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Ein sympathisches Monster

Joel Spazierer kennt keine Gesetze - er ist Stricher, Mörder und Blender und dabei aber kein schlechter Kerl. Deshalb wird Michael Köhlmeiers opulenter Roman zu einer grundsätzlichen und vergnüglichen Auseinandersetzung mit der Wahrheit.

Von Anja Hirsch | 28.04.2013
    Michael Köhlmeier ist unter den deutschsprachigen Schriftstellern vielleicht derjenige mit den charmantesten Tricks. Dass Dichter lügen, weiß man zwar seit Platon. Aber wie sie es tun, ist entscheidend. Im Falle Köhlmeiers, so viel lässt sich im Rückblick auf sein ständig wachsendes Werk sagen, stößt der Aufruf zur Lüge, den jede Fiktion per se enthält, ein vielstimmiges Orchester an. Jetzt hat er in seiner jüngsten Romanproduktion unter dem barocken Titel "Die Abenteuer des Joel Spazierer" einen Erzähler erschaffen, der nicht nur vorsätzlich lügt. Er fälscht, manipuliert, verletzt, stiehlt, ganz ohne Selbstzweifel. Und manchmal mordet er sogar.

    Nennen wir diesen 60-Jährigen, der hier auf sein wahrlich abenteuerliches Leben zurückblickt, der Einfachheit halber zunächst András Fülöp, nach seinem ungarischen Geburtsnamen. Obwohl er sich im Laufe der 653 Seiten gerne auch anders vorstellt, als Robi, Hans-Martin, Michael oder Andres. Später auch als Joel Spazierer, der von sich selbst kurz und knapp sagt:

    Vielleicht bin ich einfach nur ein Monster.

    Aber so ganz abnehmen will man ihm das nicht. Seine Lebenserzählung beginnt mit der ersten Erinnerung an ein Erlebnis, das möglicherweise alles erklärt. 1949 in Budapest geboren, ist er vier Jahre alt, als erst der Großvater, dann die Großmutter, bei denen er aufwächst - er Ärztin, sie Ägyptologin - vom Staatssicherheitsdienst abgeholt werden. Man unterstellt ihnen Beteiligung an der Verschwörung gegen Parteifunktionäre. Fünf Tage verbringt András alleine in der Wohnung. Er sucht Moma, die Großmutter, und spielt, als er sie nicht findet.

    In gewisser Weise lenkte ich einen Staat. Die beiden Blechautos fuhren stellvertretend für alle Autos, die ich je gesehen hatte, und die Knöpfe an dem Sofakissen waren das Volk, das ruhig und reif das Geschehen beobachtete.

    András geht auf Toilette, das kann er schon. Als es kalt wird, legt er sich eine Decke mit aufgestickten Tieren um die Schulter, im Kopf die Märchen, die er vorgelesen bekam.

    Ich stand im Badezimmer vor dem großen Kristallspiegel; nur das Rauschen des Wasserhahns in der Küche war zu hören, wie ein ferner Applaus; von draußen fiel ein wenig Licht von den Straßenlaternen herein; und ich sah mich mit einer Decke um die Schultern und kam mir vor wie der König von Xanten. Ich stolzierte in den Salon zurück und erzählte den Knöpfen an den Kissen, was ich gesehen hatte.

    Begnadet, auserwählt, mächtig und unbesiegbar - so hatte der Großvater den König von Xanten beschrieben. Ganz so wirkt András im weiteren Verlauf seines Lebens nicht. Doch die fünf menschenlosen Tage haben ihn womöglich gewappnet, so wie den Helden Siegfried das Drachenblut. Glaubt man Joel Spazierer, wie er sich später nennt, wird er die Anpassungsfähigkeit beibehalten - drei Jahre darauf, im Juni 1956, als die Familie unter einer Lastwagenplane versteckt von Ungarn nach Wien flüchtet; und ein paar Monate später, als die Familie die Flucht wiederholt. Beim ersten Mal hatte man sie empörenderweise nämlich gar nicht wahrgenommen. Beim zweiten Mal ist der Zeitpunkt günstiger. Zusammen mit den anderen Flüchtlingen nach Niederschlagung des Ungarn-Aufstands werden sie jetzt mit offenen Armen empfangen. Sie ändern ihren Namen und ihre Titel, es geht ganz einfach. Ab jetzt ist für den kleinen András Identität etwas, das man wählen und wechseln kann wie unterschiedliche Mäntel. Hauptsache, er passt und es nützt.

    Ich wollte nie etwas aus mir machen. Ich wollte nur sein. Was mir gegeben wurde, nahm ich an.

    Früh selbstständig, erkundet András die Straßen Wiens. Alles interessiert ihn, alles ist gleichwertig. András fehlt ein Gefühl für Gut und Böse, für Grenzen. Er ist nicht dumm, ganz im Gegenteil. Überhaupt ist er ein äußerst höflicher, sympathischer Junge.

    Ohne Frage, ich war der beliebteste Ungar der ganzen Schule; ich möchte sogar sagen, ich war der beliebteste Schüler überhaupt. Alle scharwenzelten in den Pausen um mich herum und versuchten, mich in ihre Gespräche zu ziehen, schenkten mir Briefmarken für meine Sammlung, die gar nicht existierte (...), oder sie teilten ihre Wurstbrote mit mir, brachten mir mit schönen Grüßen ihrer Eltern einen Pullover mit und Filzhausschuhe mit Blechklammern zum Verstellen oder gaben mir von ihren Süßigkeiten ab.

    Menschen, denen er begegnet, schütten ungefragt ihr Herz aus. Joel - nennen wir ihn ab jetzt so - ist eine ambivalente Figur, ausgespuckt von den Wunden der Zeit, die aufgrund falscher Ideologien bewegte Familienwanderungen zu verantworten hat. Er zeigt sich indolent gegen Schmerz, risikobereit, furchtlos. Und er ist überdies Mitglied einer ziemlich verrückten Familie, zu der eine glückselig bald als Ärztin arbeitende Mutter gehört, die ihren Sohn darüber fast vergisst; und ein Vater, von dem er vor allem lernt, bei Fragen nicht wahrheitsgetreu zu antworten, sondern lieber den Frager in Erstaunen zu versetzen. Und eine durchtriebene Großmutter, die völlig ungeniert Affären pflegt und wissenschaftliche Lorbeeren einfährt, die nicht ihr gebühren. Warum aber interessiert einen dieses Leben eines Mörders?

    Was der Staatsanwalt in seinem Plädoyer gesagt hatte, dass ich kein Mensch sei, das hat mich beschäftigt. Ich habe darüber nachgedacht, ob er vielleicht recht hatte. (...) Und er erklärte auch, was er unter Menschlichkeit verstehe. Dass einer in der Lage sei, wenigstens für eine kurze Zeit, von sich abzusehen und sich in einen anderen Menschen hineinzuversetzen, mit ihm zu leiden, sich mit ihm zu freuen, mit ihm zu hoffen, mit ihm zu wissen, wenn er am Ende ist ... Mir sprach er diese Fähigkeit ab.

    Michael Köhlmeier ist ein Meister der Perspektive. "Abendland", sein gewaltiger Epochenroman, der 2007 erschien, griff nach dem 20. Jahrhundert, als böte es sich in großen Brocken an, die man nur geschickt zueinander in Beziehung setzen muss, um die Zeit wie auf ein großes Panorama zu spannen. Geschichte verwob sich mit Privatem, Django Reinhardt oder Billy Holiday schulten stellvertretend für andere Vorbilder den Charakter. Köhlmeier zeigte Menschen, Liebende, Jazzbegeisterte, Trauernde, eingeklemmt zwischen Lust und Leid, verwickelt in Systeme und Zufälligkeiten, die kaum mehr zu überschauen waren. Diesmal hat er sich nur eine Perspektive, aber die schwierigste ausgesucht: die Welt aus der Sicht eines Mannes zu sehen, der Außenseiter ist - und überdies ein Müßiggänger.

    Ich konnte stundenlang dasitzen, ohne etwas zu tun, ohne etwas zu denken. Ich wollte den leichtesten Weg gehen. Ich hatte keine Überzeugungen. Ich besaß nie den Ehrgeiz, ein guter Mensch zu werden; auch wenn ich eine Zeit lang glaubte, Moral gehöre zu unserer Grundausstattung.

    Joel Spazierer ist ein Mann ohne Gesetze. Gefühle muss er sich erklären lassen. Berührbar ist schon. Aber er lässt die Menschen gerne auch schnell wieder fallen. Nur, wenn seine magischen Tiere fehlen, die imaginären Schützlinge aus Kindheitstagen, mit denen er regelmäßig Zwiesprache hält, wirkt er etwas unsicher. Diese Tiere könnten eine Art Gewissen bilden. Doch ihr Erfinder besänftigt sie ebenso schnell wie die Menschen um sich herum.

    Meine Tiere besuchten mich nicht. Das warf ich ihnen vor, als ich aufwachte und die Gedanken noch nicht zueinandergefunden hatten. Es ist aber nicht günstig, mit einem Vorwurf den Tag zu beginnen (...) - darum nahm ich den Vorwurf sofort zurück und sagte, ich hätte mich nur versprochen und sie sollten bitte nicht böse auf mich sein. Die Luft war frisch, die Vögel zwitscherten, und auf einmal war ich wieder voller Zuversicht ...

    Köhlmeiers Roman psychologisiert nicht. Er legt es nicht einmal so richtig darauf an, uns zu schockieren. Sein Held, der alle um den Finger wickelt, ist ein Schelm, ein liebenswertes Stehauf-Männchen, dem man sogar fast einen Mord verzeiht, allein schon deshalb, weil er so schön erzählt und unterhält. Das ist freilich fatal. Aber genau damit konfrontiert uns Köhlmeier: Mit einem ebenso hochstaplerischen wie bescheidenen, sich seiner Wirkung durchaus bewussten Unterhaltungskünstler. Joel Spazierer wirbelt uns seine Geschichten mit wohlfeiler Sprache um die Ohren. Dass er einem bekannten Heldentyp nachgebildet ist, stellt Köhlmeier mit der von ihm gewohnten doppelbödigen Ironie schnell klar. Wieder hat er die aus anderen Romanen bekannte Figur Sebastian Lukasser eingebaut. Der Schriftsteller ist mit Joel befreundet und hilft mit Tipps.

    Sebastian hat vorgeschlagen, gelegentlich eine "barock rhetorische Figur" in die Erzählung einzuflechten, auch damit der belesene Leser in seiner Vermutung bestärkt werde, es handle sich bei meinem Leben um einen "Schelmenroman".

    Vielleicht ist das Erstaunliche an dieser Prosa gar nicht so sehr die Nähe zum Schelmenroman, zu all den Irrwischen der Literaturgeschichte, deren Leben trotz schlimmer Fehltritte durch alle gesellschaftlichen Schichten immer irgendwie glimpflich verläuft, wenn auch das Glück sie nie ganz erreicht, obwohl man es ihnen inständig wünscht. Viel erdrückender, ergreifender ist die Erkenntnis, dass Köhlmeier hier möglicherweise einem hochmodernen Typus der Gegenwart das Reden überlässt - und wir diejenigen sind, die nichts dagegen unternehmen, weil wir wehrlos sind. Einerseits gegen sein Blendwerk, die Eloquenz. Andererseits gegen die Schrecklichkeit der Welt, die ihn leiden lässt und seinen Charakter verformt.

    Am folgenden Tag zeigten mir Emil und Franzi, wie sie sich gegenseitig befriedigten. Sie fragten, ob sie es bei mir auch machen sollten. Da sagte ich Nein. Und ob ich es bei ihnen machen wolle. Da sagte ich Ja. Es ging schnell. Sie meinten, ich könne es sehr gut. Von nun an spielten wir dieses Spiel mehrmals am Tag.

    Als Achtjähriger eröffnet Joel Spazierer in einem Wiener Hinterhof sein erstes Geschäft als Stricherjunge. In weitere Geheimnisse, etwa, wie man Tresore öffnet, weiht ihn ein Mann ein, der den Jungen entführt. Oder geht er freiwillig mit? So, wie Joel es erzählt, hat man immer den Eindruck, er reagiere nur auf verlockende Angebote einer skrupellosen Gesellschaft. Joel mit seinen hinreißend braunen Goldlocken hat etwas, das anderen fehlt. Auch der steinreiche Vater seines besten Schulfreundes ist begeistert.

    "Ich kann", sagte er endlich, "ich kann einen großen Mann aus dir machen. Es muss eine Freude sein, in einen Menschen zu investieren, der es wert ist."

    Da weiß er noch nicht, dass sein hübscher Schützling bald den Haustresor knacken und, auf frischer Tat ertappt, seine Ehefrau erschießen wird. Ausgerechnet die nette Frau Lundin, die bei Joel einst ihr Gewissen erleichterte. Denn Joel - hier nennt er sich Andres - ist auch so etwas wie ein Beichtvater:

    "Janna erzählte mir heute Morgen einen Traum. Darf ich mit dir darüber sprechen, Andres? Ich möchte so gern."
    "Ja, Frau Lundin", sagte ich.
    "Und ich langweile dich wirklich nicht?"
    "Nein, Frau Lundin", sagte ich.


    Acht Jahre Gefängnis durchläuft er nach dem Mord, den er mit 17 begeht. Er verlässt es mit 25, ausgebildet als KFZ-Mechaniker und hochbegabt für Schach, mit Wissen über Jiu-Jitsu, die Mondfahrt, den Urknall und die Anfänge der Chemie aufgefüllt, im Kopf die Sprachen seiner Mithäftlinge, sogar Vietnamesisch, was ihm später noch viel nützt. Je heftiger die Umstände seines Lebens, desto reicher die Ernte.

    Ich habe jeden Tag gelebt, als wäre er ein erster Entwurf. Als gäbe es die Möglichkeit beliebig vieler Korrekturen.

    Michael Köhlmeier hat nie versucht, alles glatt aufgehen zu lassen. Die Reibungskraft seiner Prosa ist das eigentlich Faszinierende; die Stellen, an denen es hakt und kracht, weil eine Figur sich gerade verändert, und man hat es kaum bemerkt. So wie in "Madalyn", seinem entzückenden kleinen Roman über eine pubertierende Vierzehnjährige und ihre erste große Liebe Moritz, auch ein Junge mit krimineller Energie - zumindest hat er einen Automaten geknackt.

    Das Kriminelle, das Böse, weiß Köhlmeier, hat eine seltsam verführerische Kraft. Verführerisch an dieser Liebesgeschichte war aber vor allem die narrative Verpackung: Das launische Mädchen Madalyn, sich ihrer Liebe und Schritte nie so richtig sicher, vertraut sich einem netten, älteren Nachbarn an. Der lässt sich von ihr derart um den Finger wickeln, dass er sogar versehentlich seine Wohnung für das junge Liebespaar zur Verfügung stellt. Mit unabsehbaren Folgen. Der verständnisvolle, in Sachen Teenagerstrategien aber eben doch etwas unbeschlagene Nachbar hieß übrigens Sebastian Lukasser, ein Schriftsteller; auch der Chronist aus "Abendland". Wie gesagt, Köhlmeiers Lieblingsfigur. Dass Lukasser auch im neuen Roman wieder das Erzählen lenkt, wenn auch nur im Hintergrund, sollte also zu besonderer Vorsicht gemahnen.

    Es sei durchaus erlaubt abzuschweifen; ein Buch sei ein mäandernder Fluss und kein Kanal - belehrte mich Sebastian Lukasser; nur eines: meine Geschichte dürfte ich dabei nicht aus den Augen verlieren. Was aber, wenn man nicht nur eine Geschichte hat? Wenn man drei, zehn, hundert Geschichten zu erzählen hätte?

    Die abrupten Kehrtwenden, die der erzählende Held beherrscht, sollte auch der Leser beherrschen, sonst geht er unterwegs verloren. Vielleicht noch nicht in Ungarn, wo alles beginnt. Aber irgendwann später, in Wien, in Luxemburg, im Vorarlberg, wieder in Wien, Kuba, Mexiko oder spätestens in Ost-Berlin, wo aus dem zwischenzeitlichen Mörder ein Professor für wissenschaftlichen Atheismus geworden ist, beinahe sogar ein Held der damaligen DDR. Philosophieren und Abstrahieren fällt ihm leicht. Was er nicht weiß, wird abgekupfert.

    Lass niemals eine Überschneidung zwischen deinem wahren und deinem erlogenen Ich zu! Vermeide, Teile aus deinem wahren Leben in dein erlogenes zu übernehmen! Der Lügner muss in jedem Moment wissen, wer er ist - dieser oder jener.

    Köhlmeiers Roman ist allein aufgrund seiner Kompositionstechnik, seinen Einschüben und Ausflüchten, die er sich gönnt, ein Wagnis. Aber eben auch ein Abenteuer. Das hat seinen Preis, und vor allem im dritten Teil, nach dem Mord an der Mutter des besten Freundes, als Joel Spazierer fast schon mit einer wirklich guten Frau am Traualtar stand, das Glück zum Greifen nah, als sich alles dann wieder zum Schlechten wendet, weil unerwünschte Gäste auftauchen und Joel Hals über Kopf mit Geld aus dem Tresor seine eigene Hochzeit verlässt - vor allem also im letzten Drittel des Romans wird man immer öfter trotz guten Willens aus der Lektüre geworfen, weil immer neue Lebensgeschichten von immer neuen Menschen den gefügigsten Leser reizüberfluten. Und doch sind "Die Abenteuer des Joel Spazierer" eine unglaublich reichhaltige Kost.

    Sebastian, du hast gesagt, ein Buch sei ein mäandernder Fluss. Wenn das so ist, dann sind meine Gedanken und Erinnerungen seine Arme. Es gelingt mir nicht immer, sie zu bändigen. Eine Geschichte ist ein Krake, ein Krake, ja. Verzeih, wenn ich in den Zeiten springe, vor - zurück - und wieder vor. In Wahrheit ist ja alles Gegenwart.

    Dass Köhlmeier selbst die Antike zur Gegenwart machen kann, weiß man, seitdem es seine Bearbeitung der klassischen Sagen gibt. Einfach und pointiert verwandelt sich auch dort ein beständiger Kern, der mythische Stoff, in viele unterhaltsame Geschichten. Ähnlich ist es auch hier. Um den Weltenbummler und -bandit spinnt sich bald ein gigantisches Netzwerk aus Biographien und Geschichten, die gleich einem Rhizom in neue, abgründige Höhlengänge verweisen. An der Skrupellosigkeit des Helden ändert sich jedoch nichts. Der große Unterschied zu den Sagen liegt darin, dass Joel Spazierer als Geschichtenerzähler alles zu seinem eigenen Vorteil erzählt. Er manipuliert uns, vielleicht auch sich selbst nach Strich und Faden. Er bezieht uns aber auch immer wieder in seine Reflexionen ein. Und so wird Michael Köhlmeiers opulenter Roman zur grundsätzlichen Auseinandersetzung über das seltsame Chamäleon, das sich Wahrheit nennt.

    Wie der Held selbst wechselt es vor jedem sich streitenden Erwachsenen, in jedem Land seine Farbe, zuletzt in der DDR, die ihn als Enkel des Arbeiterführers Ernst Thälmann, für den er sich ausgibt, freudig aufnimmt. Dass der Osten und seine sich leerlaufende Ideologie, auch seine kleinbürgerliche Enge, den Roman geographisch klammert, mag man als Warnung verstehen: Köhlmeiers Flüchtling, der sein schnödes Handwerk des Stehlens und Fälschens wohlgemerkt von Mentoren beidseits der Grenze erlernt, kommt nie ganz raus aus dieser Umklammerung. Weil er aber selbst vor allem als Spiegel funktioniert, wird es eben dort, vor allem in dem anderen Osten, in der deutschsprachigen DDR, besonders bizarr. Hier mäandert der Schelmenroman zur Satire. An Thälmann gefällt ihm übrigens vor allem das Sture, Unbeugsame. Und vielleicht ist genau diese Kreuzung eines unbeugsamen Erzählers mit einem sprachlich wie inhaltlich gut gerüsteten Erzähler der verstörendste Akt Köhlmeiers: Joel Spazierer ist kein reiner Fantast, nur ein begnadeter Verwandler der Wirklichkeit in Sprache. Er schaut so stetig unmoralisch auf unsere Welt, dass sie im Vergleich zu leuchten beginnt.

    Lügen setzt Selbsterkenntnis und Selbstbehauptung voraus. Lügen soll nicht Träumen von einem anderen Ich sein, sondern wohlkalkulierte Konstruktion eines solchen.

    Natürlich sollte man sich an den propagierten Täuschungsmanövern kein Beispiel nehmen. Um Romane zu schreiben wie diese, taugen sie allerdings gut. Nicht immer ist alles wohlkalkuliert - oder wir Leser zu langsam, um die unterbrochene Spur wieder aufzunehmen. Aber es ist schon ein unglaubliches Vergnügen, mitzuverfolgen, wie um einen roten, privaten Faden auch hier - wie in Köhlmeiers Epos "Abendland" - die wie auf einer Leinwand vibrierende Zeitgeschichte sich locker herum arrangiert. Köhlmeiers Reise ist manchmal atemberaubend, manchmal überfordernd, als würde man in kürzester Zeit viele Filme hintereinander sehen. Aber man sieht sie eben doch nie gleichzeitig. Und so bleibt es Literatur. Große Literatur. Selbst wenn Joel Spazierer, dieser unschuldig die Welt jederzeit staunend betrachtende Erzähler, große Literatur selbst nicht kennt.

    Ich kannte auch Raskolnikow nicht. Er fuhr fort, aber das sei genau das Tolle an der Literatur, dass sogar das furchtbarste Leben einem großartig vorkomme, weil es in einem Buch erzählt werde. Genau das wollte ich erreichen.


    Michael Köhlmeier: Die Abenteuer des Joel Spazierer
    Hanser Verlag, München 2013
    653 Seiten, 24,90 Euro