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Ein Tagebuch aus dunkler Zeit

Nein, ein sanftes, liebes Mädchen war die Moskauer Schülerin Nina Lugowskaja nicht. Sie war ein komplexbeladener, kratzbürstiger Teenager, der ungestüm gegen die Eltern, die Schule und ihr gesellschaftliches Umfeld rebellierte. Aber der Aggressivität, dem Widerspruchsgeist und der Tapferkeit der 14- bis 18-Jährigen verdanken wir ein ganz einzigartiges Dokument über die Stalinzeit der Dreißigerjahre.

Von Karla Hielscher | 06.10.2005
    War doch diese schwere Zeit der gewaltsamen kommunistischen Umgestaltung und des ständig wachsenden Terrors auch die Zeit eines - von einer allumfassenden Glückspropaganda angefeuerten- enthusiastischen Idealismus und optimistischer Zukunftshoffnungen der sowjetischen Jugend. Dem konnten sich - und das beweisen sogar die bisher veröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen aus jenen Jahren - nicht einmal die Angehörigen der verhafteten so genannten "Volksfeinde" entziehen. Die unscheinbare Schülerin Nina jedoch wurde in ihrer kompromisslosen Ablehnung der bolschewistischen Macht und der Despotie Stalins, der nach ihren Worten "Russland zugrunde richtet", keinen Moment schwankend. Die Haltung ihrer Familie spielte dabei eine wesentliche Rolle.

    Nina lebte mit ihrer Mutter, die als Lehrerin für Erwachsenenbildung arbeitete, und ihren beiden älteren Zwillingsschwestern Shenja und Ljalja in einer relativ gut situierten, gebildeten Moskauer Familie mit großer Wohnung, Klavier und Haushaltshilfe. Der aus dem Bauernstand stammende Vater aber war ein einst aktives Mitglied der von den Bolschewiki bekämpften linken Sozialrevolutionäre. Schon zu Zarenzeiten nach Sibirien verbannt, während der Revolution Sowjetdeputierter, gründete er in den 20er Jahren gemeinsam mit anderen ehemaligen Sozialrevolutionären eine erfolgreiche Bäckereigenossenschaft. Unter der sich festigenden Diktatur Stalins war es nur eine Frage der Zeit, bis nicht nur er - schon jahrelang verfolgt, aus Moskau ausgewiesen und schließlich verhaftet - sondern auch seine Frau und die Töchter in den GULAG verschleppt wurden.

    Ninas Tagebuchaufzeichnungen vom Herbst 1932 bis zum Beginn des Terrorjahres 1937 demonstrieren, dass in dieser Familie die Traditionen und Werte der vorrevolutionären russischen Intelligenzija, die Ideale der Menschenrechte, noch lebendig waren. Das Verhältnis der schwierigen, aufmüpfigen Nina zum Vater war allerdings alles andere als einfach. Sie hasste ihn als Familiendespoten, verehrte ihn aber als seinen Ideen treuen Revolutionär. So wie er gab sie ihren maximalistischen moralischen Anspruch an sich und die Welt nie auf.

    " Ich spüre die ganze Nutzlosigkeit und Sinnlosigkeit des heutigen Lebens, und das belastet mich schrecklich. Es bedrückt mich, all die Ungerechtigkeit, die Lüge und die Grausamkeit zu sehen und zu spüren, dass ich hilflos bin. Aber was kann ich tun? Wird der Mensch denn niemals frei sein?"

    Besondere Glaubhaftigkeit bekommen Ninas Tagebücher gerade dadurch, dass es in diesen drei dicken Schulheften über weite Strecken um die typischen banalen und doch so tief empfundenen Erlebnisse und Gefühle eines nicht gerade hübschen jungen Mädchens in der Pubertät geht. An diesen Aufzeichnungen fasziniert das unverbundene Nebeneinander unbedarfter Backfischgeschichten und Lebensreflexionen von beeindruckender Reife und Ernsthaftigkeit.

    Das eigentlich Sensationelle für uns heute sind jedoch ihre hellsichtigen politischen Urteile und Kommentare. Das Tagebuch dieses radikal denkenden, freiheitsdurstigen jungen Menschen über sich und das Schicksal ihrer Familie spiegelt die tragische Geschichte und den Alltag des sowjetischen Lebens der 30er Jahre.

    Erstaunlich gut informiert und nüchtern beobachtet Nina das politische Geschehen.

    Über die entsetzlichen Folgen der Kollektivierung der Landwirtschaft in der Ukraine berichtet sie schon 1933 und beweist damit, dass es auch in Moskau jeder wissen konnte:

    "Hungersnöte. Kannibalismus. Was die Zugereisten aus der Provinz nicht alles erzählen! Dass man nicht nachkommt, die Leichen von den Straßen zu holen, dass die Provinzstädte von hungernden, abgerissenen Bauern überfüllt sind. (..) Und die Ukraine? Die freie Kornkammer Ukraine... Was ist aus ihr geworden?"

    Von einem Ferienaufenthalt auf dem Dorf erzählt die Fünfzehnjährige:

    " Begierig lausche ich den Erzählungen der Bauern über ihr Leben und Treiben, und ich habe genug gehört, um die Bolschewisten mehr denn je zu hassen."

    Nach dem Mord am Leningrader Parteisekretär Kirow im Dezember 1934, der Stalin als Vorwand für den Beginn des großen Terrors diente, notiert sie:

    " Viele Leitartikel haben dieses Ereignis lauthals besprochen, und viele bestellte Redner und sowjetische Gesinnungslumpen haben die Fäuste geschüttelt und wie die Papageien pathetisch über den Köpfen der Arbeiter ausgerufen: (...) Erschießt den Verräter... Und viele so genannte Sowjetbürger, die jeden Begriff von Menschsein und Menschenwürde verloren haben, stimmten wie das Vieh für die Erschießung. Man kann kaum glauben, dass es im zwanzigsten Jahrhundert einen Winkel in Europa gibt, wo sich mittelalterliche Barbaren eingenistet haben und wilde, archaische Vorstellungen so merkwürdig mit Wissenschaft, Kunst und Kultur einhergehen. Schon vor dem Ermittlungsverfahren, als man noch nichts von einer Organisation wusste, wurden mehr als hundert Menschen umgebracht.(...) Also mehr als hundert Menschen für ein Bolschewistenleben. ....Was für ein Recht haben sie, so grausam und willkürlich mit dem Land und den Menschen umzuspringen, so dreist im Namen des Volkes ungeheuerliche Gesetze zu erlassen, so zu lügen und sich dabei hinter den mittlerweile völlig sinnentleerten großen Worten "Sozialismus" und "Kommunismus" zu verstecken.?"... Eine Inquisition ist das doch und kein Sozialismus!"

    Sie empört sich über den politisch ideologischen Drill in der Schule, wo harmlose Späße oder Disziplinlosigkeiten als "konterrevolutionäre Handlungen" geahndet werden:

    " Was für elende jämmerliche Feiglinge die Bolschewisten sind! Wenn sie die Kinder nicht von klein auf einschüchtern, ist es mit ihrer Macht vorbei, auch wenn sie sich auf den Kopf stellen. Doch sie erziehen uns zu unterwürfigen Sklaven, indem sie jede Regung des Protests erbarmungslos ausmerzen. Jede kritische Einstellung, jede noch so kleine Andeutung von Freiheit und Unabhängigkeit wird fürchterlich bestraft."

    Mit ihren älteren Schwestern, die sich als Studentinnen für Textilgestaltung dem herrschenden System anzupassen versuchen, diskutiert sie hartnäckig:

    " Was lässt sich aber auch gegen solche unreflektierten, auswendig gelernten Phrasen sagen, wie zum Beispiel "Wer nicht für die Bolschewisten ist, ist gegen die Sowjetmacht" oder "Das sind alles Übergangserscheinungen" oder "Später wird alles besser". Sind 5000000 Tote in der Ukraine eine Übergangserscheinung? (...) Und welche Nation hat jemals mit so sklavischer Unterwürfigkeit und Fügsamkeit zu allen Scheußlichkeiten, die verübt werden, ja und amen gesagt?"

    Nina weiß, wie gefährlich es ist, in diesen Zeiten des Terrors und der Angst Tagebuch zu schreiben. Eine Vorstellung, die sie peinigte, war aber vor allem, dass die Spitzel ihr "Liebesgefasel" lesen und darüber lachen könnten! Der Ermittler aber, der 1937 eine Anklage gegen das junge Mädchen "wegen Vorbereitung eines Terroranschlags auf Stalin" konstruierte, hat in ihrem konfiszierten Tagebuch nur die politischen Stellen rot angestrichen.

    Nina Lugowskaja überlebte den GULAG, konnte sogar noch ihren Traum, Künstlerin zu werden verwirklichen, arbeitete als Malerin und Bühnenbildnerin und starb 1993 in der Provinzstadt Wladimir. Geblieben ist uns ihr Tagebuch aus dunkler Zeit - ein bewegendes Dokument der Freiheitssehnsucht und des jugendlichen Aufbegehrens gegen die alles beherrschende Sowjetideologie.

    Nina Lugowskaja
    "Ich will leben. Ein russisches Tagebuch von 1932-1937". Aus dem Russischen von Christiane Körner. (Hanser Verlag).