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"Ein rauschhaftes Durchbrechen von latenter Fremdenfeindlichkeit"

Die Übergriffe auf Asylsuchende vor 20 Jahren in Rostock-Lichtenhagen hätten sich bereits im Vorfeld angedeutet, sagt der damalige Ausländerbeauftragte, Wolfgang Richter. Eine Aufarbeitung habe es bis heute nicht gegeben. Politiker, aber auch Teile der Bevölkerung, hätten kaltschnäuzig oder abwehrend reagiert.

23.08.2012
    Peter Kapern: Ja, man hätte es kommen sehen können, und nein, es hätte nicht geschehen müssen. Monatelang waren die Asylbewerber, die zur ZAST, zur Zentralen Anlaufstelle für Asylsuchende, im Plattenbauviertel Rostock-Lichtenhagen gekommen waren, von den Behörden im Stich gelassen worden. Sie kampierten im Freien, kein Bett, keine Toilette, kein Geld, nichts zu Essen. Der Krawall kam mit Anmeldung, auf Flugblättern und in anonymen Anrufen bei der Lokalpresse. Tagelang belauerte dann ein Mob das Wohnheim und am 24. August, also morgen vor 20 Jahren, flogen Molotowcocktails in das sogenannte Sonnenblumenhaus, in dem zu dieser Zeit 150 Vietnamesen waren – Männer, Frauen und Kinder -, und ein Fernsehteam des ZDF, und Wolfgang Richter, der Ausländerbeauftragte der Stadt Rostock.

    O-Ton Wolfgang Richter: "Die Chaoten sind unten durch die Tür reingekommen. Ich habe schon telefoniert, die Polizeiinspektion Lütten Klein hat es nicht begriffen. Die haben es nicht begriffen, was hier vorgeht."

    Kapern: Wolfgang Richter, der Ausländerbeauftragte der Stadt Rostock, vor 20 Jahren. – Guten Morgen, Herr Richter!

    Wolfgang Richter: Guten Morgen, Herr Kapern.

    Kapern: Herr Richter, erinnern Sie sich, was in dem Moment sich abspielte, als dieser Ton, den wir da gerade gehört haben, aufgenommen wurde?

    Richter: Ja, ich erinnere mich gut daran, weil ich kam gerade von dem einzigen Telefon unten in der Pförtnerloge am Eingang nach oben, berichtete über mein Telefonat, was ich dann abbrechen musste, weil die Gewalttäter ins Haus eingedrungen sind, und ich dann hoch in die 6. Etage und dort in die Wohnung der Vietnamesen gegangen bin, und in dem Moment wurde uns klar, dass wir uns nur selber helfen können, weil Polizei und Feuerwehr uns in dieser Situation nicht geholfen hat.

    Kapern: Wie haben Sie sich geholfen?

    Richter: Wir haben zuerst den Gedanken gehabt, wir müssen uns nach unten absichern, damit diese Gewalttäter nicht nach oben zu uns kommen, die Auseinandersetzung dort suchen. Also haben wir in der 6. Etage die Treppenaufgänge verbarrikadiert, haben den Fahrstuhl blockiert. Und dann war die zweite Überlegung: Wie kommen wir raus? Unten brennt es, unten sind die Gewalttäter, an denen können wir nicht einfach vorbei, das Feuer wurde immer schlimmer, der Qualm zog nach oben, also war klar: Wir müssen versuchen, aufs Dach auszubrechen, um aus diesem brennenden Haus rauszukommen.

    Kapern: Als Sie rausgekommen waren, da hat Ihnen der "Spiegel" folgendes Zitat zugeschrieben: "Wenn Du hier rauskommst, dann musst Du alles tun, damit die politisch Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden." Haben Sie sich an diesen Schwur gehalten?

    Richter: Ich habe es zumindest versucht. Ich habe an den beiden Untersuchungsausschüssen der Bürgerschaft in der Stadt und des Landtages teilgenommen, habe dort ausgesagt, ich habe mit Medienvertretern gesprochen, ich habe mit politisch Verantwortlichen aus diesem Geschehen, mit Verantwortlichen in der Polizei gesprochen. Aber eine wirkliche Aufarbeitung dessen hat es leider bis heute nicht gegeben.

    Kapern: In welchem Sinne nicht? Was fehlt dieser Aufarbeitung?

    Richter: Es sind bis heute Fragen offen, warum wir zwei Stunden lang ohne Polizeischutz in diesem brennenden Haus waren und uns selber über das Dach befreien mussten. Es ist offengeblieben, politische Verantwortung dafür zu übernehmen, weil Sie haben in der Anmoderation sehr richtig gesagt: Es wäre vermeidbar gewesen. Die Zustände auf dieser Wiese waren unzumutbar. Und wenn die Flüchtlinge dort vorher in andere Einrichtungen gebracht worden wären und nicht auf dieser Wiese hätten warten müssen, bis sie tagelang manchmal ihren Asylantrag stellen konnten, dann wäre es nicht zu dieser Zuspitzung gekommen, und das ist die Verantwortung der Politiker in der Kommune und in der Landesregierung.

    Kapern: Wie haben sich die Politiker in der Kommune und in der Landespolitik verhalten, als Sie eingefordert haben, Verantwortung zu übernehmen?

    Richter: Das war unterschiedlich. Bei den Politikern in der Kommune habe ich festgestellt, dass ein großes Entsetzen da gewesen ist, dass sie das eigene Versagen intern sehr wohl erkannt und auch zugegeben haben, nach außen aber immer weiter auch Verantwortung auf das Land abgeschoben haben. Es waren Menschen, die in der Wendezeit in politische Verantwortung gekommen sind, die keine Verwaltungserfahrung gehabt haben und dort in dem Gespräch, was ich eingefordert hatte, mit Oberbürgermeister und mit den zehn Senatoren wie Häuflein Unglücke vor mir gesessen haben. Und in der Landesregierung habe ich eher ein etwas kaltschnäuziges, abwehrendes Verhalten bei solchen Fragen und bei solchen Gesprächen gespürt.

    Kapern: Wie steht Rostock heute zu diesen Geschehnissen von vor 20 Jahren? In Berichten liest man immer wieder, dass die Rostocker sagen, das waren alles zugereiste Nazis und wir selber haben eigentlich damit nichts zu tun gehabt. Ist das der Stand der Aufarbeitung auf der Straße in Rostock?

    Richter: Ein differenziertes Bild, denke ich. Es gibt eine ganze Menge Aktivitäten, die für ein gutes Zusammenleben zwischen Zugewanderten und Einheimischen agieren. Es gibt Aktivitäten gegen Fremdenfeindlichkeit, gegen Rechtsextremismus, den es eben auch in dieser Stadt gibt. Es sitzen zwei NPD-Abgeordnete in der Bürgerschaft, im Landtag ist die NPD vertreten. Dort gibt es gute und kluge Aktionen von Menschen, die sich dagegen wehren, dass solches rechtes Gedankengut sich in der Stadtgesellschaft breitmacht.

    Aber ich erlebe genau das, was Sie beschreiben: ein Wegschieben, ein Wegdrücken, zu sagen, das waren doch alles die zugereisten rechten Gewalttäter, und so war es nicht. Der Sonnabend, der erste Tag, begann als ein Rostocker Ereignis. Und ab dem zweiten Tag, ab Sonntag, als dann auch die Medien ja bundesweit, man kann sagen weltweit darüber berichtet haben, ab dem zweiten Tag gab es dann diese Zugereisten. Aber nicht am ersten Tag und auch nicht in den Wochen und Monaten davor, als die Situation sich immer weiter zuspitzte.

    Kapern: Was besonders betroffen macht, Herr Richter, das war ja die Tatsache, dass dort Tausende darum herumstanden und johlten und Bratwürste kauften und Bier tranken, da wurden extra Verkaufsstände aufgebaut. Wie bewerten Sie das? War das ein ganz besonderer Zivilisationsbruch, oder welche Erklärung haben Sie dafür gefunden?

    Richter: Wissen Sie, das sind die Bilder, die mir auch am nachhaltigsten auch nach 20 Jahren im Kopf sind. Auch wenn ich an diesem Haus vorbei fahre, dieser jubelnde, grölende Mob, der dort dann die Steine werfenden, eher jugendlichen Leute angefeuert hat und jeden Wurf und jeden neuen Brandsatz, der in das Haus flog, beklatscht haben. Pogrom kenne ich aus Geschichtsbüchern, aus der Literatur. Dort in diesen drei Tagen haben wir diese Pogromstimmung erlebt und es ist so, als wenn eine Masse im Rausch agiert und jede Rationalität ausgeschaltet ist. Und das dann rational zu erklären? Es waren bestimmte Umstände, die Aggressivität gefördert haben. Die Zustände waren unzumutbar, keine Frage, aber dass sich diese Gewalt nicht gegen politisch Verantwortliche – und jetzt bin ich nicht für Gewalt gegen politisch Verantwortliche, aber für Forderungen, diese Zustände zu beseitigen, an die gerichtet hätte, die es hätten tun können, sondern an die Schwächsten in diesem ganzen, nämlich die Flüchtlinge, die Vietnamesen, die in diesem Haus gelebt haben, das war wie ein rauschhaftes Durchbrechen von latenter Fremdenfeindlichkeit, von latentem Rassismus, das sich an diesem Pulverfass, was über Wochen und Monate auf dieser Wiese stand, entzündet hatte.

    Kapern: Wolfgang Richter, der frühere Ausländerbeauftragte der Stadt Rostock. Herr Richter, danke, dass Sie sich heute Morgen Zeit für uns genommen haben, danke für das Gespräch.

    Richter: Bitte schön.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Das Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen, Ort der ausländerfeindlichen Ausschreitungen vom August 1992.
    Das Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen (picture alliance / dpa / Bernd Wüstneck)
    Der Plattenbau-Stadtbezirk Lichtenhagen im Norden von Rostock mit dem Sonnenblumenhaus), Ort der ausländerfeindlichen Ausschreitungen vom August 1992
    Der Plattenbau-Stadtbezirk Lichtenhagen (picture alliance / dpa / Bernd Wüstneck)
    Rostock-Lichtenhagen am 23. August 1992: Randalierer reden auf Polizisten ein.
    23. August 1992: Randalierer reden auf Polizisten ein. (picture alliance / dpa / Wüstneck)