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Ein Ort weicht dem Tagebau
Auch die Toten werden umgebettet

Einst hatte Manheim fast 2.000 Einwohner. Heute ist das Dorf bei Kerpen fast vollkommen verlassen. In fünf Jahren soll dort Braunkohle abgebaut werden, deswegen werden Manheim und seine Bewohner Stück für Stück umgesiedelt. Für viele verschwindet damit ein Stück ihrer Heimat.

Von Alicia Lindhoff | 30.03.2017
    Eine einzelne Narzisse steht noch nach dem Abriss mehrere Wohnhäuser in Manheim. Das Dorf muss dem Braunkohle-Abbau weichen. Deutschlandradio / Alicia Lindhoff
    Eine einzelne Narzisse steht noch nach dem Abriss mehrere Wohnhäuser in Manheim. Das Dorf muss dem Braunkohle-Abbau weichen. (Deutschlandradio / Alicia Lindhoff)
    Die Blumenstraße ist als Erstes dran. Mehrere Bagger und ein Trupp Bauarbeiter reißen ein Haus ein. Stück für Stück wird aus der Wohnsiedlung eine Trümmerlandschaft. Nichts bleibt stehen - abgesehen vielleicht von einer einsamen Narzisse. Fast trotzig ragt sie aus einem Schutthaufen hervor. Claudia Jakobs schießt sofort ein Foto. Früher hat sie ganz in der Nähe gewohnt. Regelmäßig kommt die 44-Jährige heute vorbei, schaut wie weit die Bauarbeiten fortgeschritten sind. Was sie sieht dokumentiert sie in einem Internettagebuch. Sie betreibt es zusammen mit ihrem Mann.
    "Letzte Woche standen hier tatsächlich wirklich alles noch Häuser, ja, und jetzt ist diese Reihe auch schon alles komplett in Schutt und Asche. Also, da steht ja wirklich kein Stein mehr auf dem andern."
    Die 44-Jährige beobachtet, wie sich ein langer Greifarm an den verbliebenen Häusern zu schaffen macht.Durch ein klaffendes Mauerloch sieht man Reste der Siebziger-Jahre-Wohnzimmertapete in orange-braun.
    "Ja, und jetzt ist es nicht mehr, nicht mehr aufzuhalten. Erst in der Peripherie, und dann geht’s natürlich irgendwann in die Ortsmitte."
    Irgendwo dazwischen werden die Bagger auch bei dem alten Backsteinhaus Station machen, in dem Claudia Jakobs 14 Jahre lang lebte. Dort wuchs auch ihr Sohn auf. Schon über drei Jahre leben sie in Manheim-neu, dem sogenannten Umsiedlungsstandort. Trotzdem graut es ihr vor dem Tag, an dem die letzten Erinnerungsstücke verschwinden werden. Denn nicht alles konnten sie beim Umzug mitnehmen. Das Baumhaus ihres Sohnes zum Beispiel oder seine bunten Kreidekritzeleien auf den Wänden der Garage.
    "Es fällt also zunehmend schwerer, ich hab auch jetzt schon wieder einen Klops im Hals."
    Hochzeiten, Geburten, viele Erinnerungen
    Der Weg ins Dorfzentrum führt durch leere Straßen. Viele Fenster sind verbarrikadiert. Vor den Häusern sprießt Unkraut. Ein paar Kinder spielen auf der Straße Ball. Vermutlich sind es die Kinder der Flüchtlingsfamilien, die in den leerstehenden Häusern vom Landkreis untergebracht wurden.
    Margarete Böhnen vor der geschlossenen Bäckerei in Manheim. Das Dorf wird wegen des Braunkohle-Abbaus umgesiedelt. Foto: Deutschlandradio / Alicia Lindhoff
    Margarete Böhnen vor der geschlossenen Bäckerei in Manheim. (Deutschlandradio / Alicia Lindhoff)
    Neben der Dorfkirche stehen Margarete Böhnen und ihr Sohn Jürgen vor ihrem alten Haus. 19 Jahre war Frau Böhnen alt, als sie nach Manheim zog, der Liebe wegen. Doch auch sie musste vor zwei Jahren wegziehen. Munter erzählt die 83-Jährige drauflos, Lachfältchen umspielen ihre blauen Augen.
    "63 Jahre hammer hier gewohnt, ne. Hier sind die Kinder groß geworden, drei Söhne hab ich, ne. Direkt nah an der Kirche, haben auch hier drin geheiratet alle drei, ne. Also, hier war et wunderbar, et war schwer für wegzukommen."
    Vor allem eines vermisst sie:
    "Immer um sechs Uhr läuten die Glocken, wunderbar, und das war für mich das herrlichste, was es gab und das haben wir nicht mehr."
    In Manheim muss früher einiges los gewesen sein. Auf knapp 1700 Bewohner kamen 13 Sport- und Karnevalsvereine, mehrere Gasthöfe, ein Schwimmbad und gleich zwei Bäckereien. Eine verblichene Karte von Manheim-neu hängt in einem Schaukasten auf dem zentralen Platz des Dorfes. Frau Böhnens Sohn Jürgen erinnert sich an die Zeit vor der Umsiedlung.
    "Hier haben wir immer sonntagsmorgens, wenn wir zum Bäcker gingen, uns unterhalten, wer jetzt schon wieder ein neues Grundstück hat. Im Abstand von ein paar Wochen kam dann immer ein neuer Plan raus, mit Angaben, wer jetzt wo ein neues Grundstück schon hat."
    Die Manheimer wissen seit den späten 70er-Jahren, dass ihr Dorf dem Tagebau Hambach weichen soll. Anfangs gab es noch Protest, aber vermutlich hält es niemand aus, 40 Jahre lang wütend zu sein. Die meisten Bewohner haben sich wohl oder übel mit der Situation abgefunden. Auch Margarete Böhnen will ihren Lebensabend nicht damit verbringen, Vergangenem nachzutrauern:
    "Wenn ich jetzt alleine hätt wegmüssen, nä? Aber es sind ja alle mit umgezogen. Und die Nachbarschaft kannten wir auch all."
    Umsiedlung macht auch vor Toten nicht halt
    Auf dem alten Friedhof in Manheim sind die meisten Gräber leer. Auch sie sind mit umgezogen. Foto: Deutschlandradio / Alicia Lindhoff 
    Auf dem alten Friedhof in Manheim sind die meisten Gräber leer. Sie wurden nach Manheim-neu umgebettet. (Deutschlandradio / Alicia Lindhoff)
    Selbst die Manheimer Funkenmariechen, die sie gegründet und jahrzehntelang geleitet hat, tanzen nach der Umsiedlung weiter. Böhnens Herz hängt an Menschen, nicht an Orten. Ihrem Mann aber hat der Verlust seines Zuhauses zugesetzt:
    "Für den war et schwer, aber… Ich mein auch, seitdem dat der mit umgezogen ist, hat der nachgelassen. Kann ich auch verstehen, der is hier geboren un alles. Zur Kommunion gegangen, alles."
    Auf dem Kriegerdenkmal im Dorfzentrum steht bis heute der Name seines Bruders. Er war Soldat, starb im Zweiten Weltkrieg. Der Gedenkstein soll in den nächsten Jahren nach Manheim-neu versetzt werden.
    Dass eine Umsiedlung vor den Toten nicht haltmacht, musste auch Claudia Jakobs erleben. 2003 verlor sie kurz nach der Geburt ein Kind. Sie begrub den kleinen Nico auf dem Manheimer Friedhof, der an der Zugangsstraße zum Dorf liegt.
    Als die Familie umzog, war der neue Friedhof noch nicht fertig und das Grab musste erst einmal bleiben wo es war. Gut fühlte sich das nicht an. Erst als ihr Sohn endlich umgebettet war, konnte Claudia Jakobs ihr Leben im neuen Zuhause richtig beginnen.
    "Für uns war das natürlich wichtig, dass wir nicht nur die Lebenden mit rüber nehmen, sondern selbstverständlich auch die Toten nicht zurücklassen."
    Es ist dunkel geworden in Manheim. Die Straßenlaternen funktionieren noch, aber die meisten Häuser bleiben düster. Von der Landstraße aus ist vom Ort nur noch die dunkle Silhouette des Kirchturms zu erkennen - und gar nicht weit entfernt der gigantisch große Schaufelradbagger von RWE. Unter grellem Flutlicht arbeitet er sich durch die Landschaft und gräbt träge, aber ohne Pause, seine Schaufeln in die Kante des Tagebaus.