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Ein Ort der Strenge und Disziplin

Die Schülerinnen in der Kung-Fu-Schule Shaolin Tagou in der zentralchinesischen Provinz Henan haben ein ungewöhnlich hartes Leben. Der Dokumentarfilm "Drachenmädchen" gibt intensive und seltene Einblicke in dieses Leben.

Von Rüdiger Suchsland | 23.02.2013
    "''Ich hatte gedacht, in der Kung-Fu-Schule lernt man fliegen ...""

    Fliegende Menschen, die wie schwerelos durch die Luft gleiten. Wir alle kennen sie inzwischen, jene Martial-Arts - also Kampfkunstfilme aus Asien, in denen Männer und Frauen mit scharfen Schwertern oder bloßen Händen miteinander kämpfen - zuletzt erst eröffnete mit "The Grandmaster" vom Hongkong-Regisseur Wong Kar-wai ein opulentes Kampfkunstdrama die Berliner Filmfestspiele.

    Diese Kämpfe wirken aber alles andere als gewaltsam, sie gleichen mehr hochpoetischen Balletttänzen, und sind allemal perfekt choreografiert. Man weiß das alles.

    Man weiß auch inzwischen, dass diese Martial-Arts in China wie Japan auf eine jeweils jahrtausendealte Tradition zurückgehen, dass man hier ein ausdifferenziertes System von Schulen mit unterschiedlichen Kunstgriffen unterscheiden kann, und dass jede dieser Schulen über die ausgefeilten Techniken hinaus auch mit einer umfassenden, philosophisch fundierten, ganzheitlichen Lebenslehre, mit Ernährungsvorschriften, Tugenden und Regeln der Selbstdisziplinierung verbunden ist.

    Von alldem handelt Inigo Westmeiers Film "Drachenmädchen". Im Vordergrund stehen in diesem Film ein paar Mädchen verschiedenen Alters: Die jüngste ist acht Jahre alt, die älteste 15. Man lernt einige von ihnen genauer kennen, ungeschminkt, ehrlich, versteht, was sie lieben und was sie fürchten - wie sie denken.

    Sie haben für ihr Alter ein ungewöhnliches, auch ungewöhnlich hartes Leben. Denn Sie sind Schülerinnen in der Kung-Fu-Schule Shaolin Tagou in der zentralchinesischen Provinz Henan. Es ist die größte nicht-staatliche Ausbildungsstätte in China. Von unvorstellbarem Ausmaß: Nicht weniger als 35.000 Schüler, Trainer und Lehrer leben und arbeiten hier auf dem Land, fern aller Ablenkung gemeinsam.

    Diese Schule gleicht einem Kloster, sie ist ein Ort der Strenge und Disziplin. Die Mädchen werden hier einerseits zu einem Teil der chinesischen Gesellschaft geformt, zum funktionierenden Rädchen im Getriebe. Dazu scheint fast jedes Mittel recht.

    "So lange die Richtung stimmt, das heißt, so lange wir die Kinder richtig gut ausbilden, ist jede Methode recht."

    Andererseits dienen Regiment und Härte auch erkennbar zur Entfaltung der persönlichen Fähigkeiten. Das Gleichgewicht zwischen Strenge und Freiraum, Disziplin und Laissez faire ist ein universales Streitthema über alle Zeiten und alle kulturellen Grenzen hinweg. Gerade dieses Allgemeine und die Gemeinsamkeiten erkennt man gut am Beispiel aus Fernost.

    Dabei ist Regisseur Westmeier eher an metaphysischer Entlastung gelegen. "Drachenmädchen"steht gegen all jenen im Westen tief verbreiteten Fernost-Kitsch, nachdem man im Kung-Fu mehr Sinn, tiefere Weisheit und garantierte Erleuchtung finden könnte.

    Das Gegenteil ist der Fall: Im Kung-Fu geht es um Praxis und um das Ich, es geht um Strategien der Selbst-Verbesserung. Nicht um Disziplin um ihrer selbst willen, nicht um das Brechen, sondern um Charakterfestigung.

    "Mit Kung-Fu ist das so eine Sache: Wenn Du es lang genug durchhältst, kannst Du eines Tages Dein Haupt erheben."

    Abgebaut werden aber auch Vorurteile anderer Art: So wie man China im Westen verkitscht, wird es auch umgekehrt gern dämonisiert: Und wer die Bilder sieht, auf denen sich hunderte von kleinen Mädchen in Reih und Glied aufgestellt in Rhythmus und Gleichschritt zum Massenornament formieren, der wird auch wieder an jenes Bild von den hunderttausenden seelenlosen "blauen Ameisen" Mao Tse-tungs denken, ans Klischee von durch kommunistische Ideologie ferngesteuerten Automatenmenschen ohne Individualität.

    Westmeier zeigt in jenen Drachenmädchen, die man genauer kennenlernt gerade jene Individualität hinter der Gleichheit, zeigt, das beides kein Widerspruch sein muss, und das Gleichheit nicht Gleichmacherei bedeuten muss, sondern gerade auch den Sinn für feine Unterschiede entwickeln kann.

    Es geht keine Frage, hier aus chinesischer Sicht, um Elitebildung durch Kung-Fu. Und so stellt man sich als Zuschauer auch die Frage: Wo liegen die Grenzen der Gleichheit? Wann ist es gut, außergewöhnliche Fähigkeiten zu fördern, und wann schlägt dies ins Gegenteil um?

    "Drachenmädchen" gibt intensive und seltene Einblicke in das China von heute. Authentisch und differenziert. Es gibt nicht eine Wahrheit, sondern eine große Bandbreite der Wahrheiten - das ist die wichtigste Lehre aus diesem Glücksfall unter den Dokumentarfilmen des Jahres.