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Ein neues Standardwerk

Am Erfolg skandinavischer Literatur in Deutschland nahmen auch die Skandinavisten teil: als Übersetzer, Herausgeber oder Rezensenten. Was immer noch fehlte, war ein umfassender Überblick über literarische Strömungen, Verwandtschaften und Unterschiede in den nordischen Ländern. Diese Lücke will eine neue "Skandinavische Literaturgeschichte" schließen.

Von Peter Urban-Halle | 08.10.2007
    Die Reihe "Literaturgeschichten" im Metzler Verlag, in der bis dato 13 Bände erschienen, ist längst zu einem Standardwerk für Philologen, Studenten und Schüler geworden. Sie wird von Hochschullehrern herausgegeben und verfasst und präsentiert die Literaturgeschichte eines Landes in ihrem historisch-politischen und kulturellen Kontext - von den USA bis China, von Spanien über Deutschland bis Russland; mit der lateinamerikanischen Literatur wurde sogar schon ein ganzer Kontinent vorgestellt.

    Auch die seit kurzem vorliegende "Skandinavische Literaturgeschichte" ist kein Nachschlagewerk im eigentlichen Sinne, wer detaillierte Auskünfte über bestimmte Autoren oder Werke sucht, muss andere Handbücher konsultieren, zum Beispiel "Kindlers Neues Literatur-Lexikon".

    Die "Skandinavische Literaturgeschichte" hingegen ist eher ein Lesebuch, für das der Leser allerdings eine gewisse philologische Vorbildung braucht und hier und da auf umständliche akademische Passagen vorbereitet sein muss.

    Nordeuropa auch literarisch als etwas Zusammenhängendes zu sehen hat durchaus seinen Sinn, wenn man die engen persönlichen, kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Verbindungen bedenkt. Nicht zuletzt ist auch bei den Bevölkerungen ein allgemeinnordisches Bewusstsein vorhanden, trotz aller Witze, die gern über den Nachbarn gerissen werden. Aber deshalb darf man nicht den Fehler begehen, die Literatur "von da oben" als Einheit zu betrachten. Daher, schreibt der Herausgeber, der Schweizer Skandinavist Jürg Glauser, im Vorwort seiner "Skandinavischen Literaturgeschichte",

    muss (man) die Heterogenität, die Vielfalt und die Ungleichzeitigkeit dieser literarischen Traditionen in den Vordergrund rücken und zum Thema der Darstellung machen. Wenn auch die von außen angelegte Sicht auf einen literarischen Raum vielleicht geeignet ist, große Linien herauszustellen, so heißt dies nicht, dass damit die Unterschiede zwischen den einzelnen Literaturen verwischt werden sollen. Eine homogenisierende Darstellung mit vereinheitlichenden Gesichtspunkten ist nicht angestrebt, vielmehr werden die Literaturen in ihrem Zusammenwirken, Miteinander und Gegeneinander beschrieben.

    Das Werk ist klassisch nach literarischen Epochen geordnet, die zentralen Länder Schweden, Dänemark, Norwegen und teilweise Island werden vergleichend behandelt, finnische, färöische, grönländische und samische Literaturen haben eigene Kapitel. Es beginnt mit den ersten literarischen Zeugnissen vor 1200 Jahren, den Sagas und der jüngeren und älteren Edda. Über die frühe Neuzeit, die um das Jahr 1500 einsetzt, kommt man zur Epoche der Aufklärung, 1720 bis 1800. Gerade dieses Kapitel, verfasst von der Bonner Komparatistin Karin Hoff, ist ein gutes Beispiel dafür, dass das literarische Leben besonders in vordemokratischen Zeiten erst durch die Darstellung politischer Verhältnisse verstanden werden kann.

    Sowohl in Schweden als auch im damaligen Einheitsstaat Dänemark-Norwegen hatten die Herrscher bestimmenden Einfluss auf kulturelle Entwicklungen und literarische Tendenzen. Das zeigt sich einerseits in der Schließung der freizügigen "Dänischen Schaubühne" in Kopenhagen durch den streng pietistischen Christian VI., andererseits in der Gründung einer Wissenschaftsakademie durch die schwedische Königin Louisa Ulrika, eine Schwester Friedrichs des Großen. Die aufklärerischen Impulse in den beiden Staaten kamen aus verschiedenen Quellen.

    Dänemark orientiert sich vorwiegend an deutschen Entwicklungen, Klopstock wird nach Kopenhagen berufen, Vernunft & Gefühl werden zu den beiden tragenden Säulen der Aufklärung, der kosmopolitische Holberg schreibt seine Komödien, es war eine spannende Zeit zwischen Genieästhetik und Normenpoetik. Schweden dagegen orientiert sich an Frankreich. Schon 1649 war Descartes nach Stockholm eingeladen worden, was den Wissenschaften großen Auftrieb gegeben hat, hundert Jahre später, unter Gustav III., wird Voltaires strenge Regelpoetik zum verbindlichen Stilvorbild.

    Schon aus Platzgründen ist das Buch repräsentativ und selektiv ausgerichtet. Reine Nennungen von Namen oder Werken, die nicht vertieft werden können, finden sich kaum. Stattdessen geht es um exemplarische Behandlungen einzelner Aspekte, während manchmal auch wichtige Werke und Autoren und unter Umständen ganze Strömungen bewusst ausgelassen sind,

    schreibt der Herausgeber. Das entschuldigt trotzdem nicht das Fehlen zweier Schweden, die einfach in die Top Twenty der nordischen Literatur gehören, nämlich Tomas Tranströmer und Torgny Lindgren. Und zuweilen wird das politische Gewicht ein wenig übertrieben, wenn beispielsweise der Sozialrealist Martin Andersen Nexö breit besprochen wird, während sein literarischer Meister Henrik Pontoppidan und dessen großer Roman "Hans im Glück" nur kurze Erwähnung finden.

    Aber das hängt mit dem Akzent dieses Handbuchs zusammen, der auf der Einordnung in einen historischen Kontext und der "diskursiven Erörterung ausgewählter Phänomene" liegt. Völlig neu und verdienstvoll ist die Einbeziehung der färöischen, grönländischen und samischen Literaturen, damit werden die nichtstaatlichen Sprachen endlich nicht mehr ignoriert. Trotz der Einwände ist mit der vorliegenden "Skandinavischen Literaturgeschichte" ein neues Standardwerk entstanden.