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Ein Mediziner auf dem Prüfstand

Der Norweger Ketil Bjørnstad ist nicht nur ein Kultautor, sondern auch ein gefeierter Komponist und Jazzpianist. Die Musik ist für ihn neben der Sprache ein unverzichtbares Ausdrucksmittel. In seinem neuen Roman "Die Unsterblichen" ist jedoch die einzig Stimme, die eines verzweifelten Ichs.

Von Carola Wiemers | 29.03.2012
    Die Zeiten sind zwar vorbei, da Ärzte als Tugendwächter auf der Bühne - etwa in Dramen Henrik Ibsens - agierten. Doch ist der Status des Mediziners noch immer von einer seltsam autoritären Aura umgeben. Der Norweger Ketil Bjørnstad greift in seinem jüngsten Roman diese literarische Tradition auf und schafft einen ganz neuen Typus. Auf dem berühmten Holmenkollhügel, wo sich Oslo von der wohlhabendsten Seite zeigt, kümmert sich der 58-jährige Arzt Thomas Brenner um das Wohlbefinden der Upper Class. Er ist ein moderner, aufgeklärter Mensch, der das perfekte Lebensmodell in der westlichen Hemisphäre verkörpert. Sein Beruf verschafft ihm ein enormes privates Vermögen und öffentliches Ansehen.

    Doch Bjørnstad zeigt Brenner von Anbeginn als eine in seinem Inneren aufgewühlte und zerrissene Figur. Der Arzt weiß, dass etliche seiner Behandlungen, vor allem im hohen Alter, wirkungslos sind. Dennoch verschreibt er täglich die begehrten Beruhigungsmittel, Herzkreislaufpillen und Blutdrucksenker. Er ist längst Teil eines gigantischen pharmazeutischen Apparats geworden. Ein Erfüllungsgehilfe, dessen Praxis einer gerontologischen Versorgungsanstalt gleicht, in der eine Generation von "Unsterblichen" recht leichtfertig bedient wird.

    "Hier drinnen ließ sich alles ordnen, solange er hinter dem Schreibtisch saß, den weißen Arztkittel anhatte mit Blutdruckmesser und Stetoskop in Reichweite. Er war ja wie ein Psychologe, dachte er oft, wenn ihm die Fachärzte Informationen schickten. Die medizinische Wissenschaft war zu kompliziert geworden, um immer auf dem neuesten Stand zu sein. Seine wichtigste Aufgabe war es, Autorität zu zeigen, so zu tun, als wüsste er Bescheid über alles, was er sagte, damit der Patient das Gefühl von Hoffnung hatte."

    Mit seinem Protagonisten stellt Bjørnstad die Existenz eines Mediziners auf den Prüfstand, der sich im Jahr 2009 in einem tief greifenden Werte- und Sinnverfall befindet. Angesichts der moralischen Konsequenz seines Handelns gerät Brenner in einen Sog quälender Reflexivität. Eine Eigenschaft, die er aus Gründen perfekten Timings im Alltag und ökonomischer Betriebsamkeit eigentlich verachtet. Beruf, Familie und Freunde erscheinen ihm plötzlich wie eine Zwangsjacke, aus der er sich nicht mehr befreien kann. Manisch kreisen seine Gedanken um die wirklich ernsten Krankheitsfälle, denen der Arzt trotz modernster Technik machtlos gegenübersteht, um die hochbetagten Eltern, die nicht ins Pflegeheim wollen und um die längst erwachsenen Töchter, für die er noch immer finanziell verantwortlich ist. Da Brenner jegliches Talent zum Zyniker fehlt, vermag er die Absurdität seines Zustands weder auf Distanz zu halten, noch in den Griff zu bekommen.

    "Abwesend und beklommen starrte er hinaus in den Oktobertag vor dem Fenster, das intensive gelbe Laub, das noch an den Bäumen hing, die Stadt und weit unten der Fjord, darüber der rötliche Nachmittagshimmel, der ihn immer an Munchs Schrei erinnerte, ein Gedanke, der ihm banal vorkam und schmerzliches Unbehagen erzeugte, manchmal sogar Panik, ohne dass er wusste, warum."

    Bjørnstad leuchtet die wunde Innenwelt seines Protagonisten in obsessiven Selbstgesprächen und albtraumartigen Bildern aus. In einem erzählerischen Tunnelblick schrumpft die Welt Brenners zu einem einzigen Schmerzpunkt zusammen. Zunehmend von psychosomatischen Symptomen geplagt, erscheint dem Arzt der eigene Körper wie ein Labyrinth, aus dem es kein Entrinnen mehr gibt.

    "Der schnelle Puls kam in gewaltsamen Stößen. Er merkte, dass ihm der Schweiß auf der Stirn stand, und er fühlte sich krank. Während er sich ankleidete, quälte ihn der Gedanke, dass er sowenig fühlte. Dass er innerlich seltsam tot war, so wie ihm einige Chirurgen erzählt hatten, dass sie bei besonders schwierigen und entscheidenden Operationen, bei denen das Leben des Patienten auf dem Spiel stand, gefühlsmäßig ziemlich gleichgültig waren."

    Schließlich treten Arzt und Patient in der Brenner-Figur zu einem feindseligen Duell an. Als konsequenter Verfechter der Schulmedizin weigert er sich einzusehen, dass sein Körper eine eigene Wirtschaft führt, die auch er zu respektieren hat. Gleichzeitig aber beginnt er zu ahnen, warum sich seine Frau dem Buddhismus zugewandt hat. Heimgekehrt von einer Reise nach Baku, empfand sie ihr Leben "an der Spitze der Geldpyramide" plötzlich als unangemessen privilegiert. Sie verzichtete auf eine Karriere, um fortan jeden Augenblick bewusst zu leben. Einfach nur existieren, das sollte ihr genügen. Damals hatte er ihren Sinneswandel mit einem ungläubigen Kopfschütteln quittiert. Doch nun, da die Raster der Logik und Rationalität, mit denen der Humanist Brenner seinen Lebenssinn begründet, außer Kontrolle geraten, beginnt er zu verstehen, was sie mit dem Begriff der "Achtsamkeit" gemeint hatte.

    "Langsam, aber durchaus spürbar, hatte sich seine Welt, seine überschaubare, sinnvolle Welt, verändert, war zunehmend von Stress, Sinnlosigkeit und der Orientierung am Geld bestimmt. Diese abendländische Kultur, zu der er gehörte, war ihm mehr und mehr ein Rätsel."

    Während der Arzt in ihm hartnäckig versucht, sich als Instanz absoluten Vertrauens nicht selbst zu demontieren, nimmt ihn Edvard Munchs "großer, unendlicher Schrei durch die Natur" immer mehr in Besitz. Im Schrei der nackten Kreatur drängen sich das Bild der Eltern, vor allem das der Mutter, sowie die Zeit der Kindheit in den Vordergrund. Ergriffen von Todesangst, die durch kein Medikament zu therapieren ist, steigt in Brenner ein vergessenes Glücksgefühl auf, das er als Kind empfand, da er im Bett der Eltern schlafen durfte.

    "Das Gefühl, dass die Welt ausgesperrt war. Das kurze Glücksgefühl, wie wenn man in einer Hütte in den Bergen eingeschneit war. Ein Teil von etwas Begrenztem sein. Eine Gemeinsamkeit haben mit einem, von dem man völlig abhängig ist. Wenn die Eltern stürben, wäre er ganz allein auf der Welt."

    Als sich die Mutter endlich entschließt, in ein Pflegeheim zu gehen, beginnt das Fundament zu bröckeln, auf dem auch Brenners Lebensentwurf steht. Subtil und sensibel führt Bjørnstad den Konflikt der Generationen als ein schmerzhaft-irrationales Nicht-Loslassen-Können vor. In der Figur des Arztes Brenner, der fragil und verwundbar erscheint, bündelt er eine Vielzahl zeitgeschichtlicher Probleme, die jenseits von Fortschritt und Ökonomie auf moralisch-ethische Grundwerte verweisen. Allerdings wird in diesem literarischen Entwurf, ein Jahrhundert nach Ibsen, der Autor selbst zu einer tugendhaften Figur, die vehement an unser Gewissen appelliert.

    "Überleben war nicht mehr das Recht des Stärkeren, sondern des Frechsten. Und dieses Naturgesetz hatte auch die Wirtschaft infiziert. Moralisch gesehen waren die Mittelfeldspieler teilweise verkommen, die Milliardäre waren es gänzlich. Sie waren ein lebendiges Beispiel für Achtlosigkeit, weil sich all ihre Achtsamkeit auf das eigene Ego und die eigenen Unternehmungen richteten."

    Ketil Bjørnstad:
    Die Unsterblichen". Roman. Aus dem Norwegischen von Lothar Schneider.
    Insel Verlag 2011. 303 Seiten. 19,90 Euro. Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel "De udødelige" bei Aschehoug & Co., Oslo