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Ein moralischer Paukenschlag

Heute Abend beginnen am Lido die Filmfestspiele - mit Filmen, die überwiegend ihre Uraufführung erleben, mit Stars wie George Clooney, Keira Knightley und Woody Allen. Und mit dem Film "Joe Wright" nach dem Roman "Abbitte" von Ian McEwan.

Von Christoph Schmitz | 29.08.2007
    Joe Wright will das große Kino. Mit allen Farben, die die Palette der Kinoverführung bietet. So wie auch schon der Autor der Textvorlage, Ian McEwan, mit seinem Roman "Abbitte" das große Epos über Schuld und Sühne, über individuelles Schicksal und kollektive Geschichte geschaffen hatte; ganz so, als hätte es die Selbstzweifel des modernen Erzählens nie gegeben, als könnte das Welttheater wie im 19. Jahrhundert immer wieder neu und zeitgemäß erdichtet werden. Was McEwan auch gelungen ist, in guter angelsächsischer Erzähltradition. Joe Wright eifert ihm mit Bildern, Farben, Klängen und Geräuschen nach. Wie Ingmar Bermann in "Fanny und Alexander" schwelgt Wright im ersten Teil seines neuen Films in der Gediegenheit und Pracht der britisch-ländlichen High-Society, wie auch schon in seiner Jane Austen-Verfilmung "Stolz und Vorurteil". Durch wilde sonnendurchleuchtete Gartenlandschaften wandelt das Auge, durch schattige Interieurs, über schwere Vorhänge, dunkle Bibliotheksräume, gemusterte Tapeten, Faltenwürfe langer Kleider und über Gesichter in Nahaufnahme, Gesichter, die jeden ihrer Züge zu kontrollieren meinen, aber mit minimalen Regungen vieles andeuten und nur manches verraten. Robbie Turner, der Sohn armer Leute, und Cecilia Tallis, Tochter aus reichem Hause, sind füreinander in Liebe entbrannt. Cecilias kleine Schwester Briony ist 13 Jahre alt, schwer pubertierend und beobachtet die Liebenden.

    Als Briony einen erotischen Brief von Robbie an Cecilia überbringen soll und sie heimlich die Zeilen liest, ist sie schockiert und überzeugt, dass Robbie von der Lust geradezu besessen ist. Und als in der Nacht ein Mädchen im Park vergewaltigt wird, bezichtigt Briony den Geliebten ihrer Schwester der Tat, ohne Robbie wirklich gesehen zu haben.

    O-Ton "Ich habe ihn mit eigenen Augen gesehen." Nicht linear, sondern in Vor- und Rückblenden erzählt Wright die Ereignisse, in doppelter Ansicht, aus dem Blickwinkel des Mädchens und des Liebespaares. Aber auch musikalische Klänge, Stimmen, wütendes Schlagen und die Schläge einer Schreibmaschine werden vor allem im ersten Teil des Films mit starkem dramaturgischen Effekt ineinander verschachtelt.

    Wie der ganze Film ein verschachteltes Kunstwerk ist. So wenn sich am Ende, fast 70 Jahre später, die alt gewordene Briony zu Wort meldet. Sie hat die Schuld ihrer Kindheit längst bereut und den Opfern ihrer Lügen in einem Roman Wahrheit und Genugtuung zuteil werden lassen. So ist McIwans Roman der Roman Brionys, und Wrights Verfilmung ist die Verfilmung von Brionys Roman und McIwans Werk "Abbitte". Wright nimmt auch den Gestus des Epochengemäldes im Roman auf. Robbie wird nach Verurteilung und Haft wegen der vermeintlichen Vergewaltigung Soldat im Zweiten Weltkrieg. Eine minutenlange schnittlose Kamerafahrt durch die Masse der Hunderttausenden britischen Soldaten am Strand von Dünnkirchen zeigt das ganze Leid, den Irrsinn und die Todesaura der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Stilistisch entfernt sich der Film aber hier von seiner stilisierten, kammerspielartigen Choreografie zu Beginn. Das ist nicht unbedingt ein ästhetischer Bruch. Der homogeneren Rhetorik von McIwans Roman ist Joe Wright hier jedenfalls nicht gefolgt, eher dem romantischen Roman, der in sich die heterogenen Genres der Literatur vereint. Aber was der Romancier, der Regisseur und seine wunderbaren Hauptdarsteller Keira Knightley und James McAvoy gleichermaßen vor Augen führen, das ist, in welche Hölle wir andere mit unseren Lügen und Intrigen unwiederbringlich stürzen. Ein moralischer Paukenschlag zu Beginn des Festivals.