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Ein Reigen der Sinnlichkeiten des Lebens

Leos Carax, 1960 geboren, dreht surrealistische Filme- den Durchbruch erlebte er mit dem Streifen: "Die Liebenden von Pont-Neuf", an dem er vier Jahre lang drehte und der als teuerster Film Frankreichs galt. Sein neuer Film: "Holy Motors"spielt wieder in Paris.

Von Josef Schnelle | 30.08.2012
    Frühmorgens zieht er los wie in einen ganz normalen Arbeitstag. Cécile holt ihn ab in einer weißen Stretch-Limousine. Monsieur Oscar studiert kurz die Dossiers, die er im Auto vorfindet. Dann zieht er sich um für sein nächstes Rollenspiel als Sterbender, Bettler oder Killer oder eben als Akkordeonspieler. Irgendwo werden wohl Kameras ihn beobachten, das lernen wir schnell - wenn Michel Piccoli zusteigt und die Unzufriedenheit der Nutzer dieses seltsamen Service bekundet. Piccoli ist eine Art Chef der Inszenierungen. Viele schauen zu. Man sieht sie nicht und die winzigen Kameras auch nicht. Man weiß nur: Sie sind überall. Eine monströse übersteigerte Unterhaltungsindustrie. Oscar weiß längst nicht mehr, warum er das alles macht. Wegen der "Schönheit der Geste", sagt er einmal, was im französischen Original viel besser klingt. Da ist er schon als anarchischer M. Merde unterwegs. Der kommt buchstäblich aus dem Untergrund, frisst Blumen, dann eine ganze Hand, bevor er vom Pariser Friedhof Père Lachaise das Supermodel, gespielt von Eva Mendes, entführt und ihr auf ganz besondere Weise seine Aufwartung macht - als nackter Faun mit einem überdimensionalen erigierten Penis. Doch er will nur ein Schlaflied hören. Die kleinen Inszenierungen und Geschichten werden fast ohne Worte präsentiert. Doch jede Episode hat ihre eigene Musik, die den Film vorantreibt. Da ist zum Beispiel das Musikmotiv des M. Merde, dem die Augäpfel hervortreten, der den Lahmen die Stöcke wegschlägt und alles Schöne in seine düstere Unterwelt verschleppt.

    Die Dossiers in der Limousine, die jeweils eines der Rollenspiele beschreiben, die Oscar irgendwo in Paris aufführen wird, zehren schon lange an seiner mentalen Kraft. Was ist Inszenierung, was das wirkliche Leben. Oscar ermordet einen Banker auf offener Straße, spielt einen Sterbenden in einem luxuriösen Hotelzimmer mit trauernder Tochter und schlitzt sogar einem Doppelgänger den Hals auf. "Holy Motors" ist eine philosophische Nummernrevue über den Wechsel der Identitäten. Es wäre doch schön, wenn man sich nicht nur mit einem einzigen Leben begnügen müsste. Natürlich erzählt dieser Film mit seiner sich steigernden Dramaturgie auch vom Illusionsspiel des Kinos. Auch dort kann man mehrere Identitäten leben und erleben, und stets folgen sie wie in "Holy Motors" einem vorgegebenen Skript. Am Ende tuscheln in der Holy-Motors-Garage die Limousinen miteinander. Es gibt Gerüchte, dass sie bald abgeschafft werden sollen und stattdessen die ganze Welt zur Simulation wird. Leos Carax hat erst vier Filme gemacht, einschließlich seines skandalumwitterten Parisfilms "Die Liebenden von Pont-Neuf". Sein Kino ist zugleich sinnlich und intellektuell. Man glaubt Geschichten zu erkennen wie die, mit denen der Argentinier Jorge Luis Borges die fantastische Literatur verändert hat. Und natürlich ist jede Menge Philosophie in diesem Film, vor allem Jean Baudrillard wird zitiert. Ist die Welt nicht eigentlich eine Versuchsanordnung, von der wir nur lernen können, dass das Glück sich umso schneller entzieht, je entschlossener wir es ergreifen wollen? Leos Carax hat einen Film gedreht, der manchmal nur eine Phänomenologie des Alltags, dann wieder voller poetischer Schönheit ist und immer wieder Partikel der Filmgeschichte zitiert. Eine Komödie der Identitäten und ein Reigen der Sinnlichkeiten des Lebens. Augen auf. So etwas kriegt man so leicht nicht mehr geboten. Am Ende enthüllt M. Oscar doch noch ein romantisches Geheimnis. In einer anderen Limousine ist Eva Mendes unterwegs. In einem ehemaligen Kaufhaus, das jetzt eine monströse Ruine zu sein scheint, begegnen sich zwei, die Liebende hätten sein können, hätte es nur ein wahres Leben für sie gegeben. Die Schwere des Seins besingt Kylie Minogue im Film als Schlagerstar.