Dienstag, 23. April 2024

Archiv


Ein Rausch zum Lesen

Der sechste Band der Zamonien-Romane führt Walter Moers Hauptfigur, den Abenteurer Hildegunst von Mythenmetz, zurück in die Stadt der träumenden Bücher - nach Buchhaim. Dabei verirrt sich Mythenmetz immer tiefer im Labyrinth, das geheimnisvoll und unsichtbar die Geschicke Buchhaims zu bestimmen scheint.

Von Martin Ebel | 27.12.2011
    "Hier geht die Geschichte weiter", mit diesem Satz beginnt das Buch, und mit "Hier fängt die Geschichte an" endet es. Verkehrte Welt? Dass sowieso, denn wir sind bei Walter Moers, der den fiktiven Kontinent Zamonien geschaffen hat, in dem das Wasser bergauf fließt, und das ist noch die kleinste Verrücktheit. "Das Labyrinth der Träumenden Bücher" ist bereits der sechste Band der zamonischen Saga, die mit den "13 1/2 Leben des Käptn Blaubär" grandios begann und mit der "Stadt der Träumenden Bücher" und "Rumo oder die Wunder im Dunkeln" Gipfel der Erfindungsgabe und Fabulierlust erklomm. Moers-Fans, und darunter finden sich nicht nur kindsköpfig gebliebene Erwachsene, sondern auch ausgepichte Literaturkenner, werden sich blindlings auf den neuen Roman stürzen. In ihrer Begeisterung werden sie verschmerzen, dass es sich hier um ein "sequel" handelt, wie in der Filmindustrie die Fortsetzungen einer Erfolgsproduktion heißen. Diese fantasielose Branche lässt ja die Piraten der Karibik immer neu ausfahren. Fantasielosigkeit ist aber das Letzte, was man Walter Moers vorwerfen kann. So ist auch ein schwächeres Werk aus seiner Feder - und ein solches haben wir vor uns - den landläufigen Fantasyschwarten weit überlegen.

    Moers hatte das Gefühl, einen Stoff nicht auserzählt zu haben, und so führt er uns erneut nach Buchhaim, in jene Stadt, in der sich alles um Bücher drehte und die im Roman "Die Stadt der Träumenden Bücher" nach einem Showdown in den Katakomben am Schluss in Flammen aufgegangen war. 42 Wochen stand der Roman auf der Bestsellerliste, und dort steht der Nachfolger auch schon.

    200 Jahre sind nach dem Brand Buchhaims vergangen, kein besonderer Zeitraum in einem Dinosaurierleben, und ein Dinosaurier, genauer: ein Lindwurm mit dem barocken Namen Hildegunst von Mythenmetz, ist wieder Held und Erzähler des Buches. Walter Moers - der ja als realer Autor die Öffentlichkeit scheut, Interviews nur ganz selten und nur per Mail gibt, keine Talkshows besucht und nicht einmal Fotos von sich herausgibt - Moers tritt erneut hinter seinen fiktiven Helden zurück, den er zur literarischen Supermacht geformt hat, eitel, geschwätzig, empfindlich und überaus erfolgreich. Diese Erzählerfiktion erlaubt dem Autor, sich gelegentlich ironisch von seiner Figur zu distanzieren, er selbst, so Moers im Nachwort, sei nur der Übersetzer. Und Bearbeiter: Er habe gewaltig kürzen müssen, vor allem bei den berüchtigten "Mythenmetz'schen Abschweifungen". Allein 400 Seiten mit "puppetistischen Notizen" seien dem Rotstift zum Opfer gefallen.

    Übrig geblieben, das muss leider gesagt werden, ist immer noch zu viel. Ganz anderes als den Vorgängern fehlt dem neuen Roman der unwiderstehliche Drang nach vorne. Er entwickelt keine rechte Spannung, tritt zu oft auf der Stelle, verbreitert sich ins Enzyklopädische, zählt auf, statt zu erzählen. Ein bisschen scheint es, als sei dem Autor das widerfahren, was sein Held kleinlaut eingestehen muss: das Orm, die zamonische Form der Inspiration, ist ihm abhandengekommen.

    Nun aber genug genörgelt; auch ein schwächerer Moers ist immer noch voller Zeichen und Wunder. Allein die Namen! Als Namenserfinder ist Thomas Mann ein Waisenknabe gegen Moers und sein Geschöpf Mythenmetz. Da wir uns im Bücherreich befinden, werden zahlreiche Dichter und ihre Werke genannt, die, schüttelt man ihre Namen kräftig durch, uns sehr bekannt vorkommen wollen. Dölerich Hirnfidler etwa, der sich bei näherer Betrachtung und Schüttelung als Friedrich Hölderlin entpuppt. Eiderich Fischnertz ist in Wahrheit auch ein Friedrich, nämlich Nietzsche, Akud Ödreimer ist umgedreht Eduard Mörike und Upid Lyrikdrang der "Dschungelbuch"-Autor Rudyard Kipling.

    Moers hat hier nicht mit einer komplizierten Anagramm-Software gearbeitet, sondern ganz schlicht mit Scrabble-Buchstaben. Überhaupt hat sein Buch-Universum etwas sympathisch Handgestricktes. Auch wenn das wieder aufgebaute Buchhaim durchaus mit der Zeit geht, indem es seinen Ruhm touristisch inszeniert und Schnuppertouren in die einstmals so gefährlichen Katakomben anbietet, so ist die Welt der Bücher unrettbar nostalgisch, riecht, schmeckt und atmet das 19. Jahrhundert, alte Folianten mit Ledereinbänden, vergilbte Seiten mit Frakturschrift. Zwar hören wir einen Buchhändler klagen, die klassische Form des Buches sei dem Untergang geweiht. Aber es ist ein durchgeknallter Vertreter seiner Branche, denn er sieht die Zukunft des Buches in der Pyramide, der Salami, dem Fächer oder anderen abstrusen Formen. Schöner kann man den Hype um das unweigerlich siegende e-Book nicht ironisieren: nämlich durch komplettes Verschweigen alles Digitalen.

    Eine wunderbare kleine Passage parodiert übrigens die Starbuck's-Kette, wo bei vermeintlich verwirrendem Überfluss an Wahlmöglichkeiten in Wirklichkeit öde Einförmigkeit des Angebotenen herrscht. Unbestreitbarer Höhepunkt beim zweiten Aufenthalt des dichtenden Lindwurms in Buchhaim ist der Besuch einer Kneipe, in der Buchwein angeboten wird. So einen Rausch hat man noch nie gelesen, geschweige denn gehabt: Mythenmetz durchlebt nach einigen kräftigen Schlucken alle Schritte der Buchwerdung, vom Baum bis zur Lektüre, die gesammelten Sorgen von Verleger und Autor inbegriffen. Leider hält sich der Erzähler dann allzu lange beim Thema "Puppentheater" auf, dem sich ein ganzes Stadtviertel Buchhaims widmet. Endlich, endlich steigt er wieder in die Katakomben, wo ihn ein "unsichtbares Theater" erwartet. Ein ganzer Roman, heißt es, formt sich in Minutenschnelle im Kopf des abenteuerlustigen Dinosauriers. Leider erzählt er ihn uns nicht, und auch Moers tut das nicht: Denn hier ist das Buch zu Ende. Der anfangs zitierte Satz "Hier fängt die Geschichte an" verweist auf den nächsten Band, der, auch bei einem so produktiven Dichter wie Hildegunst von Mythenmetz, einige Jahre auf sich warten lassen wird. Der längste Cliffhanger der Literaturgeschichte? Mag sein. Aber was dann kommt, sollte für die Wartezeit wirklich entschädigen.

    !1Walter Moers:

    Das Labyrinth der Träumenden Bücher. Ein Roman aus Zamonien von Hildegunst von Mythenmetz. Knaus, München 2011. 430 S., 24.99 Euro