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Ein Premier namens Edward Clare

Die englische Küche gilt als durchweg fad, mit einer Ausnahme: dem Kakao, durch den der sehr spezielle englische Humor hohe und höchste Autoritäten zieht. Das englische Königshaus, die englische Politikerklasse kennen den Kakaogeschmack zur Genüge. Sie tauchen ein und als anarchisch verblödelte Witzfiguren wieder auf. In "Downing Street Nr. 10" von Sue Townsend erwischt es, wie der Titel schon sagt, den Premierminister, seine Familie und seinen gesamten Hausstand.

Von Ursula März | 28.08.2006
    Tony Blair heißt hier Edward Clare. Auf der ersten Seite der wilden Romansatire tritt er als dressierter, hyperkontrollierter Upperclasshänfling auf die Bühne, besessen vom Zahnputzzwang und der peniblen Angewohnheit, den Penis vor dem Pipimachen mit zwei Blatt Toilettenpapier zu umwickeln, das ausschließlich einer ganz bestimmten Marke angehören muss. Sonst wirft ihn der Vorgang aus der Bahn. Diesen Tic wird Edward auch als erwachsener Mann, auch in Downing Street Nr. 10 beibehalten. Es ist nicht leicht vorstellbar, dass der Premier einer anderen Nation, dass beipielsweise Herr Kohl, Herr Schröder oder Frau Merkel sich von der satirischen Literatur ihres Landes Vergleichbares zumuten ließen, ohne dass es zu juristischen Spannungen zwischen Kunst und Realität käme. Tony Blair alias Edward Clare indes wird von der Autorin des Romans in Frauenkleider - Perücke, Lippenstift, hochhackige Pumps inklusive - gesteckt und in dieser Transvestitenmontur kreuz und quer durch das Land geschickt.

    "Downing Street Nr. 10” ist Roadmovie und ethnographischer Nachhilfeunterricht für den höchsten Politiker des Landes in einem. Es stellt sich nämlich zu Beginn der Erzählung heraus, dass Edward Clare, von der katastrophalen Fehlentscheidung für den Irak-Krieg, abgesehen, auch von allen anderen politischen Problemen, ja, vom realen Zustand des von ihm regierten Landes nicht die geringste Ahnung mehr hat. Es fehlt ihm krass an Bodenhaftung und Basiskenntnis. Diese soll er in einem Schnelldurchlauf, maskiert als aufgedonnerte alte Schachtel, erwerben.

    Begleitet wird er bei seiner Englandrundfahrt von dem Polizisten, der Downing Street Nr. 10 bewacht. Das ist die Ausgangssituation des Romans und sie liefert ihm jede Möglichkeit der satirischen Eskalation. Denn das Humorprinzip dieses Romans ist: Was an Verrücktheit geschehen kann, geschieht. Edward Clare gerät in eine Clique Obdachloser, wo er sich besonders wohl und als Frau begehrt fühlt, er erleidet einen kleinen Herzinfarkt und lernt das englische Gesundheitssystem von seiner komischsten Seite kennen: als Notfallpatient wird er in der Klinik einem Wartesystem unterworfen, das schlimme, sehr schlimme und fast aussichtslose Notfälle unterscheidet. Unter zwei Stunden Wartezeit kommt niemand in Behandlung.

    Edward Clares Ehefrau lässt sich in seiner Abwesenheit die Nase operieren und wird zum cover-girl der yellow-press. Am Ende geraten der Premier und sein Begleiter in das Haus der verrückten Mutter des Polizisten, in dem sich eine Clique härtester Crack-Konsumisten breitgemacht hat. Und ganz am Ende dieses Romans, der auf jeder Seite mindestens drei irrsinnige Einfälle und eine zum Brüllen komische Situation enthält, merkt der Premier, der auch als Frau seinen Penis zum Pipimachen mit zwei Blatt Toilettenpapier umwickelt, natürlich, dass es sich in der Rolle des anderen Geschlechts viel schöner und erlebnisreicher lebt. Das alles ist herrliche, rasante, schonungslose Blödelei. Eine Politsatire reinsten Wassers, deren Lektüre schieres Vergnügen ist, unbelastet vom moralischen Ernst, unbelastet vor allem von heimlichem politischem Mitteilungsdruck. Das heißt: Der Anteil komischer Phantasie geht weit über das Bröckchen Wahrheit hinaus, das in der Erzählung steckt. Denn dass es Politikern an Bodenhaftung und Basiskenntnis fehlen kann, das ahnten wir ja schon lange.