es gab dann auch eine Erklärung der Kirchenleitung Berlin-Brandenburg, ich glaube, wir waren ziemlich die einzigen, inzwischen ja geteilt in Ost und West durch die Mauer, die da eine Protesterklärung gemacht haben und merkten eigentlich zweierlei. Ich merkte auf der einen Seite, dass richtig Druck gemacht wurde. Es gab ja Entscheidungen in dem Jahr 68, wo man im Nachhinein erst mitbekommen hat, das hing mit Prag zusammen. Der Abriss der Universitätskirche in Leipzig, der Abriss der Garnisonenkirche in Potsdam - das waren Entscheidungen, die bewusst getroffen worden sind, weil es Protestbewegungen gab. In Leipzig und in Potsdam machten sich Bürgerbewegungen auf für den Erhalt dieser Kirchen und dann, obwohl man mit den örtlichen Organen einig wurde - kann doch ruhig bleiben, ist doch kulturhistorisch wertvoll -, wurde von oben entschieden: Wir müssen durchgreifen, es muss verstanden werden, wer hier der Herr im Hause ist und das ist nicht in Prag. Das war also die eine Seite, der Druck. Die andere Seite war, für mich auch erstaunlich, die Sympathie, die der Prager Frühling auch hatte bei Genossen der SED. Es gibt so ein paar Dinge ...

    Burchardt: Wurde das öffentlich ausgedrückt?

    Stolpe: Man konnte das in bilateralen Gesprächen erleben und ich habe es einmal ganz hautnah erlebt. Ich musste mit irgendeinem Menschen im Finanzministerium der DDR sprechen, ich weiß gar nicht mehr, worüber. Ich kann das gar nicht mehr sagen. Jedenfalls hatten wir einen Termin, ich ging dahin und der hatte eine tschechische Zeitung vor sich liegen. Und da kamen wir so ins Gespräch, und da sagte ich, ja, da wird sich ja auch ein bisschen was bewegen, und dann kam das eine Wort: hoffentlich. War eigentlich auch gewagt, was der Mensch da sagte, aber nun ja, wir waren ja nur zu zweit. Das war das Zweierlei. Die Hoffnung war weit verbreitet und die Angst bei der Partei und Staatsführung natürlich riesengroß und dann der Druck dagegen und die Enttäuschung: Wieder rollen die Panzer. Und Ulbricht war vermutlich einer von denen, die Breschnew noch zugeredet haben, die gesagt haben, das müsst ihr machen, das muss im Keim erstickt werden, sonst wird das hier eine Seuche, die um sich greift und dann kann man das nicht mehr aufrecht erhalten.

    Burchardt: Vielleicht noch mal zehn Jahre zurück, vor der Mauer. Sie sind teilweise, zeitweise auch als Gaststudent an der Freien Universität Berlin eingeschrieben gewesen. Waren Sie da, ja, wie soll ich sagen, ein Exot in der DDR, der dann auch doch immer mal in den Westen fährt, um zu studieren?

    Stolpe: Nein, das war ja alles ganz unkompliziert.

    Burchardt: Oder war das offiziell?

    Stolpe: Nein, ich musste ja keinen fragen, ich war ja inzwischen bei der Kirche angestellt, war als Jurist, als junger Referendar, da bei der Kirche, und da sagten mir meine Kirchenvorgesetzten, ich sollte doch zusehen, dass ich meine Kenntnisse noch erweitere. Ich hatte die komplette Ausbildung im Osten, und manches war ja inzwischen auseinandergelaufen. BGB hatten wir auch noch im Osten gelernt, aber manches war ja doch deutlich anders, insbesondere auch das Rechtsverständnis, Fragen des Grundsatzes und bis in die Rechtsphilosophie. Die sagten: Gaststudent. Ich war also tätig bei meiner Kirche, ich durchlief in der Zeit auch alle möglichen Stationen noch, war da auch noch parallel einige Monate bei einem Rechtsanwalt vermittelt worden, auch von meiner Kirchenleitung hier, und war dann komplett Gaststudent dort, habe alle meine Scheine gemacht und dann baute Walter Ulbricht die Mauer, kurz bevor ich das Examen machen konnte. Das einzige, was ich nicht gemacht hätte, trotz richtiger, runder Angebote: in den Westen zu gehen.

    Burchardt: Ja, das wäre jetzt noch die Frage. Sie haben doch dann gesehen, wie man dort lebt im Unterschied zum Osten. War das nie für Sie attraktiv, umzusiedeln?

    Stolpe: Wir hatten richtige Diskussionen mit meiner Frau, dass sie sagte, wir hätten ja auch Verwandte in München und München wäre doch eine wunderschöne Stadt und warum soll man sich das alles hier antun? Ich habe dann gesagt, ich bin hier der letzte, der das Licht ausmacht. Ich gehe erst nach Ulbricht. Das mag pommersche Sturheit sein, das mag auch ein bisschen was mit meiner Grundmotivation zu tun haben, denn ich bin von klein auf von meiner Mutter gehalten worden und erzogen worden, doch der Kirche und dem Glauben nahe zu sein. Hier weggehen, das kam für mich eigentlich nicht in Frage.

    Burchardt: Aber es war ja nicht nur Glaube, in dem Fall der christliche Glaube, sondern auch die Frage, glaube ich an ein besseres Deutschland, glaube ich daran, dass irgendwann mehr Gerechtigkeit eintritt und kann ich etwa in meinem Engagement für die Kirche und in der Kirche auch wirklich etwas bewegen?

    Stolpe: Das wuchs dann im Laufe der Jahre mehr und mehr, dass man wirklich etwas bewegen kann, allerdings mit sehr langem Atem, mit großer Geduld und immer möglichst - ich habe das gelegentlich so ausgedrückt, das ist ein bisschen blödes Bild -, möglichst doch drei Zentimeter vom elektrischen Zaun entfernt, also, nicht zu dicht rangehen an die Gefahr und das hieß im Klartext ja bei uns, an die Gefahr von Eskalation und Gewalteinsatz. Dann ist ja sowohl der Einzelne als auch eine Organisation wie die Kirche da nicht mehr in der Lage, etwas zu tun. Wir haben ein Bild gehabt, das da immer wieder eine Rolle spielte, auch bei den verschiedensten Diskussionen, dass das weiche Wasser doch den Stein verändern würde. Und je länger man in der Aufgabe drin war, umso mehr merkte man, auch gerade im Rückblick, was leichter geworden war.

    Burchardt: Gab es wirklich diese spürbare Entwicklung?

    Stolpe: Die gab es. Die war mit Händen zu greifen. Das war zunächst mal der Schock der Mauer, der Schock des Eingesperrtseins und des Ausgeliefertseins, aber dann auch die Erfahrung, die man ganz schnell machte, immerhin, es gibt etliche Millionen Christen in dem Lande, etliche Millionen Leute, die sich gegen den politischen Wind zur Kirche halten, Mitglieder sind und bezahlen, obwohl es keinen staatlichen Kirchensteuereinzug gab, und die Erkenntnis: Dieser Staat, in allen Bereichen, braucht diese Leute. Da nun gerade dieses SED-System ja darauf aufgebaut war, dass es in alle Führungsspitzen, politischen Spitzen, aber auch bis in die Wirtschaft und Verwaltung hinein SED-Leute hatte. Die ganz konkrete, praktische Arbeit machten die anderen, weithin, die nicht politisch gebunden waren und nicht in der SED waren, und das waren zum nicht unerheblichen Teil auch Christenleute.

    Burchardt: Mussten Sie in die SED eintreten, ging man an die Kirchenleute ran, zu sagen ...

    Stolpe: Nein, wir waren raus aus dem. Das Problem gab es da nicht. Aber viele andere wurden natürlich aber noch bedrängt, und das war natürlich auch eine Möglichkeit, sich vor einem Bedrängen zur SED-Zugehörigkeit zu bewahren, indem man als Mensch in der Produktion auch bis hin zum Abteilungsleiter dann eben seine kirchliche Bindung deutlich machte. Da gab es aber so eine Faustregel wohl offenbar bei der SED der Unvereinbarkeit, also, wer da zugehört, die lassen wir dann doch wohl in Ruhe.


    Verstrickungen von Kirche und Stasi

    "Die nahmen uns so lange ernst, wie sie das Gefühl hatten, die Kirchenleitung hat die Gemeinden hinter sich."



    Burchardt: Wir kommen jetzt zu sicherlich einem der heikelsten Themen Ihrer Geschichte, Ihrer Biografie. Sie werden ab 1970 als IM Sekretär geführt in den Stasiakten. Sie haben auch nie in Zweifel gestellt, dass Sie Kontakt hatten als Kirchenmann zur Stasi. Zunächst mal die Frage: Ist der Kontakt von Ihnen ausgegangen oder ist man an Sie rangetreten und was war die Motivationsebene von beiden Seiten?

    Stolpe: Es hat sich daraus ergeben, dass ich schon sehr frühzeitig so eine Art Verhandlungsbeauftragter war.

    Burchardt: Vom Bund der evangelischen Kirche Deutschlands.

    Stolpe: Ja, sowohl von der brandenburgischen Kirche als auch vom Bund. Das hing natürlich ein bisschen damit zusammen, dass ich ja diese juristische Ausbildung Ost hatte und hing auch damit zusammen, dass ich mich nie gefürchtet habe vor denen. Zum Teil kannte man die ja vom Studium her, was sich gelegentlich als sehr nützlich erwiesen hat, wenn man da irgendwo zum Rat des Bezirkes Magdeburg ging und feststellte, der Mensch, mit dem du jetzt versuchen musst, ein großes Problem zu lösen, mit dem hast du ja gemeinsam studiert. Das wussten natürlich meine Kirchenoberen und da die meisten Juristen dort im Kirchenapparat der älteren Generation angehörten, die also auch nie so eine richtige Antenne dann hatte im Umgang mit den Funktionären der DDR, ergab sich das. Ich wurde also da hingeschickt und machte das auch.

    Burchardt: Von der Kirche wurden Sie beauftragt, Kontakt aufzunehmen?

    Stolpe: Ich war der Beauftragte der Kirche für im Grunde genommen alle anstehenden Probleme der unterschiedlichsten Art. Das hing natürlich damit zusammen, dass man kirchliche Veranstaltungen sichern musste, dass man dann später nach dem Mauerbau auch sichern musste, das Besucher einreisen konnten, das größte Problem war immer, wenn man versuchen musste, mal einen Bischof oder einen anderen wichtigen Menschen der Kirche aus dem Westen reinzuholen - die wurden immer mit äußerster Angst betrachtet -, oder auch, wenn es wichtig war, dass Leute von uns zu international kirchlicher Arbeit gingen. Das andere waren dann aber mehr und mehr und in der zweiten Hälfte der 70er-Jahren und 80-er Jahren verstärkt Probleme, die die Menschen hatten. Das waren Inhaftierte, das waren dann später Menschen, die verzweifelten, weil sie nicht die Ausreise bekamen, das waren auch nicht ganz wenige junge Menschen, die Probleme hatten an Schulen, an Ausbildungsstätten wegen ihrer kirchlichen Haltung und da musste man ja mit all denen reden.

    Burchardt: Hatten Sie das Gefühl, dass Sie ein offenes Ohr finden im Interesse dieser Menschen, für die Sie da waren, oder hatten Sie eher, nachträglich betrachtet, vielleicht dann doch die Erkenntnis, mein Gott, ich bin da abgeschöpft worden?

    Stolpe: Sie sprechen jetzt mehr von der Staatssicherheit, ich spreche von dem gesamten Verhandlungsauftrag. Die Staatssicherheit ist ein Teil davon.

    Burchardt: Aber immerhin nicht unwichtig.

    Stolpe: Ja, das habe ich auch gelernt, dass das ein ganz wichtiger Teil war, aber es war natürlich Staatsapparat, es waren Parteien, es waren auch die Spitzen der CDU, und das war eine Erfahrung, die ich da machte im Lauf dieser Jahre, der vielleicht alles in allem weit über 1000 Gespräche, die ich mit verschiedensten Leuten da zu führen hatte, dass es trotz dieser sogenannten Einheit der Staatsgewalt doch Unterschiede gab. Und es machte immer Sinn, da zu reden und da zu reden und da zu reden und sich ein Bild zu machen, auch von den Möglichkeiten, die man hatte, und das erste, was ich dann doch sozusagen als Stärke für die kirchliche Verhandlungsposition ansah: Die nahmen uns so lange ernst, wie sie das Gefühl hatten, die Kirchenleitung hat die Gemeinden hinter sich.

    Burchardt: Sie waren ein Machtfaktor.

    Stolpe: Wir waren eine Realität. Wir waren einfach eine Realität in dem Lande, entgegen der Hoffnungen der Ideologen, dass Religion unwissenschaftlich und falsch ist und verschwindet ganz schnell. Wir waren einfach eine Realität da. Das war eine ganz wichtige ... und die andere Erfahrung, die dann auch wuchs ab Anfang der 70er-Jahre: Für den Staat war schon spannend, dass wir ungebrochen unsere Kontakte zu den Kirchen der Bundesrepublik hatten. Obwohl immer wieder gedrängt worden war, das abzubrechen: Die Kontakte waren geblieben, das heißt, wir hatten einen direkten Draht zu den Kirchen dort, die ließen uns auch nicht fallen, die unterstützten uns, was auch spannend wurde. Die unterstützten mit Valuta-Zahlungen, dadurch konnten wir bauen, konnten in der Diakonie eine Menge machen, Krankenhäuser bauen, konnten Kirchen bauen, und auch das war hochinteressant.

    Burchardt: Waren Sie da nicht verdächtig gegenüber den Staatsoberen der DDR durch diese Kontakte und Subventionen?

    Stolpe: Wir waren immer etwas verdächtig, und das Schöne ist ja, dass es über mich ja ganz unterschiedliche Akten gibt. Es gibt die einen, die Gesprächspartner der Staatssicherheit, mit denen ich dann auch redete - ich sage auch gerne noch, welche Themen da anstanden -, die sozusagen sich brüsteten gegenüber dem eigenen Apparat: Wir haben da einen, wir haben da einen, mit dem man vertrauensvoll reden kann und eigentlich ist das ja unser Mann und ich kriegte dann 1990 mit, dass ich da von denen registriert war. Das war schon eine spannende Geschichte dabei. Das andere war natürlich immer dies, das versucht werden musste, für Menschen was rauszuholen, und das waren die beiden Faktoren, auf deren Hintergrund, das war ja der Ausgang Ihrer Frage, auf deren Hintergrund dann doch Bereitschaft war, nachzugeben. Und das wurde im Laufe der Jahre immer wichtiger, dass man auf die Politik im Westen guckte. Die Entspannungspolitik war eine unglaubliche Unterstützung für die Arbeit, der Druck ließ nach, auch die Neigung, mit Gewalt vorzugehen, ließ erkennbar nach. Es waren auch die Journalisten im Lande, die berichteten sofort, und es zog sich dieser Gewaltapparat sozusagen Samthandschuhe an.

    Burchardt: Mit Ihrem Wissen von heute, würden Sie das noch mal so machen, wie Sie es damals gemacht haben?

    Stolpe: Unbeirrt. Ich würde vielleicht ein, zwei Leuten mehr sagen aus den eigenen Bereichen. Ich habe mit einigen mich da ausgetauscht, aber ich habe ... Bei einem habe ich immer ein schlechtes Gewissen, bis auf den heutigen Tag, das ist der verstorbene Bischof Forck. Da hatten wir eine von meinem Empfinden auch so ein bisschen eine Arbeitsteilung, ich zuständig für die allervorderste Frontlinie und auch für die Dreckarbeit, wenn Sie so wollen, und Gottfried Forck, der hat mir nie übelgenommen, dass ich mit allen möglichen Leuten, einschließlich der Staatssicherheit, geredet habe, aber hat zu mir gesagt: Das hätten wir doch auch gemeinsam machen können.

    Burchardt: Sie haben irgendwann dann die Verdienstmedaille der DDR bekommen. Finden Sie das nicht komisch?

    Stolpe: Nein, das war ja sozusagen eine Massenware, die da ausgeworfen worden ist, und das war nach den Gesprächen, die wir dann 78 geführt haben, die Spitzen der Kirche mit dem Staat, da sind offenbar viele Leute da geehrt worden und da kamen die also auch die Idee, dass ...

    Burchardt: Haben Sie sich denn nicht mal gefragt, Mensch, wofür habe ich den jetzt gekriegt?

    Stolpe: Nein, ich habe nie darüber nachgedacht, ob ich da ein gutes Werk gemacht habe, sondern dass die das natürlich auch geben, um zu unterstreichen, das ist jemand, mit dem man vernünftig zusammenarbeiten kann und das hat das sozusagen auf den Radarschirm des gesamten Staatsapparates gehoben. Für mich war eigentlich nur die einzige spannende Frage, die uns in vergleichbaren Situationen auch bei anderen Leuten bewegte, auch bis hin zu Diakonissen, die ausgezeichnet wurden, weil sie sich um die Menschen gekümmert hatten: Nimmt man so was an oder nicht? Und da habe ich mich entschieden, wie mancher andere auch: Man nimmt das, weil es natürlich auch eine Bestätigung war der Bereitschaft, vernünftig, konstruktiv, in beiderseitigem Interesse zusammenzuarbeiten.

    Burchardt: Das war 1978.

    Stolpe: Das war 78, ja.

    Burchardt: Das heißt, die DDR sollte dann noch elf Jahre bestehen. Das konnten Sie ja auch damals gar nicht wissen. Hinterher ist man ja immer viel schlauer. Trotz allem: Hat es Ihnen geholfen bei Ihren Kontakten? Konnten Sie dadurch noch mehr für Menschen tun?

    Stolpe: Ja, ich denke schon. Es war so, dass eine Verweigerung dieser Auszeichnung ja doch eine Art Trennungsstrich gewesen wäre, also, eigentlich will ich mit dem System ja nichts zu tun haben. Ich nehme nichts von denen. Die Diakonissen hatten es da leichter. Das war eben sozusagen ein Ausdruck ihres besonderen Status, den sie hatten, und dadurch, dass ich das ohne großen Aufwand dann doch nicht verweigert habe, war die Gesprächsführung leichter.



    Der Fall der Mauer und die Folgen

    "Honecker und Mielke, die wollten eigentlich in der DDR einen Platz des himmlischen Friedens irgendwo haben."

    Burchardt: Wie sehen Sie denn, nachträglich betrachtet, den Anteil der Kirche in der DDR am Zusammenbruch des Systems?

    Stolpe: Es lohnt, sich darüber genauer zu informieren, zum Glück gibt es ein paar kluge Leute, die darüber auch sehr gründlich gearbeitet haben, Herr Hanke zum Beispiel, der da ein sehr umfangreiches Werk geschrieben hat über die Rolle der Kirchen, und es ist nach meiner Überzeugung so, dass sowohl die Kirchen - ganz speziell die evangelische Kirche, die katholische hat sich ja ein bisschen rausgehalten - als auch die westliche Politik mit daran Anteil hatten, dass das System doch zurückhaltender wurde im Umgang mit seinen Machtinstrumenten und darauf verzichtet hat, mehr und mehr brutale Gewalt einzusetzen.

    Burchardt: Waren die schlau?

    Stolpe: Nein, das war ein schwieriger Prozess, das war bei denen eigentlich ... Und die waren ja immer zwei unterschiedliche Linien. Am dramatischsten fand ich die Oktobertage, 1989, Sie haben das vielleicht mitbekommen, es wurden mehr und mehr Demonstrationen, die Montagsdemonstration war das eine, aber dann gab es ja auch die Auseinandersetzungen in Dresden Anfang Oktober, verbunden mit Menschen, die ausreisen wollten, und dann die hochspannende Demonstration am 7. Oktober in Ostberlin. Im Palast der Republik wurde gefeiert, da saß Gorbatschow, da saß Honecker, und mehrere tausend Menschen kamen an die Spree gegenüber vom Palast der Republik und riefen: Gorbi, wollen Meinungsfreiheit und Ähnliches. Und in dieser Nacht, das habe ich ziemlich zuverlässig erfahren, hat einerseits stattgefunden, dass die ja zusammengeschlagen wurden, die Demonstranten - auf übelste Weise, aber andererseits der Gorbatschow sowohl zum Honecker als auch zum Krenz gesagt hat, diese Methode, das wird so nichts. Und der Krenz hat dann ja tatsächlich am 9. Oktober, den Montag danach, in Leipzig den Befehl verweigert. Er hat nicht seine Truppen eingesetzt.

    Burchardt: Er war zunächst für die chinesische Lösung und dann wurde die weggedrückt.

    Stolpe: Er war nicht für die chinesische Lösung, sondern Honecker und Mielke, die wollten eigentlich in der DDR einen Platz des himmlischen Friedens irgendwo haben - am liebsten in Leipzig, glaube ich, weil dort hätte es sich gelohnt und man hätte das auch gut umzingeln können -, und der Krenz und etliche andere setzten mehr auf Gorbatschow. Die dachten, das wird so nichts. Und dann ist ja wenige Tage später der Honecker gestürzt worden und Krenz hat dann am Tag danach der Kirchenführung sozusagen das Reformprogramm angeboten. Um Sie da noch mal mit Ihrer Frage zufriedenzustellen: Der Anteil der Kirchen durch die Öffnung von Kirchen, durch die Ermöglichung von Gruppen in den Kirchen an dieser friedlichen Revolution ist ganz entscheidend gewesen. Es gab ja kluge Leute, die haben gesagt, es sei eigentlich eine protestantische Revolution gewesen. Protest gezielt, unnachgiebig, aber letzten Endes gewaltlos, Kerzen statt Steinen, die geworfen wurden, und einer der Spitzenfunktionäre hat ja dann auch gesagt, wir waren auf alles vorbereitet, aber nicht auf Kerzen.

    Burchardt: Sie sind 1990 dann nach dem Mauerfall relativ schnell in die SPD eingetreten.

    Stolpe: Na, relativ schnell nicht.

    Burchardt: Was haben Sie da erwartet aus der SPD? Wäre es auch möglich gewesen, dass Sie in die CDU ... Denn die CDU trug ja auch durchaus die kirchlichen Bewegungen damals.

    Stolpe: Nein, ich bin auch schon im Dezember des Jahres 1989 angesprochen worden, ob ich mich nicht beteiligen würde bei der Allianz für Deutschland, also bei der CDU. Das war eine Zeit, wo ich glaubte, man braucht keine Partei. Die haben nur ihren Selbstzweck da und das muss nicht sein, und man kann vielleicht von außen her mehr Einfluss nehmen. Das war noch so ein bisschen die Illusion: So wie man eben in der zweiten Hälfte der 80er-Jahre dann doch im Zusammenspiel auch mit anderen, auch nicht zuletzt mit dem Westen, dann etwas bewegen konnte, aus der zweiten, aus der unauffälligen Reihe heraus, das lässt sich fortsetzen. Und deswegen habe ich damals gesagt, nein, ich gehe nicht in eine Partei, und dann kam die Entwicklung ja rasant schnell. Es war ja sozusagen ein Sturzflug in die Einheit hinein, noch im November, Dezember hatte ja keiner so ganz richtig geglaubt, dass die deutsche Einheit kommt, dann kam sie doch, das war erkennbar, und es war zugleich erkennbar, dass dies ein gewaltiger Umbruch des Systems werden würde.

    Burchardt: Kam die Einheit zu schnell? Es gab ja im Juli schon die Währungsunion.

    Stolpe: Nein, nein, die kam nicht zu schnell, aber man war, glaube ich, nicht ganz gut darauf vorbereitet, das so zu machen. Aber das ist immer schlau, hinterher zu reden. Aber eins war völlig klar. Es würde Belastungen geben für die Menschen, es würde durch die Marktwirtschaft die Notwendigkeit sein, dass die Unternehmen straffer arbeiten, dass sie sich behaupten mussten auf dem Markt, Unternehmen, die gar keine Markterfahrung hatten. Das war ja eine staatlich geleitete Wirtschaft. Das würde Arbeitslosigkeit mit sich bringen, Betriebszusammenbrüche, der Ostmarkt würde möglicherweise verloren gehen, der ganze osteuropäische Markt. Man würde erleben müssen, dass Mieten teurer werden, denn diese ständigen Subventionen würden nicht gehen, und man würde eben auch Enttäuschungen haben in der Handhabung von Freiheit, dass Freiheit viele Möglichkeiten gibt, aber nicht alle Möglichkeiten genutzt werden können, wenn man nicht die nötige Ausstattung hat. Und da habe ich angefangen zu werben dafür, da habe ich Interviews gegeben, immer noch von meiner Kirchenfunktion her, habe gesagt, Leute, seid vorsichtig, denkt daran, hier muss mehr gemacht werden. Ich bin damals rumgereist bis hin zum damaligen Ministerpräsidenten vom Saarland und habe gesagt - obwohl ich noch gar keine Funktion hatte, ich war parteiloser Kirchenmann -, ...

    Burchardt: Das war Oskar Lafontaine.

    Stolpe: ... der hieß Oskar Lafontaine, und habe gesagt, wie habt ihr das eigentlich im Saarland mit dem Beitritt gemacht?

    Burchardt: Wobei Lafontaine ja dagegen war, zumindest gegen das Tempo.

    Stolpe: Lafontaine hat natürlich auch Probleme gesehen, aber hatte auch politische Interessen, das ist klar. Lafontaine hat klar erkannt, dass eine schnelle Einheit CDU-Stimmen bringen würde. Die hat es ja auch gebracht. Und meine Frage war immer die, wie ist das mit dem Beitritt gewesen des Saarlandes? Nun war ja diese DDR ein viel größerer Brocken. Wie macht man das am besten? Und da bin ich ein bisschen enttäuscht, dass wir zwar einen schönen Einigungsvertrag haben, aber dass der Beitrittsvertrag des Saarlandes sehr viel stärker Rücksicht darauf nimmt, was mit der Wirtschaft wird, was mit den Leuten wird, wie man mit den Finanzen zurechtkommt, wie man ein bisschen einen geschützten Raum da noch schafft.

    Burchardt: Wir sprechen über das Jahr 1955, was das Saarland angeht.

    Stolpe: Die haben zehn Jahre Übergangszeit gehabt, zehn Jahre! Und das ist sehr schnell gemacht worden und das war schon bezeichnend, dass dann der Bundesbankpräsident Pöhl sagte, das geht zu schnell, die brechen da zusammen.

    Burchardt: Es geht wirklich zu schnell, Herr Stolpe, uns läuft die Zeit davon.

    Stolpe: Das war der Moment, wo ich mir sagte, wir brauchen doch politische Kräfte, die das sehen und die dann bremsen, und dann deshalb die Entscheidung im Juli, zur SPD zu gehen.

    Burchardt: Wie war Ihr Gefühl als Ministerpräsident Brandenburgs, plötzlich dann Teil eines neuen Deutschlands zu sein und hatten Sie das Gefühl, in dieser Machtposition jetzt auch wirklich für die Menschen etwas tun zu können? Oder haben Sie damals schon geahnt, dass es die blühenden Landschaften, die Helmut Kohl versprochen hat, so schnell nicht geben würde?

    Stolpe: Geben schon, aber eben mit einer großen Differenzierung, das ist ja das Problem, was wir hier gegenwärtig im Osten bewältigen müssen. Wir haben Regionen, die sich fantastisch entwickeln, und wir haben Regionen, wo man sagen kann, die sind fast ein bisschen abgehängt. Nein, ich habe eigentlich konsequent aus dieser Besorgnis heraus, die sich bei mir im Frühjahr 90 entwickelt hat ... Es kommen hier gewaltige Probleme auf die Leute zu und die allermeisten sehen das nicht, die allermeisten sehen die D-Mark und sehen die neuen Freiheiten und finden das alles wunderbar und man muss jetzt zusehen, wie man Bedingungen schafft, dass das abgefedert wird und dass die Menschen wirklich auch ankommen in dem neuen System, dieser sehr gewaltigen Umbruchsituation. Und das war meine Hauptsorge, die ganzen Jahre hindurch: Wie kriegt man das so hin, dass die Menschen nicht die eigentlichen Verlierer sind dabei? Da spielte Arbeitsförderung eine Riesenrolle, da spielte meine sehr enge Zusammenarbeit mit Regine Hildebrandt eine große Rolle, wie man soziale Bedingungen schafft, wie man Stützung und Überleitungen schafft.

    Burchardt: War die Patenschaft zu Nordrhein-Westfalen oder mit Nordrhein-Westfalen sinnvoll?

    Stolpe: Das war entstanden auch aus einer uralten Freundschaft zu Johannes Rau, wir kannten uns auch aus Kirchenzeiten her und er hat auch zum Schluss den Anstoß gegeben, dass ich mich nicht drücken sollte, wenn einer gesucht wird als Ministerpräsident in Brandenburg. Das hat uns sehr geholfen, auch durch zahlreiche Aufbauhelfer, die wir bekommen haben, denn wir sind ja auch in Verwaltung und Recht in ein ganz neues System hineingekommen, über Nacht vom 3. Oktober hin 1990 galten 32.000 neue Paragraphen. Alles war ganz anders strukturiert und da haben uns die Aufbauhelfer in diesen ersten Jahren sehr geholfen, dass man sich zurechtfindet, dass man nicht immer in der Irre herumläuft, wenn man in dem neuen gemeinsamen Deutschland unterwegs ist.

    Burchardt: Herr Stolpe, wenn Sie Ihr politisches Leben resümieren, wie würden Sie das in einen Satz fassen?

    Stolpe: Ich würde sagen, es ist eine Kontinuität gewesen im Streben nach Verbesserung, nach Verbesserung für die Menschen.

    Burchardt: Vielen Dank!