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Ein Roman, der schaudern macht

Clemens Meyers Roman "Im Stein" über die Rotlichtszene ist keine vordergründig sozialkritische Dokumentarliteratur. Ihm ist ein grandioser und düsterer, ein fantastischer sowie realer Roman über unsere Zeit gelungen. Der gerade, weil er auf ein moralisches Urteil verzichtet, zutiefst moralisch ist.

Von Wiebke Porombka | 11.09.2013
    "Wenn es Abend wird, stehe ich am Fenster. Ich schiebe die Lamellen der Jalousie mit den Fingern auseinander und sehe den Abendhimmel hinter den Häusern auf der anderen Seite der Straße. Es wird immer noch früh dunkel. Das Jahr ist nicht mal einen Monat alt, aber es fühlt sich schon lang und schwer an. Obwohl es nicht so viel Arbeit gibt zurzeit. Im Januar jammern wir alle. Ich will immer noch einmal die Sonne sehen und den letzten Streifen Licht."

    "Im Stein" beginnt leise, fast verhalten. Denn zunächst ist es nur ein kleiner Spalt, den Clemens Meyer freigibt auf eine Welt, die mit jeder Seite, die man in diesem Roman umblättert, immer abgründiger wird, immer geheimnisvoller, immer surrealer. Eine Welt, die zugleich von einer brutalen Realität ist.

    Die junge Frau, die in der ersten Szene des Romans am Fenster steht und über ihr Leben erzählt, ist eine junge Prostituierte. Sie ist eine von unzähligen Frauen, die in den Nachwende-Jahren im Osten Deutschlands ihre Körper zu verkaufen anfingen, irgendwo in einer Grauzone zwischen Legalität und Illegalität, in einem Graubereich zwischen dem Glück über schnell verdientes Geld und körperlicher und seelischer Erniedrigung. Diese junge Frau dort am Fenster ist eine von vielen Prostituierten, denen Clemens Meyer in seinem neuen Roman eine Stimme verleiht.

    So unterschiedlich diese Frauen auch sind - alt, jung, mütterlich, verzweifelt, abgebrüht, selbstbewusst -, eines ist ihnen bei Meyer gemeinsam: Sie alle verschwinden nach kurzer Zeit mit ihren Geschichten und Schicksalen wieder in der Unübersichtlichkeit der Stadt, hinter den Türen von trostlosen Wohnungen, in denen sie ihre Freier empfangen, oder hinter den Türen von Bordellen, wo sie Abend für Abend hoffen, einen guten Schnitt zu machen und an nicht allzu unangenehme Kunden zu geraten. Auch in Meyers Roman tauchen die Frauen nicht wieder auf, nachdem sie einen Ausschnitt aus ihrem Leben preisgegeben haben. Eben dieses unwiederbringliche Verschwinden lässt diese Frauen so einsam und verloren erscheinen, ohne dass diese Einsamkeit und dieses Verlorensein eigens erzählt werden müssen.

    Wiederkehrende Figuren sind bei Clemens Meyer nur die Hintermänner, die Nachtclub-Besitzer, Zuhälter oder diejenigen, die sich schlicht als Wohnungsvermittler ausgeben. Aber auch ihre Geschichten werden von Meyer nicht chronologisch erzählt, sondern in Fragmenten, bei denen nicht immer einwandfrei zu entscheiden ist, ob sie womöglich nur den Träumen dieser Männer entspringen oder deren mitunter von Angst durchsetztem Einbildungsvermögen.

    Das Auftauchen und Verschwinden von Figuren, das Montieren verschiedener Stimmen, das Verschneiden von Realität und Surrealem ist das Prinzip, das dem fast 600 Seiten schweren Roman von Clemens Meyer zugrunde liegt.

    "Ich habe keinen von diesen Hintermännern getroffen, aber mich da über Jahre kundig gemacht und gehorcht und geschaut, ohne dass die es wissen, das ist ja immer ein bisschen prekär. Es gibt ja auch sowieso keine Eins-zu-eins-Figuren. Tatsächlich gesprochen oder getroffen habe ich mich nur im Laufe von fast zehn Jahren mit sehr vielen Prostituierten, Sex-Arbeiterinnen. Und sicher habe ich auch das eine oder andere Mal mit einem Bar-Betreiber gesprochen. Aber es ist ein mythologischer Roman, es ist kein überrealistischer Roman, der sich anmaßt zu sagen, er bildet die Realität des sogenannten Rotlichts ab."

    Alles andere als vordergründig sozialkritische Dokumentarliteratur ist dieses Buch, auch wenn Clemens Meyer ein Thema gewählt hat, das so einen Blick nahe legen mag. Und natürlich gibt es dennoch immer wieder Spuren, die sehr konkret auf reale Vorgänge zu verweisen scheinen. So schreibt Meyer etwa über eine Motorrad-Gang, die große Teile des Rotlicht-Milieus kontrolliert. "Engel" heißen sie bei Meyer - die Assoziation zu den "Hells Angels" kann da kaum ausbleiben. Schnell allerdings merkt man, dass ein allzu akribisches Ausdeuten von Spuren in diesem Roman wenig Sinn machen und seinen eigentlichen Charakter, die Besonderheit seiner Form, verkennen würde.

    "Es ist der Versuch, die Realität im Spiegel einzufangen und den Spiegel kaputtzumachen und dann ergibt sich aus diesen Zerrbildern wieder eine eigene Realität. Die korrespondiert natürlich mit der Realität der Jahre, also mein Buch korrespondiert mit der Realität der Jahre, 1990 bis jetzt. Aber trotzdem ist es natürlich eine andere Welt. Es ist der Versuch, mit Quasi-O-Tönen und Interviews zu arbeiten, gleichzeitig aber auch einen Mythos zu erzählen, über die Unterwelt zu erzählen, ein Märchen zu erzählen, ein dunkles. Natürlich sind die Fragmente der Realität immer da, aber letztendlich ist es eine eigene Welt, die da in diesem Stein entsteht."

    Diese Welt, die der Roman aufmacht, eine Welt, in der die Figuren beständig zwischen Oberwelt und Unterwelt hin und her wechseln, ist polyfon, und sie ist brachial. Und immer wieder zerrt die Lektüre dieses Romans an den Nerven, weil Meyer den Leser gnadenlos allen Spielarten der Abgründigkeit und des Abseitigen aussetzt, denen der gekauften Sexualität und denen des Seelenlebens seiner Figuren. Und immer wieder auch ist dieser Roman tieftraurig. Wenn etwa ein junges Mädchen, das unter falschen Versprechungen in das Elend der Zwangsprostitution gelockt wurde, die Scharen von Männern, die sie Tag für Tag vergewaltigen, nur ertragen kann, indem sie, Seite für Seite, Bild für Bild, alte Donald-Duck-Hefte memoriert.

    Und tieftraurig sind auch Szenen wie jene, in der ein Vater, zunehmend von Ängsten und Visionen geplagt, durch die Stadt irrt auf der Suche nach seiner Tochter, die er vor Jahren an einen Zuhälter verloren hat.

    "Plüsch über den Metallwänden. Bläuliches Licht. Vielleicht Schwarzlicht. Ein rotes Herz, auch Plüsch. Er liegt auf dem großen Bett. Seine Tochter ist nackt und sitzt auf ihm. Ihre Zähne leuchten im offenen Mund. Sie hat sich die Nase operieren lassen, aber er erkennt sie trotzdem. Als er aufwacht, ist sie weg. Er blinzelt, erkennt nicht sofort, wo er ist. Er taumelt durch einen langen, halbdunklen Gang, Wasser tropft von den Wänden. Vor sich und hinter sich hört er Schritte, oder ist das der Widerhall seiner eigenen? Er erkennt verrostete Eisentüren in den Wänden, links und rechts. Die Wände, die Decke, der Boden, die Türen vibrieren, ein Grollen irgendwo über dem Stein, oder ist es das Dröhnen des riesigen Bohrers, der sich durch den Grund frisst, die Stadt unterhöhlt, Projekt City-Tunnel, warum nicht gleich bis Berlin, was wäre das für eine Huren-Pipeline. "Nein!", ruft er immer wieder."

    Der Stein, über dem es hier grollt und der den Mann zu vergraben scheint, ist ein stetig wiederkehrendes Motiv, das diesem Roman auch den Titel verleiht. Mal steht das Motiv des Steins für die Stadt, die zwar Ähnlichkeiten mit dem realen Leipzig aufweist, die von Meyer aber als ein modernes Metropolis gezeichnet wird. In einem Kriminalfall, der nur kurz angerissen wird, dessen Spuren sich aber bald verlieren, ist es ein Betonklotz, an den die Mordopfer gekettet und im Moor versenkt werden. Und als einer der Hintermänner über einen Friedhof spaziert, scheinen die steinernen Büsten auf den Gräbern wie Mahnmale, die ihn vor allem an die eigene Vergangenheit erinnern.

    "Mich hat dieser Begriff des Steins und im Stein zu sein, immer interessiert, immer fasziniert. In "Gewalten" gibt ein Kapitel, das heißt "Im Bernstein", da fühlen sich die Figuren, als wären sie eingeschlossen in diesem Bernstein und Leute würden sie beobachten. Und im Prinzip ist es auch der archäologische Blick. Ich dringe in die Versteinerungen der Erde ein. Und in die Versteinerungen auch der Menschen. Und natürlich ist im Stein immer auch das große Grab."

    "Im Stein" ist ein Roman, der schaudern macht. Ein Roman, der bis ins Mark dringt, wenn man sich als Leser auf das Gewirr der Stimmen einlässt, die von allen Seiten und ohne Rücksicht darauf, ob er ihnen folgen kann, auf den Leser einreden, auf ihn einströmen. Die manchmal vielleicht auch nur reden, um sich zu vergewissern, dass sie noch am Leben sind. Manchmal vielleicht auch nur aus Langeweile. Stimmen, die sich vermischen mit der Kakofonie einer Stadt, mit den Klängen und Misstönen unserer Gesellschaft.

    Clemens Meyer hat mit "Im Stein" einen grandiosen und düsteren, einen ebenso fantastischen wie realen Roman über unsere Zeit geschrieben, der gerade, weil er auf jedes moralische Urteil verzichtet, zutiefst moralisch ist. Und der, gerade weil er kein Mitleid zur Schau trägt, zutiefst emphatisch auf seine Figuren schaut. Es scheint kaum übertrieben, Meyers vielstimmigen Chor aus der großen Stadt - aus dem Stein, aus dem unsere Zeit ist - in eine Reihe mit einem Roman wie Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz" zu stellen.

    Clemens Meyer: "Im Stein"
    Roman
    S. Fischer Verlag, Frankfurt 2013. 560 Seiten, geb., 22,99 Euro