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Ein Mann voller Abgründe

Er war ein Lebemann und zugleich ein tiefreligiöser Christ. Sören Kierkegaard gilt außerdem als Wegbereiter des Existenzialismus. Er vertrat die Auffassung, dass Wahrheit nicht ohne subjektive Erfahrungen zu finden ist. Bis heute prägen seine Schriften die Theologie und Philosophie.

Von Anna Gann | 05.05.2013
    "Kierkegaard war […] eine echt nordische Gestalt von unheimlichen Klüften und unauslotbaren Abgründen […] [Er] war einer der geheimnisvollsten Menschen, die je gelebt haben."

    Der prominente Schweizer Kirchenhistoriker Walter Nigg über den dänischen Theologen und Philosophen Sören Kierkegaard.

    "Ich bin ein religiöser Schriftsteller","

    sagte Kierkegaard über sich selbst. Der unbequeme Wahrheitssucher gilt als einer der größten Denker der Neuzeit. Und er war ein streitbarer Christ. Gegen die Bequemlichkeit, die er der Christenheit seiner Zeit vorwarf, stellte er die Überzeugung: Der Glaube müsse sich konkret im Leben widerspiegeln.

    ""Christus hat keine Dozenten angestellt, sondern Nachfolger."

    Sören Kierkegaard wurde am 5. Mai 1813 als jüngstes von sieben Kindern in Kopenhagen geboren. Ein schwächlicher Junge, geprägt von der Schwermut des Vaters, eines wohlhabenden Wollhändlers und strenggläubigen Christen.
    Als junger Student legte Sören Kierkegaard sich den Ruf eines Dandys zu. Er liebte die Oper, Kaffeehäuser und auffällige Kleidung und pflegte mit dem Geld seines Vaters einen aufwendigen Lebensstil. Die Trennung von seiner Verlobten nach nur einem Jahr verursachte einen Skandal im bürgerlichen Kopenhagen. Doch vor allem quälte ihn die Frage, welche Richtung er seinem Leben geben sollte. Mit 23 Jahren notierte er in sein Tagebuch:

    "Es gilt, eine Wahrheit zu finden, die Wahrheit für mich ist, […] Was nützte es mir, dass die Wahrheit kalt und nackt vor mir stünde, gleichgültig dagegen, ob ich sie anerkennte oder nicht […]?"

    Das war eine Absage an das verbreitete Denken, die Vernunft sei das maßgebliche Mittel zur Erkenntnis der Wirklichkeit. Kierkegaard dagegen glaubte, Wahrheit sei nicht ohne subjektives Erfahren zu finden. Sie müsse sich am Ich, an der eigenen Existenz, festmachen. Deswegen rückten für ihn Themen wie Verzweiflung, Sünde, Schwermut, Sehnsucht, so genannte "existenzielle Begriffe", in den Mittelpunkt. Dem "Begriff der Angst" widmete er ein eigenes Werk.

    "Dies ist ein Abenteuer, das jeder Mensch zu bestehen hat: er muss lernen, Angst zu haben, damit er nicht verloren sei […] wer daher gelernt hat, auf die rechte Weise Angst zu haben, der hat das Höchste gelernt."

    Der Theologe Heiko Schulz, Mitherausgeber der deutschen Kierkegaard-Gesamtausgabe:

    "Er ist derjenige, der den Begriff Angst entdeckt für die Philosophie und auch für die Theologie. Die Tatsache, frei sein zu können, uns entscheiden zu können, beunruhigt uns. Und eben das Medium, in dem wir dessen zum ersten Mal ansichtig werden, sagt Kierkegaard, das ist eben die Angst. Das Objekt der Angst bin ich eigentlich selber, meine eigene Freiheit."

    Seine Gedanken entfaltete Kierkegaard in mehr als 20 Büchern – meist unter Pseudonym –, in seinen umfangreichen Tagebüchern und in zahlreichen weiteren Veröffentlichungen. Der Begründer der so genannten "Existenzphilosophie" beeinflusste viele spätere Denker wie Jean Paul Sartre, Martin Heidegger und Karl Barth. Zu Lebzeiten erfuhr er indes vor allem Ablehnung. Seine Überzeugung, der einzelne Mensch müsse Wahrheit und Glauben selbst suchen und finden, barg Sprengstoff. Insbesondere stellte er damit den Anspruch religiöser Autoritäten infrage, sie allein könnten unverrückbare göttliche Wahrheiten erkennen und vermitteln. Und so zog der rebellische Glaubensschriftsteller den Zorn der dänischen protestantischen Staatskirche auf sich. Zumal er mit beißender Ironie gegen den Klerus wetterte und ihm Selbstgefälligkeit und Verfälschung der christlichen Botschaft vorwarf.

    "In dem prachtvollen Dom erscheint der hochwohlgeborene, hochwürdige Geheime General-Ober-Hof-Prediger, der erwählte Liebling der vornehmen Welt, er tritt vor einen auserwählten Kreis von Auserwählten und predigt gerührt über den von ihm selbst ausgewählten Text: ‚Gott hat das in der Welt Geringe und Verachtete auserwählt‘ – und niemand lacht."

    Sören Kierkegaard starb am 11. November 1855, mit 42 Jahren, nach einem Schlaganfall. Wenige Monate vor seinem Tod bekannte er:

    "Ich will Redlichkeit. Auf Verbitterung und Raserei und Ohnmacht und Geschwätz kann ich überhaupt keine Rücksicht nehmen. Ich vertrete auch nicht christliche Strenge gegenüber einer christlichen Milde. […] Ich vertrete menschliche Redlichkeit."


    Mehr zum Thema:

    Jugendjahre und das romantische Lebensgefühl - Serie "Sören Kierkegaard" (Teil 1)

    Der Einzelne und die Massengesellschaft - Serie "Sören Kierkegaard" (Teil 2)

    Das Christentum ist keine Lehre - Serie "Sören Kierkegaard" (Teil 3)