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Ein Reiseführer für Sterbende

Das tibetanische Totenbuch ist eine buddhistische Schrift aus dem 8. Jahrhundert. Es enthält Unterweisungen über den Prozess des Sterbens, die Vorstellungen von der Wiedergeburt und die Möglichkeit aus diesem Kreislauf der Reinkarnation auszubrechen.

Von Margarete Blümel | 25.07.2012
    Wenn das Würfelspiel meines Lebens zu Ende ist,
    Die Verwandten in dieser Welt mir nichts helfen.
    Wenn ich ganz allein im Bardo wandere.
    O ihr friedlichen und zornigen Sieger, übt die Macht eurer Barmherzigkeit,
    Auf dass das Dunkel der Unwissenheit zerstreut werde.


    "Ohne die nötige spirituelle Vorbereitung sieht sich der Sterbende furchterregenden Erscheinungen, verstörendem Lärm und blendendem Licht gegenüber. Er erkennt nicht, dass es sich um Illusionen handelt, die seine Angst ihm einflößt, weil er sich nicht von seinem Körper und vom Dasein in diesem Leben zu trennen vermag. Das ist der Bardo, der Zustand zwischen Tod und Wiedergeburt - oder der endgültigen Erlösung aus dem Kreislauf dieser Wiedergeburten. Ein Mensch dagegen, der sich zuvor lange genug mit alldem beschäftigt hat, weiß, worum es sich hier handelt. Er kann den Bardo entsprechend steuern und ihn nach Belieben abkürzen oder verlängern."
    So der Tibetologe Dr. John Powers von der ”Australian National University” in Canberra.
    Gemäß den Lehren des tibetischen Buddhismus stellen sich in den verschiedenen Stadien des Bardo vielerlei Wahrnehmungen ein - Sinneseindrücke, die von den vier Elementen erzeugt werden. Wer sich aber bereits zuvor mit solcherart Bewusstseinszuständen vertraut gemacht hat, vermag sie als das zu entlarven, was sie sind: Erzeugnisse des Geistes, die den Sterbenden entweder in die Irre führen oder als Auslöser seiner Erleuchtung dienen können. Der Gläubige kann versuchen, dies vor seinem Tod mithilfe eines spirituellen Lehrers zu verinnerlichen. Oder er kann sich der Lektüre des Bardo Thödol widmen. Dieser 'Reiseführer durch die Totenwelt' wird oft unzureichend als 'Tibetanisches Totenbuch' bezeichnet. Während 'Bardo Thödol' in der Übersetzung aus dem Tibetischen als 'die Lehre von der Befreiung durch Hören im Zwischenzustand' bezeichnet wird.
    Das Dämmern der Zornigen Gottheiten vom achten bis zum vierzehnten Tag: Jetzt wird die Art gezeigt, in der die Zornigen Gottheiten dämmern. Weil der Bardo - der Zwischenzustand - der zornigen Gottheiten von Furcht, Schrecken und Erschaudern beeinflusst wird, ist es schwerer, Erkenntnis zu erlangen.
    Was die gewöhnliche, weltlich gesinnte Menschheit betrifft, was muss man sie überhaupt erwähnen? Weil sie infolge von Furcht, Schrecken und Erschaudern fliehen, stürzen sie in den Abgrund hinunter in die trostlosen Welten und leiden.


    "Hier kann das Studium des Bardo Thödol ungemein wirksam sein. Es hilft übrigens auch, wenn der spirituelle Lehrer dem Sterbenden aus diesem Werk vorliest. Als ich einmal mit dem Dalai Lama darüber sprach, wie er seinem Tod entgegensieht, sagte er: 'Aber ich sterbe doch jeden Tag aufs Neue.' Er meinte damit, dass er den alten Anweisungen gemäß täglich meditiert und während dieser Meditation seinen Tod simuliert. Sodass er eines Tages, wenn es so weit ist, ganz genau wissen wird, wie er sich zu verhalten hat."

    Vor mehr als achtzig Jahren sorgte die erste englische Ausgabe des "Bardo Thödol" weltweit für Aufsehen. In alternativen Kreisen wurde die Anleitung zur Sterbevorbereitung und zur Begleitung eines Sterbenden durch die diversen Zwischenstadien des Todes bald zur Standardliteratur. Hippies stellten ihre Ausgabe der buddhistischen Sterbeanleitung im Bücherregal neben Hermann Hesses 'Siddharta' und die Werke von Carlos Castaneda. Religionswissenschaftler und Tibetologen stritten darüber, welche der diversen Übersetzungen dem tibetischen Original am ehesten gerecht werde. Das Werk, das als einziger Bestseller von tibetischer Hand gilt, erfreut sich noch heute großer Beliebtheit. Der tibetische Mönch Labhdo:

    "Es ist ein gutes Buch, nicht zuletzt, weil es die Erscheinungen, die im Bardo vorkommen, sehr anschaulich beschreibt. Es stellt eine Art Brückenschlag zwischen Alt Und Neu dar. Aus buddhistischer Sicht ist es ein wirklich hilfreiches Werk."

    Streng genommen handelt es sich beim "Bardo Thödol" nicht um ein Buch, sondern um eine Sammlung von mehreren buddhistischen Texten. Sie gliedern sich in Abschnitte, die beschreiben, welche Visionen dem Geist bei seiner Wanderung durchs Totenreich begegnen werden. In anderen wird aufgeführt, was derjenige tun soll, der im Zwischenzustand keine Befreiung erlangen konnte. Es gibt Anweisungen für die Suche nach einem geeigneten neuen Körper, in dem der Verstorbene wiedergeboren werden kann.

    Zum Schutz vor buddhismusfeindlichen Kräften ließ der Heilige Padmasambhava wichtige Schriftstücke wie das "Bardo Thödol" an geheimen Orten verstecken. In späteren Jahrhunderten, so hieß es, würden sie von sogenannten "Schatzsuchern" wiedergefunden werden - nämlich dann, wenn die Zeit reif sei, um die Texte zu verstehen. Das "Bardo Thödol" wurde im vierzehnten Jahrhundert wiederentdeckt. Die Lektüre dieser Schrift, so die übereinstimmende Ansicht tibetischer und westlicher Gelehrter, gestattet es Menschen - gleich welcher Religionszugehörigkeit - sich auf das eigene Sterben und die Zeit danach vorzubereiten. Und: Das Lesen dieser Schrift soll das Verständnis für die Vorgänge beim Sterben und im Tod und den Einblick, den der Leser aus der Sicht des Sterbens in die Mysterien des Lebens gewinnen wird, außerordentlich vertiefen.

    Du könntest zwar deinen toten Körper neunmal wieder betreten.
    Doch ob du diesen oder einen anderen Körper suchst,
    du wirst nichts als Mühsal gewinnen.
    Gib' den Wunsch nach einem Körper auf und erlaube deinem Geist, im Zustand der Entsagung zu verharren, und handle so, dass du darin verharren kannst.
    So erreicht man Befreiung im Bardo.


    "Der Bardo birgt ja eine große Chance, die viele Menschen vor lauter Angst nicht zu erkennen vermögen. Mit entsprechendem Training aber kann jeder seine geistigen Waffen derart schärfen, dass alle Erscheinungen dieser oder der jenseitigen Welt ihm nichts mehr anhaben können. Der Mensch wird frei. Und wenn er mag, kann er dann auch in die Existenz eines Buddhas eingehen."

    "Das Wichtigste ist, dass es den Tod in den Mittelpunkt rückt, eine Tatsache in unserem Leben, die wir gern ignorieren. Das ist ein großer Verdienst dieses Buches – dass es ihm gelingt, das Interesse wieder in die richtigen Bahnen zu lenken."