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Ein Panorama zerbrechender Glaubensgewissheiten

18.000 Verse, vierhebige Jamben zumeist und teils gereimt in insgesamt 150 Cantos: ein Versepos, wie ein urzeitliches Meeresungeheuer aus der Tiefe des 19. Jahrhunderts jetzt aufgetaucht und zum allerersten Mal ins Deutsche übersetzt - wer sollte sich an ein solches Riesenpoem wagen in der heutigen Zeit der E-Mail- und Chatroom-Sprachhäcksel, um vom popmusikzergroovten Sinn für Melodien rhythmisierter Prosa und den Wissens-Horizonten in der Pisa-Studien-Gegenwart zu schweigen?

Von Uwe Pralle | 13.04.2007
    " Schließ die ins Herz, die Tollheit packt
    In jedem Grade, wozu der Glaube Schlüssel ist;
    Die, von der ehrfurchtsvollen Sage angeleitet,
    Hier auf dem Heimatgrund die Stärke finden;
    Die, einer schlimmen Welt den Rücken wendend,
    Mit offnen Augen sich Verzückungen ergeben -
    Die, als des Wortes Visionäre,
    Wie Somnambule in die Fremde ziehen. "

    So klingt die Übersetzung, die Rainer G. Schmidt in einem wahren Kraftakt von Herman Melvilles Versepos "Clarel" angefertigt hat, dem letzten Großwerk des Schöpfers von Moby Dick, nach wie vor der berühmteste Walfisch der Literaturgeschichte. In seinen späteren Jahren, gerade Fünfzig und inzwischen ein Literatur-Schiffbrüchiger, der im New Yorker Hafen als Zollinspektor täglich die Runde machte und - wenn es nach seiner Frau und der damaligen Literaturkritik gegangen wäre - sich von den Tollheiten eines Wort-Visionärs besser ein für alle Mal fern gehalten hätte, war Melville so heimlich, still und leise an diese 18.000 Verse gegangen, dass lange Zeit nicht einmal seine Frau davon etwas mitbekam. Die Kritiker kannten seinen Namen ohnehin kaum mehr, als sein Versepos über eine Pilgerreise im Heiligen Land schließlich 1876, einhundert Jahre nach der Gründung der USA, in einer Auflage von gut 300 Exemplaren erschien.

    Der Anstoß zu "Clarel" kam durch Mark Twain, der 1869 eine neue Art von Pilgerreise geschildert hatte, die damals unter Amerikanern beliebt wurde: Dampfbootreisen in alle Welt, auch ins Heilige Land. Für diese ersten so genannten Touristen hatte Twain nur Spott und Sarkasmus übrig gehabt, war durch den Erfolg des Buches aber immerhin zum bestbezahlten Schriftsteller der Zeit geworden. Melville wäre nicht der Metaphysiker unter den amerikanischen Klassikern gewesen, wenn er dem Spott Mark Twains nicht eine poetische Pilgerreise entgegengesetzt hätte, die sich mit den profundesten Fragen von Religion und Zeit herumschlug: was hat es mit Gut und Böse auf sich, was mit dem Verhältnis von Glauben und Wissenschaft, mit Erlösung, Demokratie, Liebe und dem technischen Fortschritt?

    " Von allen Zielen unberührt, die unsere Zeit gelobt,
    Hütet die alte Sphinx den Schattenvorhof immerzu;
    Und die Verzweiflung, die von dieser Ruhe nicht entmutigt wird,
    Sie kommt und kritzelt kalt auf diese unbeugsame,
    Unerschütterliche Stirn ihre bittere Schmähung.
    Glauben aber (der vom Gekritzel sich empört abwendet)
    Zeichnet mit warmem Blut, das aus dem verwundeten Vertrauen
    Quillt, gar auf die Scherben zerbrochener Gefäße
    Das Kreuzzeichen - der Geist über dem Staub! "

    "Clarel" ist ein riesiges Panorama damals zerbrechender Glaubensgewissheiten. Der aus calvinistischem New Yorker Milieu stammende Melville beschwor darin wie ein phantasieberauschter Archäologe noch einmal die seit Jahrtausenden in den felsigen Landschaften und Orten des Heiligen Landes abgelagerten religiösen Überlieferungen, vor allem zwar die christlichen, aber nicht ohne immer wieder auch ihre dort so prägnant wie nirgendwo anders zu spürenden Spannungen zu jüdischen und islamischen Traditionen einzubeziehen. Knapp zwanzig Jahre vorher war er selbst durch die Region gereist, so dass Ortskenntnis und Bibelfestigkeit sich bei diesem poetischen Aufbäumen gegen den Glaubensverfall an der Schwelle zur Moderne ergänzten.

    In der Rahmenhandlung des Poems bricht Clarel, ein vom Zweifel befallener amerikanischer Theologiestudent, mit einer bunten Pilgerschar von der Grabeskirche in Jerusalem auf, um im großen Bogen über Jericho, die Wüste Siddim, das Tote Meer und Christi Geburtsort Bethlehem nach Jerusalem zurückzukehren, wo das Werk an Pfingsten schließlich endet. Die Rundreise folgt also dem christlichen Kalender, während das Leben von Christus vom Ende her zurückverfolgt wird, bis der christliche Auferstehungstag sowohl das Werk wie den Passionsweg des Titelhelden beschließt.

    In den Gesprächen, die unterwegs die Pilger führen, Wissenschaftler und Priester, Krieger und Bankiers, Skeptiker, Scharlatane, Eigenbrötler und Weise, ist versucht, die Glaubenshorizonte jener Zeit und die Zeithorizonte der damaligen Religionswelt auszumessen: für Melvilles Zeitgenossen offenbar eine skandalöse Zumutung, der sich höchstens ein paar Handvoll auszusetzen bereit waren, denn 1879 musste er einen Großteil der Auflage auf eigene Rechnung der Papiermühle überantworten. Überrascht kann ihn das kaum haben angesichts der Erfahrungen, die er Clarel in einem Gespräch über Homer mit einem smarten ionischen Geschäftsmann machen ließ:

    " Da Clarel wünschte, von jedermann
    Zu lernen, wie auch seine unsichre Rede
    Zu formen, sprach - in jener Schlichtheit
    Der Studenten, die mehr bewandert sind in ihren
    Büchern als im Leben - er von Homer, einem mit Smyrna
    Verbundnen Mann, gebürtig dort, wie's hieß.
    Doch nein, der muntere Ionier
    Kannte kaum jenen toten Bettelsänger,
    Obwohl, er hatt' gehört von einem Kerl des Namens:
    "Homer? ja, ich entsinne mich;
    Sah einen Schuldschein einst mit seinem Namen:
    Ihm eine Feige, ein Feigenhändler er,
    Die allergrößte alte Pflaume". "

    Wer also sollte heute noch den Mut aufbringen, sich an dieses schon damals unzeitgemäße Versepos zu wagen? Lohnen kann sich das für alle, für die der Kern des Glaubens das ewige Widerspiel von Zweifel und unerwarteter Echos aus den religiösen Überlieferungen ist. Denn es ist verblüffend, wie scharf Melville die Zerklüftungen, aber auch die Horizonte umrissen hat, in die der Glaube in der modernen Welt gestellt ist. Nur sollte man nicht den Fehler begehen, diese Verse hintereinander weglesen zu wollen. "Clarel" ist eins der Bücher, die auf den Nachttisch gehören, wo sich immer wieder danach greifen lässt. Schließlich käme auch niemand auf die Idee, die Bibel in einem Zug zu lesen.