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Ein Reiseführer ohne Bilder

Keine Stadt in Europa lädt so obsessiv wie Paris zu stundenlangen Spaziergängen ein. Und keine zwingt Touristen gleichermaßen wie ihre Bewohner so hartnäckig wie diese unermessliche Schönheit aus gesäubertem Stein zum ewigen Draußensein unter freiem Himmel. Selbst in Wintermonaten sind die Terrassen der Cafés übervölkert. Und der Philosoph Emil M. Ciroan, der in einer kleinen Dachwohnung an der Place de l’ Odeon residierte, bedauerte im Alter, nicht mehr des Nachts so, wie er es einst liebte, auf Abenteuersuche durch seine Lieblingsviertel streunen zu können. Paris schien ihm zu gefährlich geworden zu sein für derartige Eskapaden, auf denen er sich wie der letzte überlebende Mensch auf Erden fühlte. Keiner Metropole, die im Neunzehnten Jahrhundert zum Mythos avancierte, werden so viele Klischees unterschoben.

Von Heinz Norbert Jocks | 02.08.2006
    Ja, über sie scheint bereits alles gesagt worden zu sein, und in ihr scheinen Fotografen wie Doisneau, Charles Marville, Atget, Alfred Stieglitz, Edward Steichen, Bill Brandt oder William Klein fast ganze Arbeit geleistet zu haben. Kein Platz, der nicht schon tausendfach abgelichtet wurde. Kein Boulevard, der einem nicht schon von einer Ansicht bekannt zu sein scheint, ohne jemals dort gewesen zu sein. Kein Gebäude, das nicht irgendeinem Film als Kulisse gedient hat. Das Déjà vue scheint total. Was lässt sich diesen schönen Postkartenbildern und Geschichten, die über die Seine-Metropole weltweit verbreitet wurden, noch hinzufügen? Bereits der schwellenkundige Walter Benjamin, der viel Wahres über Berlin, Paris und Moskau verfasst hat, bemerkte einmal, wie schwer es sei, sich in einer Stadt, die man kennt, wie in einem Wald zu verirren. Als wolle der siebzigjährige Verleger und Schriftsteller und ehemalige Chirurg Eric Hazan beweisen, dass Paris mit seiner prächtigen, Glücksgefühle auslösenden Architektur mehr ist als ein einzigartiges Museum, in dem alles beim Alten bleibt, brach er wiederholt zu tagelangen Stadterkundigungen auf. Davon ausgehend, dass "kein Schritt vergebens" ist. So lautet der Untertitel seines sachkundigen Buches "Die Erfindung von Paris". Die Erkenntnisse dazu kamen ihm beim Schreiben.

    " Sie haben da voll und ganz Recht! Ich bin sicher, dass ich zu Beginn dieses Buches nicht einmal ein Zehntel dessen wusste, was ich letztendlich dabei zusammengetragen habe. Ich habe sehr viel gelernt. Zunächst einmal sah ich mir vieles an, was ich noch nicht kannte. Darunter ganze Viertel, in denen ich mich nicht gut genug auskannte und die ich dann mit der Zeit kennen lernte. Natürlich habe ich mir auch vieles in der Bibliothek angelesen. Sehr viel sogar! Ja, die Recherche und das Schreiben geschahen gleichzeitig. Es ist für mich ein Unding, so zu arbeiten, dass ich zunächst die Dokumente zusammentrage und erst im Anschluss daran mit dem Schreiben beginne. Ich weiß nicht, wie das geht.. Wenn ich zu viele Dokumente zusammentrage, - und das ist mir schon passiert-, dann nehme ich sie und schmeiße sie schließlich einfach weg. Weil ich nicht mehr weiß, was ich damit anfangen soll. "

    Wenn auch wegen seiner Dicke von weit über sechshundert Seiten recht unhandlich, lässt sich dieses Buch wie ein Reiseführer ohne Bilder benutzen, der einem wie einem treuen Freund nicht nur alles zeigt. Es erzählt auch mit großer Anschaulichkeit und Akribie, was da in den Straßen einst passiert ist, welche Rolle diese in der Geschichte der Aufstände spielten, wer da wohnte, wie sich immer wieder Umschichtungen ereigneten, wann die Aristokratie oder das Großbürgertum in andere Viertel abwanderte, welches Handwerk oder Gewerbe sich wo niederließ. So erzählt es von der Lebensgemeinschaft der Lumpensammler, die sich während der Jahre nach 1850 in der heute so unsicheren Gegend rund um die Gleise der Gare d’Austerlitz herausgebildet hatte. Ja, dieses mitreißende Buch eines Spaziergängers, der sein enzyklopädisches Wissen herrlich beiläufig einstreut, ist mehr als nur ein gutgeschriebenes Sachbuch voller Überraschungen. Eben unterhaltsame Literatur. Und so ist denn wohl auch kein Zufall, dass Eric Hazan dem nachgeht, wie Paris sich in Büchern von Proust, Balzac, Heine, Mallarmé, Victor Hugo, Breton, Apollinaire widerspiegelt.

    " Balzac mit seinen Grands Palais, den großen Boulevards, er ist mit Sicherheit der große Schriftsteller, der am meisten über das Straßengefüge von Paris geschrieben hat. Er war viel in Paris unterwegs und hat ganz Paris durchkämmt nur, um seine Kaffeemischung zu bekommen. Er hatte drei verschiedene Kaffeesorten, die er besonders mochte und die er an drei verschiedenen Stellen in Paris kaufte. Da es damals noch keine anderen Fortbewegungsmittel gab, musste er zu Fuß durch die Stadt. Er war folglich ein großer Spaziergänger. Man muss allerdings hinzufügen, dass Paris damals noch nicht so groß wie heute war, denn zu Zeiten von Balzac wurde Paris durch die Mauern der umliegenden Bauernhöfe begrenzt und befand sich innerhalb der heutigen Metrolinien Nation und Etoile sowie Barbès und Denfert. Paris, das heute zwanzig Arrondissements zählt, bestand damals nur aus zwölf. Baudelaire war vom gleichen Schlag. Paris war für ihn das Zentrum. Entsprechend häufig und eingehend spricht er darüber. Paris ist bei ihm sehr gegenwärtig. Sowohl in den "Fleurs du mal" als auch in seinen Prosagedichten. Anders bei Flaubert, bei dem es überhaupt keine Erwähnung findet. Natürlich übertreibe ich hier. Denn sein Roman "Education sentimentale" spielt in Paris. "
    Eric Hazan verwebt literarische Passagen mit seinem eigenen Text so geschickt, dass es zu aufschlussreichen Zeitsprüngen kommt. Diese erteilen Auskunft über die Geschichte der Arrondissements ebenso wie über die Geburtstunde der Fotografie, die dieser Metropole zu ihrer Bildwerdung verhalf. Da werden die Anfänge des Flanierens ebenso anschaulich wie das Rote Paris der blutigen Barrikadenkämpfe und Revolten. Unterwegs in der Hauptstadt der französischen Republik, die Hazan wie seine Westentasche kennt, erweist er sich als großer Humanist, dessen Herz für die Armen, die Verfolgten, die Außenseiter, die Unterdrückten oder die Elenden schlägt. Aber auch als Sehender, der alle achtzig Viertel in den zwanzig Arrondissements, eins nach dem anderen, durchstöbert und dabei die dunkle Untertagewelt der Metro meidet. Keine einzige Fahrt durch die Schächte wird beschrieben, und auch der typische Geruch, der da unten weht, steigt ihm nicht in die Nase. Wie ein sich zu mehr Langsamkeit ermahnender Flaneur, dessen Sohlen sich erinnern, hält er immer wieder inne. Er schaut und fragt sich, was sich seit Gründung der Stadt verändert hat. So kundig kann nur sein, wer, dort aufgewachsen, Paris mit allen Poren der Aufmerksamkeit erfahren hat, und nicht nur büffelnd in Bibliotheken .

    " Zu Paris habe ich diese Erfahrung gemacht, diesen Anstrich einer Erfahrung. Zunächst einmal dadurch, dass ich das Leben eines Parisers führte, denn ich bin nicht nur in Paris geboren, sondern habe hier auch immer gelebt, mit Ausnahme der Kriegszeit. Somit kann ich sagen, ein echter Pariser zu sein. Ich bin in meinem Leben sehr häufig umgezogen. Als Chirurg arbeitete ich an Krankenhäusern in den unterschiedlichsten Vierteln der Stadt. Folglich besitze ich umfangreiche Kenntnisse von der Stadt. Außerdem veröffentlichte ich als Herausgeber der nach mir benannten Edition Hazan diverse Bücher über Paris. Dadurch erfuhr ich vieles, was ich zuvor nicht wusste. Gute Autoren lernen immer von anderen Autoren. Aufgrund dieser beiden Voraussetzungen, der persönlichen und derjenigen als Verleger, gewann ich ein Wissen über diese Stadt. Nicht das Wissen eines Gelehrten, aber das eines Spaziergängers und Lesenden.

    Natürlich arbeitete ich dafür sehr viel in der Historischen Bibliothek von Paris. Im Marais, in der rue Pavé. Was die Geschichte der Stadt betrifft, wird man dort sehr fündig. Jedenfalls war die Recherche in dieser gut sortierten Bibliothek mir von großem Nutzen. Außerdem richtete ich mir selbst auch eine eigene Bibliothek ein, für die ich vieles gefunden und gekauft habe. Kann man das eine Recherche nennen, wo ich doch keine Archive geplündert habe? Nein, im herkömmlichen Sinne habe ich nicht wie ein Historiker in Kartons mit alten, noch unentdeckten Papieren gegraben. Ich denke, die Originalität dieses Buches - wenn man überhaupt von Originalität sprechen kann - besteht darin, dass da Dinge vereint wurden, die üblicherweise nicht miteinander in Verbindung gebracht werden. Denn die wissenschaftlichen, historischen Kenntnisse sind immens, aber zu weit voneinander getrennt und in viele Segmente unterteilt. Es gibt Leute, die sich mit dem mittelalterlichen Theater auskennen. Andere sind Spezialisten für die Fotografie des 19. Jahrhunderts. Wiederum andere kennen sich bestens in der Literatur des 19. Jahrhunderts aus, die in Paris spielt. All diese Wissensgebiete werden üblicherweise nicht zusammengeführt, sie kreuzen sich nicht. Ich habe versucht, eine transversale Verbindung zu schaffen. Mir schien das interessant und auch neu zu sein. "

    Und so erzählt Hazan von der Verlegung der wie Fremdkörper wirkenden Eisenbahnschienen mitten durch die Stadt. Von der Bedeutung der Passagen, in denen die Surrealisten untertauchten. Vom allmählichen Zusammenwachsen der Dörfer zu einem facettenreichen Ganzen. Von den düsteren Tagen der Hinrichtungen auf der Place de Grève. Von den Vierteln in Belleville, in denen sich in Wellen erst russische und polnische Juden, dann die aus Kleinasien vertriebenen Griechen, schließlich 1933 die deutschen Juden und spanischen Republikaner, nach dem Krieg auch die Algerier und zuletzt die Chinesen angesiedelt haben. Ein Vielvölkergemisch, im Frieden vereint. Nebenbei weist Hazan nach, dass sich keine der großen Hauptstädte so entwickelt hat wie Paris, mit derartigen Brüchen und in einem so unregelmäßigen Rhythmus. Denn das so oft bedrohte, okkupierte und wieder befreite Paris wurde nämlich an seiner organischen Ausdehnung durch insgesamt sechs Mauerringe innerhalb von acht Jahrhunderten wiederholt gehindert.

    Jede neue Grenzziehung kam in Begleitung mit Neuerungen, technischen, sozialen oder politischen Veränderungen, die der Machterhaltung dienten. So ließ Ludwig der XIV. in den Straßen, um das Gesindel zu vertreiben, an die dreitausend Laternen anbringen, die im Zeitalter der Aufklärung durch Öllampen ersetzt wurden. Und Hausmann richtete, um Aufstände besser zu kontrollieren, mit seinen Straßendurchbrüchen regelrechte Verwüstungen an. Von all den Wandlungen, die Paris durchlebt hat und die diese Stadt der Widersprüche ausmachen, spricht der Autor keineswegs wie ein sich an die Vergangenheit klammernder Nostalgiker, der beleidigt ist, dass nichts mehr so schön ist, wie es einmal war. Eher wie ein passionierter Archäologe legt er fast sämtliche Schichten frei. Er polemisiert dabei, wenn überhaupt, nur gegen grobe Veränderungen mit verschandelnder Wirkung. Jedenfalls, indem er einen historischen Blick auf die Arrondissements wirft, der vom 16.Jahrhundert bis ins unsere Tage reicht, gelingt es ihm, dem Vorurteil zu widersprechen, Paris sei bereits bei sich endgültig angekommen. Also Historie. Am Ende seiner geistreichen Führung durch das steinerne Labyrinth warnt er die Repräsentanten von Ordnung und Ruhe davor, anzunehmen, in Paris seien die Würfel bereits gefallen. Dass die Sprengkraft dieser Stadt, in der reichlich Blut geflossen ist, sich im unregelmäßigen Turnus vulkanhaft entlädt, ist seine beim Schreiben gewonnene Einsicht. So müßiggängerisch wie revolutionär, hat Paris laut Hazan, der sich als politischer Autor versteht, zwei Seiten.

    " Es schien mir, als ob dieses Buch auch eine politische Arbeit darstellte. Indem man diese Stadt studiert, lernt man, was man unter der politischen Entwicklung eines Landes zu verstehen hat. Es zeigt sich, dass die aktuelle Chronik der Ereignisse gar nicht so beispiellos ist, wie sie erscheint. Ich denke natürlich an die Aufstände in den Pariser Vororten im November 2005. Zunächst hat man den Eindruck, sie wären aus dem Nichts entstanden. Wenn man aber in die Geschichte von Paris eintaucht, wird man dessen gewahr, dass derartige Zustände so neu nicht sind. Über das Leben in der Stadt hat man sich nämlich immer schon beklagt. In ihr herrscht eine revolutionäre Kraft, die in ihrer Geschichte gewissermaßen schon eine Konstante darstellt. Mir war zu Beginn noch nicht so klar, dass es im 18., 19., und 20. Jahrhundert nicht anders zuging. Ich spiele jetzt nicht auf die Revolutionen an, beispielsweise auf die Revolution von 1830, auf die Pariser Kommune. Diese fanden in einem klassischen Rahmen statt und schufen die Bilder der Trikolore, der französischen Republik. Es gibt noch anderes, was man nicht kennt, und historisch gesehen im Hintergrund geblieben ist, weil es weniger interessant ist. "

    Eric Hazan:
    "Die Erfindung von Paris"
    (Ammann Verlag)