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"Ein sehr interessantes Experiment, das in Libyen beginnt"

Libyen müsse sich nach dem Ende des Gaddafi-Regimes völlig neu erfinden, sagt der Nahost-Experte Michael Lüders. Falls es nicht gelänge, die unterschiedlichen Gruppierungen im Land zusammenzubringen, käme es zum Worst Case-Szenario: kriegerische Auseinandersetzungen und Staatszerfall.

Michael Lüders im Gespräch mit Dirk Müller | 22.08.2011
    Dirk Müller: Wir bleiben beim Thema Libyen. Die libyschen Rebellen haben große Teile von Tripolis besetzt und mit großer Wahrscheinlichkeit ist die militärische Entscheidung im Kampf um die Macht gefallen. Am Telefon ist nun Nahost-Experte Michael Lüders. Guten Morgen!

    Michael Lüders: Schönen guten Morgen!

    Müller: Ist die Entscheidung tatsächlich gefallen?

    Lüders: Ja. Sie ist im Wesentlichen gefallen. Es geht jetzt eigentlich nur noch darum herauszufinden, wo Muammar al-Gaddafi sich aufhält und ihn dingfest zu machen. Diese Entscheidung, mit der niemand gerechnet hätte, dass sie so schnell erfolgt, ist nicht das Ergebnis besonderer militärischer Stärke seitens der Rebellen, sondern vielmehr das Ergebnis geschickter Verhandlungen, die der nationale Übergangsrat in Bengasi in den vergangenen Tagen und Wochen mit den Stämmen im Westen Libyens geführt hat. Die Stämme dort sind zu der Auffassung gelangt, dass es keinen Sinn mehr macht, auf Gaddafi zu setzen, der nicht mehr genügend Truppen hinter sich hat. Man hat die Loyalitäten gewechselt und gestern kam es dann zum Durchbruch, weil der Kommandeur von Tripolis, der von Gaddafi den Auftrag bekommen hatte, Tripolis bis zum letzten Mann zu verteidigen, kapituliert hatte und somit den Weg für die Rebellen frei gemacht hat. Aber trotzdem: Der Blutzoll war sehr hoch, es soll ungefähr 1.500 Tote gegeben haben.

    Müller: Dass die Stämme in Libyen mit einer Sprache sprechen, zu einer gemeinsamen Handlung oder Entscheidung oder Vorgehensweise kommen, das ist völlig neu. Wir das alles ändern?

    Lüders: Das ist jetzt wirklich ein sehr interessantes Experiment, das in Libyen beginnt, denn dieses Land muss sich völlig neu erfinden. Unter Gaddafi war Libyen im Wesentlichen Gaddafi, Gaddafi und Libyen waren eins, es gab keine staatlichen Institutionen wie Parteien, ein Parlament, Gerichte, die unabhängig gewesen wären, eine Justiz, die diesen Namen verdient hätte. Alles lief hinaus auf eine Figur, auf Muammar al-Gaddafi und seinen Clan, und nun muss man erst mal die Institutionen aufbauen und die Stämme im Land, im Osten wie im Westen, zusammenbringen. Das ist eine große Herausforderung. Ob das gelingt, ist völlig offen. Im Best Case wird es gelingen, werden wir jetzt eine etwa zweijährige Übergangsphase haben, in deren Verlauf sich die Kräfte verständigen werden und vor allem zu einem Konsens gelangen, wie der enorme Erdöl-Reichtum fair untereinander aufzuteilen ist. Wenn das nicht gelingt, dann kommt es zum Worst Case-Szenario, nämlich einem anhaltenden kriegerischen Auseinandersetzen und eben dem Staatszerfall in Libyen.

    Müller: Helfen Sie uns, Herr Lüders, bei diesem komplizierten Geflecht der unterschiedlichen Stämme, der unterschiedlichen Interessen ein wenig weiter. Gibt es dort Stämme, die das Sagen haben, Stämme, die weniger Einfluss haben?

    Lüders: Ja. In der Vergangenheit hatten insbesondere unter Gaddafi in den 42 Jahren seiner Herrschaft drei große Stämme im Westen des Landes das Sagen. Das war einmal sein eigener Stamm, die Gaddafa, daher auch sein eigener Name Gaddafi, die aber ihrerseits angefangen haben, schon vor einigen Wochen auf Distanz zu gehen zu Gaddafi. Dann gibt es eine andere, die größte Stammesföderation, das sind die Warfalla südlich von Tripolis. Und schließlich die Margaha im Süden, die uns auch bekannt sind durch den Lockerbie-Prozess. Aus deren Reihen kam die Attentäterin, die 1988 ein Flugzeug über dem schottischen Ort Lockerbie zum Absturz gebracht hatten. Diese Stämme waren die Machtbasis und der Osten, die Stämme dort waren von der Machtverteilung weitestgehend ausgeschlossen. Das erklärt auch, warum der Aufstand in Libyen im Osten ausgebrochen ist und sich dann in Richtung Westen in einer Wellenbewegung rückbewegt hat. Es waren nicht die Stämme allein, die hier gekämpft haben, sondern auch Arbeitslose bis hin zu Ärzten, Akademikern, Studenten. Sie alle haben sich erhoben gegen Gaddafi, weil die Herrschaftsform durch ihn wirklich das Furchtbarste war, neben Saddam Hussein im Irak. Er hat das ganze Land zur Geisel genommen, es war ein furchtbares intellektuelles Niveau in diesem Land, eigentlich gar keines. Jenseits des Grünen Buches gab es keine öffentlichen Auseinandersetzungen über Politik, das war ja seine Bibel, das Grüne Buch, und die Mittelschicht, die intelligenten Leute, die Händler, die Leute mit Geld, sind alle vertrieben worden im Verlaufe der letzten drei Jahrzehnte.

    Müller: Ich muss Sie das so fragen, Herr Lüders. Seit wann haben diese Stämme, auch gerade die libyschen Stämme, Interesse möglicherweise an demokratischen Strukturen?

    Lüders: Nun, die Stämme für sich genommen sind ja durchaus fähig zur Demokratie, sie haben ja innerhalb ihrer Stammesgemeinschaft, wenn man sich vorstellt, dass ein Stamm eine Million Mitglieder umfasst, das muss man ja irgendwie organisieren und da gibt es natürlich demokratische Strukturen und Konsensbildung. Aber diese Strukturen, die es gegeben hat in der Vergangenheit, die sind durch Gaddafi vollkommen zerstört und manipuliert worden. Deswegen muss man diese Strukturen jetzt wiederbeleben. Ob das gelingt, ob das nicht gelingt, ob am Ende der Interessenausgleich ausreichend sein wird, zwischen dem Osten und dem Westen Libyens und denen, die diesen Aufstand gemacht haben, die nicht immer nur zu den Stämmen gehörten, sondern in den Städten sich auch eine eigene Identität, eine individuelle Individualität sich längst zugelegt hatten, ob das gelingt, zwischen diesen Gruppierungen den Ausgleich zu finden, das ist eine völlig offene Frage. Aber grundsätzlich sind natürlich die Leute fähig zur Demokratie, sie hatten nur nie die Chance, sich zu äußern. Ein kritisches Wort gegenüber Gaddafi konnte den Tod bedeuten.

    Müller: Bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk Nahost-Experte Michael Lüders. Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.