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Ein Roman wie ein Bericht

Der Roman "Gleich nebenan" von Nina Jäckle ist großartig, geheimnisvoll, düster. Abscheu und Anziehung, Liebe und Hass, Nähe und Distanz wechseln beständig in einem Sprachspiel, das den Personen alle individuellen Merkmale entzogen hat.

Von Beatrix Langner | 22.01.2007
    Was an ihren Büchern zuerst auffällt, ist die luftige Typographie, das Weiße auf den Seiten, die an eine Partitur denken lassen. Nina Jäckles drittes Buch, der Roman "Gleich nebenan", hat von den Genremerkmalen eines Romans nur noch soviel, wie unbedingt nötig ist, damit zwischen den auftretenden Figuren eine durchgehende Handlung erkennbar bleibt. Da ist also ein junges Paar, ein Mann und eine Frau, die in einem Haus im Dorf wohnen. Und da ist eine alte Frau im Nebenhaus, "gleich nebenan", die hinter der Gardine beobachtet, was im andern Haus vor sich geht. Der junge Mann ist blind, seine Frau kocht und liest ihm vor, badet ihn, führt ihn durch das Dorf, erklärt ihm die Welt, die er nicht sehen kann. Und so beginnt sie ihm auch zu erzählen von ihren Besuchen bei der alten Frau "gleich nebenan".

    Der Roman, wenn es denn überhaupt einer ist, beginnt wie ein nüchterner Bericht: "Der Sohn der Nachbarin ist ertrunken." Wenn das Buch ausgelesen ist, bleibt keinerlei Gewissheit mehr: Ist er wirklich ertrunken? Woher weiß die junge Frau von der Tochter der Nachbarin, obwohl nichts in deren Haus auf deren Existenz hindeutet, kein Foto, kein Zimmer. Warum hasst sie ihren blinden Mann, den sie doch so liebevoll umsorgt? Und warum gibt es weder Familiennamen noch Eigennamen in dieser Partitur einer tragischen Verstrickung? Auch die Leute im Dorf erzählen unterschiedliche Wahrheiten.

    Nina Jäckle zieht die Fäden zwischen ihren Figuren immer enger, bis sie sie alle in einem Netz zusammen hat, das den Meistern des Suspense von Edgar Allan Poe bis Hitchcock, alle Ehre macht. Im Zentrum des Netzes aber sitzt die Erzählerin, die große Unbekannte, deren Geheimnis uns Nina Jäckle auch auf Anfrage nicht verrät.

    "Die Geschichte, die wirkliche Geschichte, die wird ja immer wieder nur angedeutet, und es ist ja so, dass sich das Bild ein kleines bisschen wendet, je nachdem, wer die Geschichte erzählt. Und wie es denn nun wahrhaftig und wirklich gewesen sein könnte, das erfährt man nicht, und das lässt einen natürlich dann ratlos zurück, aber diese Ratlosigkeit trage ich im Moment als Grundgefühl gegenüber allem, was in dieser Welt passiert, mit mir rum. Im Grunde ist es die Art, wie die Ich-Erzählerin die Geschichten weiterformt, und wie sie immer distanzierter wird, denn es sind plötzlich Geschichten, die sie erzählt, und es könnte ja alles sein, und man muss sich nicht festlegen auf ein großes Drama, denn es kann immer wieder ein anderes kleines sein, das da mit reinspielt. Und so schummelt sich ja die Ich-Erzählerin auch ein bisschen um das wirkliche Drama herum und die Kraft des Erzählens, also des Sich-Gewahr-Werdens, was geschehen ist, aber gleichsam die Macht darüber zu haben, in wieweit man das schlimm sein lässt oder nicht."

    Die Kunst des Erzählens beginnt bekanntlich da, wo das Erzählte der Interpretation listig entschlüpft und gegen alle Welt- und Texterklärungsmuster seine eigene Logik setzt. So ist es auch hier. "Gleich nebenan" ist großartig, geheimnisvoll, düster; ein scharf geschliffener Stein des Anstoßes für alle, die glauben, Literatur sei Inhalt, Handlung, plot. Mal scheint die Möglichkeit einer Vergewaltigung auf, mal die Möglichkeit eines Geschwisterinzests. Abscheu und Anziehung, Liebe und Hass, Nähe und Distanz wechseln beständig in einem Sprachspiel, das den Personen alle individuellen Merkmale entzogen hat.

    "Diese Schachtelsituation, in die ich die Menschen immer zu stecken scheine, das ist wohl was, was mich zwingend beschäftigt. In den vorigen Büchern hatten meine Figuren ja nur keine Haarfarbe und keine Vorhänge. In diesem Buch ist es ja so, dass sie noch nicht einmal Namen haben, sondern nur noch Bezeichnungen, und für mich war das evident, dass das so ist. Die Geschichte, die in sich ja mit einer gewissen Brutalität agiert, die musste für mich diese Unpersonen haben als Gestalt. Ich weiß jetzt aber mittlerweile, dass das die Leser erschrecken kann, es hält den Leser davon ab, ein bestimmtes Mitgefühl zu entwickeln. Und es wirkt kalt und distanziert. Aber genau darum geht es im Text, das ist genau der Inhalt, und infolgedessen freue ich mich im Grunde darüber, wenn es diese Form von Unbehagen auslöst, das man das fast schon als entseelt empfindet, weil: Die Hauptperson ist ja eine grob Entseelte, von Kindesbeinen an."

    Wir überlassen es gern den Lesern herauszufinden, wer in diesem bedrohlich sich abzeichnenden Familiendrama, dessen Protagonisten sich der Verantwortung für ihre Geschichte konsequent entziehen, schließlich die Hauptperson ist. Nina Jäckle hat etwas bewirkt, das in der deutschsprachigen Literatur selten geworden ist. Sie hat mit ihren Büchern einen Stil geschaffen. Sie hat der deutschen Sprache genau das weggenommen, das man ihr im Vergleich mit anderen Sprachen als Vorzug nachsagt: ihre Fähigkeit, Dinge sichtbar, abbildbar, geradezu körperlich spürbar zu machen, und genau das aus ihr herausgeholt, wozu sie am wenigsten geeignet schien: Transparenz, Doppelbödigkeit, Purismus.

    Wer von uns gebraucht zum Beispiel in der Alltagssprache noch den zweiten Konjunktiv? Jäckle gebraucht ihn hier durchgängig. Tochter und Sohn der Nachbarin "werden sich heimlich getroffen haben", sie "wird ihm etwas erzählt haben" und so weiter. So enthüllen die grammatischen Formen, was sich die Figuren selbst nicht eingestehen wollen, dass sie sich über den wahren Charakter ihrer prekären Beziehungen permanent belügen, denn dieser wäre mörderisch und unerträglich, und sich immer neu entwerfen, die Wahrheit auslassend umkreisen.

    "Es gibt nichts Mächtigeres als das Auslassen. Wie viel mächtiger ist es, ein ganzes Leben darauf zu warten, dass dir jemand sagt, ich liebe Dich? Viel mächtiger, als wenn er es dir täglich sagt. Und die Sehnsüchte, die aber nicht mehr als Sehnsüchte wahrnehmbar sind, sondern sich umformulieren, wirklich in dem Buch umformulieren in Abscheu, das hat mich sehr gereizt, das rauszuarbeiten. Also in dem Buch begegnen sich die Personen auch nicht wirklich, so kann es erst sein, dass ein Familiendrama entsteht, dass die Ich -Erzählerin plötzlich in Gefühlen wie Hass Geborgenheit empfindet, dass sie Geborgenheit empfindet dadurch, sich komplett zu isolieren, das sind alles Themen, die natürlich heutzutage in der Luft schwirren."

    In dieser Schmerzvermeidungssprache kommt es nicht mehr darauf an, die Wirklichkeit abbildend beim Namen zu nennen, sondern deren Abbildbarkeit selbst in Frage zu stellen. Denn Erzählen bedeutet immer zugleich Verformen der Realität auf der Oberfläche der Kommunikation.

    Seit ihrer ersten Veröffentlichung 2002 arbeitet Nina Jäckle daran, die verborgenen Rupturen und toten Winkel sozialer Beziehungsgefüge sichtbar zu machen in einer Prosa, die bei aller Kunstfertigkeit immer noch sehr natürlich klingt. Und es ist sicher kein Zufall, dass ihr zweites Buch "Noll" vor kurzem ins Französische übersetzt wurde. Eine Zeit lang schien es so, als lägen die kalt glitzernden Wortwüsten des französischen nouveau roman, der in Deutschland nie so recht Fuß fassen konnte, für immer hinter uns. Bei Jäckle und auch bei einigen anderen jüngeren Autoren, um nur Michael Lentz zu nennen, scheint er als deutsche Variante einer Avantgarde légere nun Auferstehung zu feiern.