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Ein Steuerverwalter auf der Suche

Ein Steuerverwalter begibt sich auf die Suche nach seinem verschwundenen Freund - und kehrt nach erfolgloser Fahndung nach Hause zurück. Lorenz Langenegger schildert in seinem ersten Roman, "Hier im Regen", das unspektakulär Gewohnte. Doch es sind die unerhörte Leichtigkeit und ein frischer, versponnener Blick auf das scheinbar Alltägliche, die den Roman auszeichnen - ein großes Talent, das hier seinen ersten Streich verübt hat.

Von Alain Claude Sulzer | 03.04.2009
    Ein Mann namens Jakob Walter fährt weg, kommt aber - anders als Protagonisten in anderen Romanen - wieder zurück. Sein Ausflug nach Locarno ist keine Flucht, sondern der Weg einer notwendigen Suche. Die Fragen, die sich ihm stellen, sind existenziell, auch wenn das, was sie ausgelöst hat, nicht gerade weltbewegend ist. Sie lauten: Warum lebt er in Bern und nicht woanders? Warum ist seine Schildkröte gestorben, obwohl sie noch gar nicht alt war? Wo ist Robert, sein Freund? Ist er wirklich ertrunken?

    Walter muss sich Gewissheit verschaffen, wo es sie nicht gibt, aber manchmal genügt ja schon das Fragen, um einen Schritt weiterzukommen. Lorenz Langenegger steht ihm als freundlicher Helfer zur Seite. Wo jugendliche Häme naheläge - es geht schließlich um einen Mann, der bei der Berner Steuerverwaltung arbeitet - begleitet ihn Langenegger fürsorglich: wahrlich eine seltene Haltung und dennoch fern jeder Walser'schen Attitüde.

    Fünf Jahr zuvor hat Walter - er muss um die dreißig gewesen sein - seinen Posten beim Finanzamt verloren, nachdem er seinem Vorgesetzten, ohne dass dieser ihm einen konkreten Anlass geliefert hätte, einen Kinnhaken verpasste - einfach so. Ein entscheidender Schlag, in dessen unmittelbarer Folge er Edith kennenlernte, mit der er kurz darauf die Ehe einging, die ihm Liebe und Sicherheit bietet. Bevor er in ihrer Wohnung einzog, lebte er eine paar Wochen bei Rolf dem Kneipenbesitzer und Junggesellen. Obwohl er ihn nur selten sieht, nur selten dessen Kneipe aufsucht, hält er ihn für seinen besten Freund. Dass dieser vor einem halben Jahr geheiratet hat, weiß er noch nicht.

    Rolf ist verschwunden. Rolf ist, davon muss man ausgehen, in der Aare ertrunken, am selben Tag, an dem Walters Schildkröte starb. Hat er sich umgebracht? Wird man das je erfahren? Es ist das Unerwartete, das diese beiden ungleichen Ereignisse verbindet und Walter nach Locarno treibt, während Edith ihre kranken Eltern besucht.

    Walter fährt weg, steigt in Zürich aus, geht ein bisschen über die Bahnhofstrasse, steigt wieder ein, steigt in Locarno aus, das "nicht der Anfang einer Reise" ist, "sondern der Ort, an dem er die Geschehnisse der letzten Tage und seine Gedanken ordnen will, bevor er" wieder nach Hause zurückkehrt. Auf der Piazza Grande begegnet er Herrn Federer, dem Tennisprofi, der gerade fotografiert werden soll, richtet aber sein Augenmerk lieber auf die Zufälle, die über "Aufschwung und Wohlstand von Städten entscheiden".

    "Wäre vor langer Zeit ein einflussreicher Bauer auf die Idee gekommen, den neuen und größeren Stall mitten im Dorf zu bauen, um seine vorherrschende Stellung zu demonstrieren, Locarno hätte es nie über ein mittleres Bergdorf hinausgebracht und wäre in der Neuzeit in der Bedeutungslosigkeit von Gemeinden, die zu klein sind, um sich mit den Nachbarn zusammenzutun, verschwunden."

    Es ist unter anderem dieser ungewohnte, frische, versponnene Blick auf gewohnte und ganz gewöhnliche Dinge, die diesen kleinen Roman besonders auszeichnen. Wovon er handelt, ist unspektakulär und bliebe es, wenn da die unerhörte Leichtigkeit nicht wäre, mit der Lorenz Langenegger davon erzählt, wie sich ein unauffälliger Mann aus Verstrickungen löst, die ihn weit mehr verunsichern, als er sich zugeben darf.

    Als er erkennt, dass er umkehren muss, wenn er wirklich wissen will, was mit Rolf geschehen ist, bricht er seine Reise einfach ab und fährt nach Bern zurück. Dort hat sich in seiner kurzen Abwesenheit eine Naturkatastrophe ereignet, die durch die Medien geht: Ein Teil der unteren Stadt steht meterhoch unter Wasser, der Alltag hat sich im Dauerregen aufgelöst. Hier angekommen, lockert Langenegger die Schraube jener Spannung allmählich, die er unmerklich angezogen hatte. Die Katharsis vollzieht sich in aller Stille.

    Lorenz Langenegger hält das alles mit geradezu traumwandlerisch anmutender Sicherheit zusammen. Präzise, klar und unverwechselbar ist seine Sprache, unverstellt, frei und unbeeinflusst von allen möglichen literarischen Strömungen seine höchst eigenwillige Sicht der Dinge: Wahrhaft ein großes Talent, das hier seinen ersten Streich verübt hat.

    Lorenz Langenegger: Hier im Regen
    Jung & Jung, 2009, 166 Seiten