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Ein steinernes Schiff

Das "schwimmende" Wasserschloss liegt etwas versteckt an einer Biegung des Flüsschens Cher. Das Schloss ist auf Bögen in- und über diesen Fluss gebaut. Und dieses Flüsschen lud damals auch zu feudalen Kahnpartien mit Fackeln und Musikbegleitung und Maskenfesten ein. Prosaischer kann uns der Romancier Gustav Flaubert einstimmen ...

Von Franz Nussbaum | 19.08.2012
    "Am Ende einer großen Allee gelegen, vom Wald umgeben, inmitten eines weiten Parks, auf Wasser gebaut, streckt Chenonceau seine Türmchen und seine viereckigen Schornsteine in die Luft. Seine stille Melancholie ist ohne Langeweile und Bitterkeit."

    Stille Melancholie ohne Langeweile und Bitterkeit? Heute sind die Parkplätze von Chenonceau rappelvoll. Das Parken ist sogar kostenlos. So, als habe Franz I. vor rund 450 Jahren auf seinem Sterbebett noch verfügt, dass zu seinem Nachruhm alle Besucher hier umsonst ihre Pferde und Wagen abstellen dürfen. Hätten ihm seine Hofastrologen damals den heutigen Loire-Tourismus mit Tausenden täglicher Besucher vorhergesagt, dann hätte der immer klamme Franz die möglichen Parkplatzeinnahmen hochrechnen lassen und auf 500 Jahre seinen Bankiers verpfändet. Bei denen steht er nämlich hoch in der Kreide. Franz fragt nie, ob er Geld hat, er gibt es einfach aus. Hört sich so aktuell an. Er gibt es aus für Kriege, für Schlösser, für Damenbekanntschaften.

    Zurück in den Park. Und es führt also eine pompöse Kastanienallee etwa 600 Meter geradewegs auf das Schlossportal zu. So als hätten die damaligen Baumeister, allesamt Meister der Lichtinszenierung, das so geplant, wie man aus dem halbdunklen Schatten der Allee magisch von den hellen Steinen des Schlosses angezogen wird.
    Begleiten wir also Franz I. bei seinem Besuch, wahrscheinlich 1535. Da bekommt er Chenonceau quasi umsonst auf dem Tablett serviert. Der Historiker Michael Kleu.

    "Wir müssen wissen, Franz I. hatte noch keine feste Residenz, wenn man von Fontainebleau absieht. Fontainebleau wird damals gerade auf italienische Renaissance umgebaut und erheblich erweitert, ist eine staubige Baustelle. Der König lässt gleichzeitig auch das Schloss von Blois, an der Loire, auf Renaissance umbauen. Er errichtet sich, Ironie von Verschwendung, mit dem gigantischen Schloss Chambord ein "bescheidenes Jagdschloss" mit sparsamen 426 Räumen. 426 Zimmer für seine Jagdvergnügen. Und so kommt Franz I. nach Chenonceau. Klein, aber betörend fein, es ist schon fertig. Er hat es sich für die Krone konfiszieren lassen."

    Konfiszieren heißt, es sind angebliche erhebliche Schulden und Unterschlagungen seines Schatzkämmerers Bohier, dem Chenonceau gehörte. Deswegen wird das Schloss dann eben eingezogen. Zudem ist der klamme König Franz bei eben diesem Finanzjongleur privat hoch verschuldet. Ein Schelm, der da einen Zusammenhang wittert. Zurück zur Anreise des Königs nach Chenonceau. Wir lesen:

    "Die Hof- und Reisegesellschaft wird gezogen und getragen von 18.000 Pferden. Man reist mit kostbaren Wandteppichen, Möbeln, Gold- und Silbergeschirr und Luxuszelten. Wenn in Friedenszeiten der französische Hof ganz beisammen ist, so reist ein Tross von 18.000 Personen, darunter mehr als 12.000 Berittenen."

    Hofadel, Klerus, Schmeichler, Schmarotzer, eine Clique schöner Hofdamen, die den König erheitern soll. Sein Hofkompositeur mit seinen Musikern, Schauspieler, Tänzer. Ballett ist grade in Italien erfunden worden. Und so etwas will auch der Franzose Franz haben, koste es, was es wolle. Man gönnt sich ja sonst nichts. Da ist also ein Lindwurm nach Chenonceau unterwegs vom Ausmaß heutiger Rosenmontagszüge in Mainz oder Köln.
    Einige Kilometer vor Chenonceau wird der König auf seinen Parade-Schimmel umgestiegen sein.
    So reitet also Franz I. mit wehendem Federbusch hier diese Allee herunter. Begleitet von Herolden, geleitet von den ersten Würdenträgern seines Hofes. Und die nächsten Tage geht es dann auf die Jagd.
    Und gehen wir der Frage aus dem Weg, wie 18.000 Personen in Chenonceau mit seinen knapp 30 Schlossräumen, einschließlich Mansarde, untergekommen sind? Heute sind 15.000 Besucher an einem sommerlichen Wochenende nichts Besonderes. Und schalten wir auch schon um auf die nächste Generation der Hauptdarsteller, die es in Chenonceau wieder "krachen lassen".

    "Die sind hier bei diesem Besuch von Franz I. mit dabei. Da wäre sein Sohn, der knapp 15-jährige Herzog von Orleans. Mit dabei ist auch dessen gleich alte Gemahlin, Herzogin Katharina von Medici aus Florenz. Und mit dabei ist wahrscheinlich auch die Hofdame Diane, Gattin des verstorbenen Großseneschalls. Ein Großseneschall war der mächtigste Beamte der Krone. Und Diane ist 33 Jahre, hochgebildet, von Adel. Trotz ihrer Witwenschaft behält sie am Hofe Franz I. ihre unangefochtene Position. Diane ist die später zur Herzogin erhobene "Diane de Poitiers". Sie gilt, etwas plakativ gesagt, als die schönste Frau des 16. Jahrhunderts. So wird sie jedenfalls von Literaten und Diplomaten beschrieben und von Malern sehr freizügig porträtiert. So hängt sie heute im Louvre."

    Welch eine Konstellation in Chenonceau. Der junge Sohnemann von Orleans schwärmt schon als 15-jähriges Bürschlein für diese schönste Frau seiner Zeit. Diane, verwitwet, also frei. Sie weiß genau, was sie als Frau erreichen kann und wie man es erreichen kann. So steht sie wenig später vor der Entscheidung, sich diesen 17-jährigen Heinrich II. als Liebhaber zu nehmen? Und sie nimmt ihn sich. Es ist nicht ohne Risiko. Sie könnte ja auch wegen des gewaltigen Altersunterschiedes von fast 20 Jahren schnell zum Gespött des Hofes absteigen, wenn die erste jugendliche Leidenschaft verrauscht ist und sie abgehalftert in die höfische Mottenkiste entsorgt wird. Und diese Diane hält diese einflussreiche Rolle, auch als Beraterin, durch, mit eiserner Disziplin, wie sie ihre Schönheit und ihre Figur fast alterslos erhalten kann. 25 Jahre lang. Da ist sie dann 60. Und diese sich anbandelnde Liebelei beobachtet hier auch die kleine Medici in Chenonceau. Die Banken-Prinzessin aus Florenz ist etwas pummelig. Ich habe hier ein Bild dabei. Keine Schönheit, aber stinkreich. Wegen Ihrer Mitgift aus dem Hause Medici ist sie ja auch geheiratet worden. Endlich wieder etwas Wechselgeld in der leeren Schatulle. Und Katharina von Medici geht parallel zur schönsten Frau-, sie geht als die "politisch mächtigste Frau" dieses Jahrhunderts in die Geschichtsbücher ein. In der Rivalität dieser beiden Damen braut sich also etwas über dem Schloss der Damen zusammen.

    "Und dieser Thronfolger Heinrich II. betet seine Favoritin in noch erhaltenen Briefen an. Er verwöhnt seine Herzdame, schenkt ihr Chenonceau, auf ihre Bitte, als verspieltes Schlösschen und Damensitz. Damensitz, soweit Diane nicht in Fontainebleau oder in anderen Schlössern streng öffentlich in der ersten Reihe neben dem König auftritt und die Fäden zieht."

    Heinrich, mir graut vor Dir. Und Diane legt sich hier in "ihrem" Schlöss-chen einen opulenten Garten an. Man pflanzt Pfirsich- und Paradiesapfelbäume. Hunderte Rosensetzlinge, Lilien, 9000 wilde Erdbeerpflanzen und ähnlich viele Veilchen. Und Diane beginnt mit der Seidenraupenzucht und pflanzt weiße Maulbeerbäume. Und wir lesen:

    "Ein geheimnisvoller Zauber geht von dem Bauwerk und seinen Gärten aus. Zugleich schwerelos und wie ein Schiff taucht aus dem sanften Licht des "Val de Loire" das Damenschloss der Diana von Poitiers und der Katharina von Medici auf. Chenonceau wurde vergrößert und verschönert und erlebte verschwenderische Feste und glänzende Höhepunkte."

    "Diane beginnt die bauliche Erweiterung des Schlösschens mit jener Brücke auf hohen Bögen über den Cher. 60 Meter lang und sechs Meter breit. Da drauf wird später diese zweieinhalbstöckige Galerie gebaut, als schwimmender Festsaal der Renaissance. Einzigartig in Frankreich."
    Und als fast alles fertig ist, die Katastrophe. König Heinrich II., nun 40 Jahre alt, liebt Turniere mit Pferd und Lanze, obwohl diese Ritterspektakel schon etwas aus der Mode sind. Anlässlich der hochpolitischen Hochzeit seiner Tochter mit dem spanischen König Philipp II. will es Heinrich es noch einmal "krachen lassen". In der Ehrenloge sitzt Diane de Poitiers, 60 Jahre jung. Sie trägt öffentlich die Kronjuwelen, eine Provokation. Wenig entfernt sitzt die Königin Katharina, hochschwanger. Werfen wir unsere Fantasie etwas an.

    "Im festlich geschmückten Turnierhof besiegt der Brautvater seine Gegner einen nach dem anderen. Wieder reitet der König, ebenfalls in den Farben Schwarz und Weiß seiner Favoritin vor die Ehrenloge. Er senkt seine Lanze und verneigt sich mit offenem Visier vor der kühl und dominant lächelnden Diane. Zweimal reiten die beiden Kämpfer in hoher Wucht gegeneinander und verfehlen sich knapp. Beim dritten Versuch geraten sie aneinander, ihre Lanzen zersplittern. Man sieht den König taumelnd aus seinem Sattel zu Boden fallen. Die zersplitterte Lanze hat sein Visier durchdrungen. Katharina sieht das Blut aus dem zerbrochenen Visier tropfen und fällt in Ohnmacht."

    Der König stirbt an seinen irreparablen Verletzungen. Es beginnt die Revanche der Medici. Katharina fordert auf der Stelle die Kronjuwelen zurück. Und es bedeutet (hier) in Chenonceau, sofortiger Auszug, sofort, aus dem Märchenschloss der Damen. Diane fällt damit nicht unter die "Hartz-IV-Empfänger" an der Suppenküche des Hofes. Sie ist im heutigen Sinne Multimillionärin. Wie geht es im Schloss weiter?

    "Katharina von Medici nimmt Chenonceau als ihre Residenz, unternimmt alles um ihre Ex-Rivalin vergessen zu machen. Auch sie legt sich einen Garten an, den sie auch als eine Art "Open-Air-Showbühne" im Grünen sieht. Es wird aufwendig gebuddelt und erweitert. Und der erste Kracher der Medici, sie ist ja noch im Trauerjahr, ist der Empfang ihres Sohnes Franz II.. Der neue König. Sie begrüßt ihn und ihrer Schwiegertochter, Maria Stuart."

    "Bei Einbruch der Nacht, im Scheine eines prächtigen Feuerwerks, hält das junge Herrscherpaar, gefolgt vom Hofstaat, seinen Einzug. Sie werden symbolisch von 900 angetretenen Dienern, als Bauern verkleidet, begrüßt. Eine gleiche Zahl von Trommlern und Trompetern sorgen für eine furiose Musikkulisse. Der Weg aus der großen Allee heraus ist mit Triumphbögen, Obelisken und Säulen geschmückt. Dazwischen Blumenbuketts mit Goldlack und Veilchen.
    Der königliche Zug bewegt sich langsam auf den Vorhof zu. Ein antiker Altar ist dem griechischen Gott Pluto geweiht, dem Gott der Unterwelt. Der Altar mahnt die Besucher an die Trauer der Königinwitwe. Vor dem Schloss kredenzen Nymphen den Gästen den lieblichen Landwein. Antike Gottheiten erscheinen. Eine Athene streut Blumen in den Wind."


    Vom Winde verweht auch die Tage des neuen erst 16-jährigen Königs. Er stirbt wenig später an Tuberkulose, damals unheilbar. Die 17-jährige Maria Stuart wird auf Drängen Katharinas wieder nach Schottland abgeschoben.
    Auf den französischen Thron folgt jetzt Karl IX. Er ist der zweite Sohn der Katharina von Medici. Auch für ihn organisiert sie ein mehrtägiges opulentes Empfangsspektakel. Und machen wir einen Sprung, einige Jahre später krachen die Raketen und Feuerwerker, wie sie noch nie geballert haben. Wieder unter der Regie der Medici, sie ist nun 58. Sie feiert die Einweihung Chenonceaus nach Ende aller Umbauten, sie feiert auch sich selber. Und sie feiert ihren vergötterten dritten Sohn, Heinrich III., auf dem französischen Thron. Und hätte es damals schon die Boulevardzeitungen gegeben, man hätte die bizarre Fete als eine Mischung aus Love-Parade und Christopher-Street-Day in den Medien erwähnt. Eine Orgie.

    "Heinrich III. 26 Jahre alt, erscheint in einer schlanken Korsage aus Brokat, ist fast bis zu den Brustwarzen dekolletiert, sein Gesicht ist stark geschminkt, er trägt eine Damenperücke mit Diamanten. Auch seine Günstlinge haben sich als Frauen verkleidet. Bedient wird die königliche Gesellschaft von jungen halbnackten Damen des Hofes. Zum Dessert wird ein künstliches Bouquet aus jungen Nymphen serviert, die sich dem König anbieten."

    "Es gibt auch harmlosere Quellen über dieses Fest. Der Hintergrund, Heinrich III. regiert in einer von religiösen Attentaten hochbelasteten Zeit voller Propaganda und Gegenpropaganda. Er wird schließlich von einem religiösen Fanatiker erstochen."

    Danach fällt Chenonceau in einen Dornrösschenschlaf. Aber man sollte
    vielleicht aus deutscher Sicht noch folgende Seite noch aufschlagen.

    "1718 kommt die deutsche Prinzessin Anna Henriette von Pfalz-Simmern in den Besitz von Chenonceau. Sie kommt also aus dem Hunsrück, kommt aus einer Seitenlinie der bayrischen Wittelsbacher. Mit diesen Wurzeln ist Anna Henriette eine Titular-Pfalzgräfin. Sie ist eine Cousine der Liselotte von der Pfalz, der Schwägerin von Ludwig XIV. Auch Anna Henriette heiratet in den französischen Adel. Mit 70 Jahren bekommt sie das schon etwas vergammelte Chenonceau 'geschenkt'. Aber es ist ihr selbst geschenkt zu teuer und muss nach zwei Jahren verkauft werden."

    Wenn man sich durch die Räume von Chenonceau drängelt und Betten und Kamine und flämische Tapisserien sieht, und Hunderte von Gemälden ... verliert man schnell die Übersicht im Gewirr der vielen Namen. Man sieht nur, was man weiß, sagt Theodor Fontane.
    Hier hängt beispielsweise ein ältlicher Sonnenkönig, Ludwig XIV. Ludwig kommt im Sommer 1650 als 12-jähriger König von Frankreich, noch unter der Regentschaft seiner Mutter, Anna von Österreich nach Chenonceau. Er soll ein sonniges, neugieriges Kerlchen gewesen sein, zeigt sich hier auch als ein sportlicher Fechtkünstler und schon brillanter Tänzer in der Diskothek der Galerie auf der Brücke. Aber davon erzählen die Notizen von Chenonceau nichts. Und in dieser Galerie ist dann einhundert Jahre später auch eine Oper von Jean-Jacques Rousseau uraufgeführt worden. Rousseau ist in Chenonceau als Sekretär und Kindererzieher angestellt. Gibt es ein schöneres "Zurück zur Natur" als dieses Schloss und seine Umgebung?
    Chenonceau ist auch für heutige Bürger ein königliches Vergnügen, wenn etwas von den handelnden Personen des "Schlosses der Damen" weiß und dann diese Punkte hier gezielt nachprüft und inhaliert.

    Literatur:
    Kunstband "Chenonceau", Alain Decaux u.a. Autoren
    Franz I., Rene Guerda
    Katharina von Medici, L. Mathoney
    Die französischen Könige und Kaiser, 1498-1870, Herausgb. Peter C. Hartmann
    Königinnen und Mätressen, Benedetta Craveri
    DUMONT Tal der Loire, Irene Martschukat / DUMONT Das Tal der Loire, Wilfried Hansmann
    Ludwig XIV., Olivier Bernier
    WDR Zeitzeichen, Diane de Portiers, Christiane Kopka